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Read Ebook: Das Urteil: Eine Geschichte by Kafka Franz

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Ebook has 79 lines and 7379 words, and 2 pages

DAS URTEIL

EINE GESCHICHTE VON FRANZ KAFKA

LEIPZIG KURT WOLFF VERLAG 1916

Gedruckt bei E. Haberland in Leipzig-R. September 1916 als vierunddreissigster Band der B?cherei >>Der j?ngste Tag<<

Copyright 1916 by Kurt Wolff Verlag o Leipzig

F?R F.

Es war an einem Sonntagvormittag im sch?nsten Fr?hjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, sass in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten H?user, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der H?he und F?rbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloss ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gest?tzt, aus dem Fenster auf den Fluss, die Br?cke und die Anh?hen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Gr?n.

Er dachte dar?ber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Russland sich f?rmlich gefl?chtet hatte. Nun betrieb er ein Gesch?ft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund bei seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erz?hlte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so f?r ein endg?ltiges Junggesellentum ein.

Was wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen - wof?r ja kein Hindernis bestand - und im ?brigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes, als dass man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kr?nkender, sagte, dass seine bisherigen Versuche misslungen seien, dass er endlich von ihnen ablassen solle, dass er zur?ckkehren und sich als ein f?r immer Zur?ckgekehrter von allen mit grossen Augen anstaunen lassen m?sse, dass nur seine Freunde etwas verst?nden und dass er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen, zu Hause gebliebenen Freunden einfach zu folgen habe. Und war es dann noch sicher, dass alle die Plage, die man ihm antun m?sste, einen Zweck h?tte? Vielleicht gelang es nicht einmal, ihn ?berhaupt nach Hause zu bringen - er sagte ja selbst, dass er die Verh?ltnisse in der Heimat nicht mehr verst?nde -, und so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschl?ge und den Freunden noch ein St?ck mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich dem Rat und w?rde hier - nat?rlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen - niedergedr?ckt, f?nde sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Besch?mung, h?tte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr, war es da nicht viel besser f?r ihn, er blieb in der Fremde, so wie er war? Konnte man denn bei solchen Umst?nden daran denken, dass er es hier tats?chlich vorw?rts bringen w?rde?

Aus diesen Gr?nden konnte man ihm, wenn man noch ?berhaupt die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten machen w?rde. Der Freund war nun schon ?ber drei Jahre nicht in der Heimat gewesen und erkl?rte dies sehr notd?rftig mit der Unsicherheit der politischen Verh?ltnisse in Russland, die demnach also auch die k?rzeste Abwesenheit eines kleinen Gesch?ftsmannes nicht zuliessen, w?hrend hunderttausende Russen ruhig in der Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gerade f?r Georg vieles ver?ndert. Von dem Todesfall von Georgs Mutter, der vor etwa zwei Jahren erfolgt war und seit welchem Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte, hatte der Freund wohl noch erfahren und sein Beileid in einem Brief mit einer Trockenheit ausgedr?ckt, die ihren Grund nur darin haben konnte, dass die Trauer ?ber ein solches Ereignis in der Fremde ganz unvorstellbar wird. Nun hatte aber Georg seit jener Zeit, so wie alles andere, auch sein Gesch?ft mit gr?sserer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, dass er im Gesch?ft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen T?tigkeit gehindert, vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer im Gesch?ft arbeitete, zur?ckhaltender geworden, vielleicht spielten - was sogar sehr wahrscheinlich war - gl?ckliche Zuf?lle eine weit wichtigere Rolle, jedenfalls aber hatte sich das Gesch?ft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt, das Personal hatte man verdoppeln m?ssen, der Umsatz hatte sich verf?nffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.

Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Ver?nderung. Fr?her, zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur Auswanderung nach Russland ?berreden wollen und sich ?ber die Aussichten verbreitet, die gerade f?r Georgs Gesch?ftszweig in Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegen?ber dem Umfang, den Georgs Gesch?ft jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen gesch?ftlichen Erfolgen zu schreiben, und h?tte er es jetzt nachtr?glich getan, es h?tte wirklich einen merkw?rdigen Anschein gehabt.

So beschr?nkte sich Georg darauf, dem Freund immer nur ?ber bedeutungslose Vorf?lle zu schreiben, wie sie sich, wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet aufh?ufen. Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungest?rt lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl gemacht und mit welcher er sich abgefunden hatte. So geschah es Georg, dass er dem Freund die Verlobung eines gleichg?ltigen Menschen mit einem ebenso gleichg?ltigen M?dchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, f?r diese Merkw?rdigkeit zu interessieren begann.

Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als dass er zugestanden h?tte, dass er selbst vor einem Monat mit einem Fr?ulein Frieda Brandenfeld, einem M?dchen aus wohlhabender Familie, sich verlobt hatte. Oft sprach er mit seiner Braut ?ber diesen Freund und das besondere Korrespondenzverh?ltnis, in welchem er zu ihm stand. >>Er wird also gar nicht zu unserer Hochzeit kommen,<< sagte sie, >>und ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennen zu lernen.<< >>Ich will ihn nicht st?ren,<< antwortete Georg, >>verstehe mich recht, er w?rde wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er w?rde sich gezwungen und gesch?digt f?hlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unf?hig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zur?ckfahren. Allein - weisst du, was das ist?<< >>Ja, kann er denn von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?<< >>Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise unwahrscheinlich.<< >>Wenn du solche Freunde hast, Georg, h?ttest du dich ?berhaupt nicht verloben sollen.<< >>Ja, das ist unser beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders haben.<< Und wenn sie dann, rasch atmend unter seinen K?ssen, noch vorbrachte: >>Eigentlich kr?nkt es mich doch<<, hielt er es wirklich f?r unverf?nglich, dem Freund alles zu schreiben. >>So bin ich und so hat er mich hinzunehmen<<, sagte er sich, >>ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht f?r die Freundschaft mit ihm geeigneter w?re, als ich es bin.<<

Und tats?chlich berichtete er seinem Freunde in dem langen Brief, den er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte Verlobung mit folgenden Worten: >>Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum Schluss aufgespart. Ich habe mich mit einem Fr?ulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem M?dchen aus einer wohlhabenden Familie, die sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat, die Du also kaum kennen d?rftest. Es wird sich noch Gelegenheit finden, Dir N?heres ?ber meine Braut mitzuteilen, heute gen?ge Dir, dass ich recht gl?cklich bin und dass sich in unserem gegenseitigen Verh?ltnis nur insofern etwas ge?ndert hat, als Du jetzt in mir statt eines ganz gew?hnlichen Freundes einen gl?cklichen Freund haben wirst. Ausserdem bekommst Du in meiner Braut, die Dich herzlich gr?ssen l?sst, und die Dir n?chstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was f?r einen Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiss, es h?lt Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zur?ck, w?re aber nicht gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse ?ber den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag, handle ohne alle R?cksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung.<<

Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten, der ihn im Vor?bergehen von der Gasse aus gegr?sst hatte, hatte er kaum mit einem abwesenden L?cheln geantwortet.

Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst keine N?tigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater st?ndig im Gesch?ft, das Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus ein, abends versorgte sich zwar jeder nach Belieben, doch sassen sie dann meistens, wenn nicht Georg, wie es am h?ufigsten geschah, mit Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte, noch ein Weilchen, jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen Wohnzimmer.

Georg staunte dar?ber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater sass beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter ausgeschm?ckt war, und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschw?che auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Fr?hst?cks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.

>>Ah, Georg!<< sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock ?ffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn - >>mein Vater ist noch immer ein Riese<<, sagte sich Georg.

>>Hier ist es ja unertr?glich dunkel<<, sagte er dann.

>>Ja, dunkel ist es schon<<, antwortete der Vater.

>>Das Fenster hast du auch geschlossen?<<

>>Ich habe es lieber so.<<

>>Es ist ja ganz warm draussen<<, sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Fr?heren, und setzte sich.

Der Vater r?umte das Fr?hst?cksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.

>>Ich wollte dir eigentlich nur sagen,<< fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, >>dass ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.<< Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und liess ihn wieder zur?ckfallen.

>>Nach Petersburg?<< fragte der Vater.

>>Meinem Freunde doch<<, sagte Georg und suchte des Vaters Augen. - >>Im Gesch?ft ist er doch ganz anders,<< dachte er, >>wie er hier breit sitzt und die Arme ?ber der Brust kreuzt.<<

>>Ja. Deinem Freunde<<, sagte der Vater mit Betonung.

>>Du weisst doch, Vater, dass ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus R?cksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du weisst selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist - das kann ich nicht hindern -, aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren.<<

>>Und jetzt hast du es dir wieder anders ?berlegt?<< fragte der Vater, legte die grosse Zeitung auf den Fensterbord und auf die Zeitung die Brille, die er mit der Hand bedeckte.

>>Ja, jetzt habe ich es mir wieder ?berlegt. Wenn er mein guter Freund ist, sagte ich mir, dann ist meine gl?ckliche Verlobung auch f?r ihn ein Gl?ck. Und deshalb habe ich nicht mehr gez?gert, es ihm anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es dir sagen.<<

>>Georg,<< sagte der Vater und zog den zahnlosen Mund in die Breite, >>h?r' einmal! Du bist wegen dieser Sache zu mir gekommen, um dich mit mir zu beraten. Das ehrt dich ohne Zweifel. Aber es ist nichts, es ist ?rger als nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufr?hren, die nicht hierher geh?ren. Seit dem Tode unserer teueren Mutter sind gewisse unsch?ne Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch f?r sie die Zeit und vielleicht kommt sie fr?her, als wir denken. Im Gesch?ft entgeht mir manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen - ich will jetzt gar nicht die Annahme machen, dass es mir verborgen wird -, ich bin nicht mehr kr?ftig genug, mein Ged?chtnis l?sst nach, ich habe nicht mehr den Blick f?r alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat mich der Tod unseres M?tterchens viel mehr niedergeschlagen als dich. - Aber weil wir gerade bei dieser Sache halten, bei diesem Brief, so bitte ich dich, Georg, t?usche mich nicht. Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also t?usche mich nicht. Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?<<

Georg stand verlegen auf. >>Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Weisst du, was ich glaube? Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte. Du bist mir im Gesch?ft unentbehrlich, das weisst du ja sehr genau, aber wenn das Gesch?ft deine Gesundheit bedrohen sollte, sperre ich es noch morgen f?r immer. Das geht nicht. Wir m?ssen da eine andere Lebensweise f?r dich einf?hren. Aber von Grund aus. Du sitzt hier im Dunkel, und im Wohnzimmer h?ttest du sch?nes Licht. Du nippst vom Fr?hst?ck, statt dich ordentlich zu st?rken. Du sitzt bei geschlossenem Fenster, und die Luft w?rde dir so gut tun. Nein, mein Vater! Ich werde den Arzt holen und seinen Vorschriften werden wir folgen. Die Zimmer werden wir wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher. Es wird keine Ver?nderung f?r dich sein, alles wird mit ?bertragen werden. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege dich noch ein wenig ins Bett, du brauchst unbedingt Ruhe. Komm, ich werde dir beim Ausziehn helfen, du wirst sehn, ich kann es. Oder willst du gleich ins Vorderzimmer gehn, dann legst du dich vorl?ufig in mein Bett. Das w?re ?brigens sehr vern?nftig.<<

Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit dem struppigen weissen Haar auf die Brust hatte sinken lassen.

>>Georg<<, sagte der Vater leise, ohne Bewegung.

Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen in dem m?den Gesicht des Vaters ?bergross in den Winkeln der Augen auf sich gerichtet.

>>Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spassmacher gewesen und hast dich auch mir gegen?ber nicht zur?ckgehalten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das kann ich gar nicht glauben.<<

>>Denk doch noch einmal nach, Vater,<< sagte Georg, hob den Vater vom Sessel und zog ihm, wie er nun doch recht schwach dastand, den Schlafrock aus, >>jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war ja mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, dass du ihn nicht besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich ihn vor dir verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer sass. Ich konnte ja deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein Freund hat seine Eigent?mlichkeiten. Aber dann hast du dich doch auch wieder ganz gut mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so stolz darauf, dass du ihm zuh?rtest, nicktest und fragtest. Wenn du nachdenkst, musst du dich erinnern. Er erz?hlte damals unglaubliche Geschichten von der russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer Gesch?ftsreise in Kiew bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief. Du hast ja selbst diese Geschichte hie und da wiedererz?hlt.<<

W?hrenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder niederzusetzen und ihm die Trikothose, die er ?ber den Leinenunterhosen trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick der nicht besonders reinen W?sche machte er sich Vorw?rfe, den Vater vernachl?ssigt zu haben. Es w?re sicherlich auch seine Pflicht gewesen, ?ber den W?schewechsel seines Vaters zu wachen. Er hatte mit seiner Braut dar?ber, wie sie die Zukunft des Vaters einrichten wollten, noch nicht ausdr?cklich gesprochen, denn sie hatten stillschweigend vorausgesetzt, dass der Vater allein in der alten Wohnung bleiben w?rde. Doch jetzt entschloss er sich kurz mit aller Bestimmtheit, den Vater in seinen k?nftigen Haushalt mitzunehmen. Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, dass die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu sp?t kommen k?nnte.

Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gef?hl hatte er, als er w?hrend der paar Schritte zum Bett hin merkte, dass an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spiele. Er konnte ihn nicht gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich an dieser Uhrkette.

Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit ?ber die Schulter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.

>>Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?<< fragte Georg und nickte ihm aufmunternd zu.

>>Bin ich jetzt gut zugedeckt?<< fragte der Vater, als k?nne er nicht nachschauen, ob die F?sse genug bedeckt seien.

>>Es gef?llt dir also schon im Bett<<, sagte Georg und legte das Deckzeug besser um ihn.

>>Bin ich gut zugedeckt?<< fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen.

>>Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.<<

>>Nein!<< rief der Vater, dass die Antwort an die Frage stiess, warf die Decke zur?ck mit einer Kraft, dass sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. >>Du wolltest mich zudecken, das weiss ich, mein Fr?chtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug f?r dich, zuviel f?r dich. Wohl kenne ich deinen Freund. Er w?re ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang. Warum sonst? Glaubst du, ich habe nicht um ihn geweint? Darum doch sperrst du dich in dein Bureau, niemand soll st?ren, der Chef ist besch?ftigt - nur damit du deine falschen Briefchen nach Russland schreiben kannst. Aber den Vater muss gl?cklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie du jetzt geglaubt hast, du h?ttest ihn untergekriegt, so untergekriegt, dass du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er r?hrt sich nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!<<

Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger Freund, den der Vater pl?tzlich so gut kannte, ergriff ihn, wie noch nie. Verloren im weiten Russland sah er ihn. An der T?re des leeren, ausgeraubten Gesch?ftes sah er ihn. Zwischen den Tr?mmern der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade noch. Warum hatte er so weit wegfahren m?ssen!

>>Aber schau mich an!<< rief der Vater, und Georg lief, fast zerstreut, zum Bett, um alles zu fassen, stockte aber in der Mitte des Weges.

>>Weil sie die R?cke gehoben hat,<< fing der Vater zu fl?ten an, >>weil sie die R?cke so gehoben hat, die widerliche Gans,<< und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, dass man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, >>weil sie die R?cke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne St?rung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken gesch?ndet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht r?hren kann. Aber kann er sich r?hren oder nicht?<<

Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht.

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