Read Ebook: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 4 by Goethe Johann Wolfgang Von
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Ebook has 314 lines and 27809 words, and 7 pages
#16 in our series by Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 4 by Johann Wolfgang von Goethe
September, 2000
Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 4
Johann Wolfgang von Goethe
Viertes Buch
Erstes Kapitel
Laertes stand nachdenklich am Fenster und blickte, auf seinen Arm gest?tzt, in das Feld hinaus. Philine schlich ?ber den grossen Saal herbei, lehnte sich auf den Freund und verspottete sein ernsthaftes Ansehen.
"Lache nur nicht", versetzte er, "es ist abscheulich, wie die Zeit vergeht, wie alles sich ver?ndert und ein Ende nimmt! Sieh nur, hier stand vor kurzem noch ein sch?nes Lager, wie lustig sahen die Zelte aus! wie lebhaft ging es darin zu! wie sorgf?ltig bewachte man den ganzen Bezirk! und nun ist alles auf einmal verschwunden. Nur kurze Zeit werden das zertretene Stroh und die eingegrabenen Kochl?cher noch eine Spur zeigen; dann wird alles bald umgepfl?gt sein, und die Gegenwart so vieler tausend r?stiger Menschen in dieser Gegend wird nur noch in den K?pfen einiger alten Leute spuken."
Philine fing an zu singen und zog ihren Freund zu einem Tanze in den Saal. "Lass uns", rief sie, "da wir der Zeit nicht nachlaufen k?nnen, wenn sie vor?ber ist, sie wenigstens als eine sch?ne G?ttin, indem sie bei uns vorbeizieht, fr?hlich und zierlich verehren!"
Sie hatten kaum einige Wendungen gemacht, als Madame Melina durch den Saal ging. Philine war boshaft genug, sie gleichfalls zum Tanze einzuladen und sie dadurch an die Missgestalt zu erinnern, in welche sie durch ihre Schwangerschaft versetzt war.
"Wenn ich nur", sagte Philine hinter ihrem R?cken, "keine Frau mehr guter Hoffnung sehen sollte!"
"Sie hofft doch", sagte Laertes.
"Aber es kleidet sie so h?sslich. Hast du die vordere Wackelfalte des verk?rzten Rocks gesehen, die immer vorausspaziert, wenn sie sich bewegt? Sie hat gar keine Art noch Geschick, sich nur ein bisschen zu mustern und ihren Zustand zu verbergen."
"Lass nur", sagte Laertes, "die Zeit wird ihr schon zu H?lfe kommen."
"Es w?re doch immer h?bscher", rief Philine, "wenn man die Kinder von den B?umen sch?ttelte."
Der Baron trat herein und sagte ihnen etwas Freundliches im Namen des Grafen und der Gr?fin, die ganz fr?h abgereist waren, und machte ihnen einige Geschenke. Er ging darauf zu Wilhelmen, der sich im Nebenzimmer mit Mignon besch?ftigte. Das Kind hatte sich sehr freundlich und zut?tig bezeigt, nach Wilhelms Eltern, Geschwistern und Verwandten gefragt und ihn dadurch an seine Pflicht erinnert, den Seinigen von sich einige Nachricht zu geben.
Der Baron brachte ihm nebst einem Abschiedsgrusse von den Herrschaften die Versicherung, wie sehr der Graf mit ihm, seinem Spiele, seinen poetischen Arbeiten und seinen theatralischen Bem?hungen zufrieden gewesen sei. Er zog darauf zum Beweis dieser Gesinnung einen Beutel hervor, durch dessen sch?nes Gewebe die reizende Farbe neuer Goldst?cke durchschimmerte; Wilhelm trat zur?ck und weigerte sich, ihn anzunehmen.
"Sehen Sie", fuhr der Baron fort, "diese Gabe als einen Ersatz f?r Ihre Zeit, als eine Erkenntlichkeit f?r Ihre M?he, nicht als eine Belohnung Ihres Talents an. Wenn uns dieses einen guten Namen und die Neigung der Menschen verschafft, so ist billig, dass wir durch Fleiss und Anstrengung zugleich die Mittel erwerben, unsre Bed?rfnisse zu befriedigen, da wir doch einmal nicht ganz Geist sind. W?ren wir in der Stadt, wo alles zu finden ist, so h?tte man diese kleine Summe in eine Uhr, einen Ring oder sonst etwas verwandelt; nun gebe ich aber den Zauberstab unmittelbar in Ihre H?nde; schaffen Sie sich ein Kleinod daf?r, das Ihnen am liebsten und am dienlichsten ist, und verwahren Sie es zu unserm Andenken. Dabei halten Sie ja den Beutel in Ehren. Die Damen haben ihn selbst gestrickt, und ihre Absicht war, durch das Gef?ss dem Inhalt die annehmlichste Form zu geben."
"Vergeben Sie", versetzte Wilhelm, "meiner Verlegenheit und meinen Zweifeln, dieses Geschenk anzunehmen. Es vernichtet gleichsam das wenige, was ich getan habe, und hindert das freie Spiel einer gl?cklichen Erinnerung. Geld ist eine sch?ne Sache, wo etwas abgetan werden soll, und ich w?nschte nicht, in dem Andenken Ihres Hauses so ganz abgetan zu sein."
"Das ist nicht der Fall", versetzte der Baron; "aber indem Sie selbst zart empfinden, werden Sie nicht verlangen, dass der Graf sich v?llig als Ihren Schuldner denken soll: ein Mann, der seinen gr?ssten Ehrgeiz darein setzt, aufmerksam und gerecht zu sein. Ihm ist nicht entgangen, welche M?he Sie sich gegeben und wie Sie seinen Absichten ganz Ihre Zeit gewidmet haben, ja er weiss, dass Sie, um gewisse Anstalten zu beschleunigen, Ihr eignes Geld nicht schonten. Wie will ich wieder vor ihm erscheinen, wenn ich ihn nicht versichern kann, dass seine Erkenntlichkeit Ihnen Vergn?gen gemacht hat."
"Wenn ich nur an mich selbst denken, wenn ich nur meinen eigenen Empfindungen folgen d?rfte", versetzte Wilhelm, "w?rde ich mich, ungeachtet aller Gr?nde, hartn?ckig weigern, diese Gabe, so sch?n und ehrenvoll sie ist, anzunehmen; aber ich leugne nicht, dass sie mich in dem Augenblicke, in dem sie mich in Verlegenheit setzt, aus einer Verlegenheit reisst, in der ich mich bisher gegen die Meinigen befand und die mir manchen stillen Kummer verursachte. Ich habe sowohl mit dem Gelde als mit der Zeit, von denen ich Rechenschaft zu geben habe, nicht zum besten hausgehalten; nun wird es mir durch den Edelmut des Herrn Grafen m?glich, den Meinigen getrost von dem Gl?cke Nachricht zu geben, zu dem mich dieser sonderbare Seitenweg gef?hrt hat. Ich opfre die Delikatesse, die uns wie ein zartes Gewissen bei solchen Gelegenheiten warnt, einer h?hern Pflicht auf, und um meinem Vater mutig unter die Augen treten zu k?nnen, steh ich besch?mt vor den Ihrigen."
"Es ist sonderbar", versetzte der Baron, "welch ein wunderlich Bedenken man sich macht, Geld von Freunden und G?nnern anzunehmen, von denen man jede andere Gabe mit Dank und Freude empfangen w?rde. Die menschliche Natur hat mehr ?hnliche Eigenheiten, solche Skrupel gern zu erzeugen und sorgf?ltig zu n?hren."
"Ist es nicht das n?mliche mit allen Ehrenpunkten?" fragte Wilhelm.
"Ach ja", versetzte der Baron, "und andern Vorurteilen. Wir wollen sie nicht ausj?ten, um nicht vielleicht edle Pflanzen zugleich mit auszuraufen. Aber mich freut immer, wenn einzelne Personen f?hlen, ?ber was man sich hinaussetzen kann und soll, und ich denke mit Vergn?gen an die Geschichte des geistreichen Dichters, der f?r ein Hoftheater einige St?cke verfertigte, welche den ganzen Beifall des Monarchen erhielten. "Ich muss ihn ansehnlich belohnen", sagte der grossm?tige F?rst; "man forsche an ihm, ob ihm irgendein Kleinod Vergn?gen macht oder ob er nicht verschm?ht, Geld anzunehmen." Nach seiner scherzhaften Art antwortete der Dichter dem abgeordneten Hofmann: "Ich danke lebhaft f?r die gn?digen Gesinnungen, und da der Kaiser alle Tage Geld von uns nimmt, so sehe ich nicht ein, warum ich mich sch?men sollte, Geld von ihm anzunehmen.""
Der Baron hatte kaum das Zimmer verlassen, als Wilhelm eifrig die Barschaft z?hlte, die ihm so unvermutet und, wie er glaubte, so unverdient zugekommen war. Es schien, als ob ihm der Wert und die W?rde des Goldes, die uns in sp?tern Jahren erst f?hlbar werden, ahnungsweise zum erstenmal entgegenblickten, als die sch?nen, blinkenden St?cke aus dem zierlichen Beutel hervorrollten. Er machte seine Rechnung und fand, dass er, besonders da Melina den Vorschuss sogleich wieder zu bezahlen versprochen hatte, ebensoviel, ja noch mehr in Kassa habe als an jenem Tage, da Philine ihm den ersten Strauss abfordern liess. Mit heimlicher Zufriedenheit blickte er auf sein Talent, mit einem kleinen Stolze auf das Gl?ck, das ihn geleitet und begleitet hatte. Er ergriff nunmehr mit Zuversicht die Feder, um einen Brief zu schreiben, der auf einmal die Familie aus aller Verlegenheit und sein bisheriges Betragen in das beste Licht setzen sollte. Er vermied eine eigentliche Erz?hlung und liess nur in bedeutenden und mystischen Ausdr?cken dasjenige, was ihm begegnet sein k?nnte, erraten. Der gute Zustand seiner Kasse, der Erwerb, den er seinem Talent schuldig war, die Gunst der Grossen, die Neigung der Frauen, die Bekanntschaft in einem weiten Kreise, die Ausbildung seiner k?rperlichen und geistigen Anlagen, die Hoffnung f?r die Zukunft bildeten ein solches wunderliches Luftgem?lde, dass Fata Morgagna selbst es nicht seltsamer h?tte durcheinanderwirken k?nnen.
In dieser gl?cklichen Exaltation fuhr er fort, nachdem der Brief geschlossen war, ein langes Selbstgespr?ch zu unterhalten, in welchem er den Inhalt des Schreibens rekapitulierte und sich eine t?tige und w?rdige Zukunft ausmalte. Das Beispiel so vieler edlen Krieger hatte ihn angefeuert, die Shakespearische Dichtung hatte ihm eine neue Welt er?ffnet, und von den Lippen der sch?nen Gr?fin hatte er ein unaussprechliches Feuer in sich gesogen. Das alles konnte, das sollte nicht ohne Wirkung bleiben.
Der Stallmeister kam und fragte, ob sie mit Einpacken fertig seien. Leider hatte ausser Melina noch niemand daran gedacht. Nun sollte man eilig aufbrechen. Der Graf hatte versprochen, die ganze Gesellschaft einige Tagereisen weit transportieren zu lassen, die Pferde waren eben bereit und konnten nicht lange entbehrt werden. Wilhelm fragte nach seinem Koffer; Madame Melina hatte sich ihn zunutze gemacht; er verlangte nach seinem Gelde, Herr Melina hatte es ganz unten in den Koffer mit grosser Sorgfalt gepackt. Philine sagte: "Ich habe in dem meinigen noch Platz", nahm Wilhelms Kleider und befahl Mignon, das ?brige nachzubringen. Wilhelm musste es, nicht ohne Widerwillen, geschehen lassen.
Indem man aufpackte und alles zubereitete, sagte Melina: "Es ist mir verdriesslich, dass wir wie Seilt?nzer und Marktschreier reisen; ich w?nschte, dass Mignon Weiberkleider anz?ge und dass der Harfenspieler sich noch geschwinde den Bart scheren liesse." Mignon hielt sich fest an Wilhelm und sagte mit grosser Lebhaftigkeit: "Ich bin ein Knabe: ich will kein M?dchen sein!" Der Alte schwieg, und Philine machte bei dieser Gelegenheit ?ber die Eigenheit des Grafen, ihres Besch?tzers, einige lustige Anmerkungen. "Wenn der Harfner seinen Bart abschneidet", sagte sie, "so mag er ihn nur sorgf?ltig auf Band n?hen und bewahren, dass er ihn gleich wieder vornehmen kann, sobald er dem Herrn Grafen irgendwo in der Welt begegnet: denn dieser Bart allein hat ihm die Gnade dieses Herrn verschafft."
Als man in sie drang und eine Erkl?rung dieser sonderbaren ?usserung verlangte, liess sie sich folgendergestalt vernehmen: "Der Graf glaubt, dass es zur Illusion sehr viel beitrage, wenn der Schauspieler auch im gemeinen Leben seine Rolle fortspielt und seinen Charakter souteniert; deswegen war er dem Pedanten so g?nstig, und er fand, es sei recht gescheit, dass der Harfner seinen falschen Bart nicht allein abends auf dem Theater, sondern auch best?ndig bei Tage trage, und freute sich sehr ?ber das nat?rliche Aussehen der Maskerade."
Als die andern ?ber diesen Irrtum und ?ber die sonderbaren Meinungen des Grafen spotteten, ging der Harfner mit Wilhelm beiseite, nahm von ihm Abschied und bat mit Tr?nen, ihn ja sogleich zu entlassen. Wilhelm redete ihm zu und versicherte, dass er ihn gegen jedermann sch?tzen werde, dass ihm niemand ein Haar kr?mmen, viel weniger ohne seinen Willen abschneiden solle.
Der Alte war sehr bewegt, und in seinen Augen gl?hte ein sonderbares Feuer. "Nicht dieser Anlass treibt mich hinweg", rief er aus; "schon lange mache ich mir stille Vorw?rfe, dass ich um Sie bleibe. Ich sollte nirgends verweilen, denn das Ungl?ck ereilt mich und besch?digt die, die sich zu mir gesellen. F?rchten Sie alles, wenn Sie mich nicht entlassen, aber fragen Sie mich nicht, ich geh?re nicht mir zu, ich kann nicht bleiben."
"Wem geh?rst du an? Wer kann eine solche Gewalt ?ber dich aus?ben?"
"Mein Herr, lassen Sie mir mein schaudervolles Geheimnis, und geben Sie mich los! Die Rache, die mich verfolgt, ist nicht des irdischen Richters; ich geh?re einem unerbittlichen Schicksale; ich kann nicht bleiben, und ich darf nicht!"
"In diesem Zustande, in dem ich dich sehe, werde ich dich gewiss nicht lassen."
"Es ist Hochverrat an Ihnen, mein Wohlt?ter, wenn ich zaudre. Ich bin sicher bei Ihnen, aber Sie sind in Gefahr. Sie wissen nicht, wen Sie in Ihrer N?he hegen. Ich bin schuldig, aber ungl?cklicher als schuldig. Meine Gegenwart verscheucht das Gl?ck, und die gute Tat wird ohnm?chtig, wenn ich dazutrete. Fl?chtig und unstet sollt ich sein, dass mein ungl?cklicher Genius mich nicht einholet, der mich nur langsam verfolgt und nur dann sich merken l?sst, wenn ich mein Haupt niederlegen und ruhen will. Dankbarer kann ich mich nicht bezeigen, als wenn ich Sie verlasse."
"Sonderbarer Mensch! du kannst mir das Vertrauen in dich so wenig nehmen als die Hoffnung, dich gl?cklich zu sehen. Ich will in die Geheimnisse deines Aberglaubens nicht eindringen; aber wenn du ja in Ahnung wunderbarer Verkn?pfungen und Vorbedeutungen lebst, so sage ich dir zu deinem Trost und zu deiner Aufmunterung: geselle dich zu meinem Gl?cke, und wir wollen sehen, welcher Genius der st?rkste ist, dein schwarzer oder mein weisser!"
Wilhelm ergriff diese Gelegenheit, um ihm noch mancherlei Tr?stliches zu sagen; denn er hatte schon seit einiger Zeit in seinem wunderbaren Begleiter einen Menschen zu sehen geglaubt, der durch Zufall oder Schickung eine grosse Schuld auf sich geladen hat und nun die Erinnerung derselben immer mit sich fortschleppt. Noch vor wenigen Tagen hatte Wilhelm seinen Gesang behorcht und folgende Zeilen wohl bemerkt:
Ihm f?rbt der Morgensonne Licht Den reinen Horizont mit Flammen, Und ?ber seinem schuld'gen Haupte bricht Das sch?ne Bild der ganzen Welt zusammen.
Der Alte mochte nun sagen, was er wollte, so hatte Wilhelm immer ein st?rker Argument, wusste alles zum besten zu kehren und zu wenden, wusste so brav, so herzlich und tr?stlich zu sprechen, dass der Alte selbst wieder aufzuleben und seinen Grillen zu entsagen schien.
Zweites Kapitel
Melina hatte Hoffnung, in einer kleinen, aber wohlhabenden Stadt mit seiner Gesellschaft unterzukommen. Schon befanden sie sich an dem Orte, wohin sie die Pferde des Grafen gebracht hatten, und sahen sich nach andern Wagen und Pferden um, mit denen sie weiterzukommen hofften. Melina hatte den Transport ?bernommen und zeigte sich nach seiner Gewohnheit ?brigens sehr karg. Dagegen hatte Wilhelm die sch?nen Dukaten der Gr?fin in der Tasche, auf deren fr?hliche Verwendung er das gr?sste Recht zu haben glaubte, und sehr leicht vergass er, dass er sie in der stattlichen Bilanz, die er den Seinigen zuschickte, schon sehr ruhmredig aufgef?hrt hatte.
Sein Freund Shakespeare, den er mit grosser Freude auch als seinen Paten anerkannte und sich nur um so lieber Wilhelm nennen liess, hatte ihm einen Prinzen bekannt gemacht, der sich unter geringer, ja sogar schlechter Gesellschaft eine Zeitlang aufh?lt und ungeachtet seiner edlen Natur an der Roheit, Unschicklichkeit und Albernheit solcher ganz sinnlichen Bursche sich erg?tzt. H?chst willkommen war ihm das Ideal, womit er seinen gegenw?rtigen Zustand vergleichen konnte, und der Selbstbetrug, wozu er eine fast un?berwindliche Neigung sp?rte, ward ihm dadurch ausserordentlich erleichtert.
Er fing nun an, ?ber seine Kleidung nachzudenken. Er fand, dass ein Westchen, ?ber das man im Notfall einen kurzen Mantel w?rfe, f?r einen Wanderer eine sehr angemessene Tracht sei. Lange, gestrickte Beinkleider und ein Paar Schn?rstiefeln schienen die wahre Tracht eines Fussg?ngers. Dann verschaffte er sich eine sch?ne seidne Sch?rpe, die er zuerst unter dem Vorwande, den Leib warm zu halten, umband; dagegen befreite er seinen Hals von der Knechtschaft einer Binde und liess sich einige Streifen Nesseltuch ans Hemde heften, die aber etwas breit gerieten und das v?llige Ansehen eines antiken Kragens erhielten. Das sch?ne seidne Halstuch, das gerettete Andenken Marianens, lag nur locker gekn?pft unter der nesseltuchnen Krause. Ein runder Hut mit einem bunten Bande und einer grossen Feder machte die Maskerade vollkommen.
Die Frauen beteuerten, diese Tracht lasse ihm vorz?glich gut. Philine stellte sich ganz bezaubert dar?ber und bat sich seine sch?nen Haare aus, die er, um dem nat?rlichen Ideal nur desto n?herzukommen, unbarmherzig abgeschnitten hatte. Sie empfahl sich dadurch nicht ?bel, und unser Freund, der durch seine Freigebigkeit sich das Recht erworben hatte, auf Prinz Harrys Manier mit den ?brigen umzugehen, kam bald selbst in den Geschmack, einige tolle Streiche anzugeben und zu bef?rdern. Man focht, man tanzte, man erfand allerlei Spiele, und in der Fr?hlichkeit des Herzens genoss man des leidlichen Weins, den man angetroffen hatte, in starkem Masse, und Philine lauerte in der Unordnung dieser Lebensart dem spr?den Helden auf, f?r den sein guter Genius Sorge tragen m?ge.
Eine vorz?gliche Unterhaltung, mit der sich die Gesellschaft besonders erg?tzte, bestand in einem extemporierten Spiel, in welchem sie ihre bisherigen G?nner und Wohlt?ter nachahmten und durchzogen. Einige unter ihnen hatten sich sehr gut die Eigenheiten des ?ussern Anstandes verschiedner vornehmer Personen gemerkt, und die Nachbildung derselben ward von der ?brigen Gesellschaft mit dem gr?ssten Beifall aufgenommen, und als Philine aus dem geheimen Archiv ihrer Erfahrungen einige besondere Liebeserkl?rungen, die an sie geschehen waren, vorbrachte, wusste man sich vor Lachen und Schadenfreude kaum zu lassen.
Wilhelm schalt ihre Undankbarkeit; allein man setzte ihm entgegen, dass sie das, was sie dort erhalten, genugsam abverdient und dass ?berhaupt das Betragen gegen so verdienstvolle Leute, wie sie sich zu sein r?hmten, nicht das beste gewesen sei. Nun beschwerte man sich, mit wie wenig Achtung man ihnen begegnet, wie sehr man sie zur?ckgesetzt habe. Das Spotten, Necken und Nachahmen ging wieder an, und man ward immer bitterer und ungerechter.
"Ich w?nschte", sagte Wilhelm darauf, "dass durch eure ?usserungen weder Neid noch Eigenliebe durchschiene und dass ihr jene Personen und ihre Verh?ltnisse aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtetet. Es ist eine eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reicht?mer eine vollkommene Leichtigkeit des Daseins verschafft haben, wer sich, wenn ich mich so ausdr?cken darf, von allem Beiwesen der Menschheit von Jugend auf reichlich umgeben findet, gew?hnt sich meist, diese G?ter als das Erste und Gr?sste zu betrachten, und der Wert einer von der Natur sch?n ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch untereinander ist nach ?ussern Vorz?gen abgemessen; sie erlauben jedem, seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen."
Diesen Worten gab die Gesellschaft einen unm?ssigen Beifall. Man fand abscheulich, dass der Mann von Verdienst immer zur?ckstehen m?sse und dass in der grossen Welt keine Spur von nat?rlichem und herzlichem Umgang zu finden sei. Sie kamen besonders ?ber diesen letzten Punkt aus dem Hundertsten ins Tausendste.
"Scheltet sie nicht dar?ber", rief Wilhelm aus, "bedauert sie vielmehr! Denn von jenem Gl?ck, das wir als das h?chste erkennen, das aus dem innern Reichtum der Natur fliesst, haben sie selten eine erh?hte Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es geg?nnt, das Gl?ck der Freundschaft in reichem Masse zu geniessen. Wir k?nnen unsre Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch Gunst bef?rdern, noch durch Geschenke begl?cken. Wir haben nichts als uns selbst. Dieses ganze Selbst m?ssen wir hingeben und, wenn es einigen Wert haben soll, dem Freunde das Gut auf ewig versichern. Welch ein Genuss, welch ein Gl?ck f?r den Geber und Empf?nger! In welchen seligen Zustand versetzt uns die Treue! Sie gibt dem vor?bergehenden Menschenleben eine himmlische Gewissheit; sie macht das Hauptkapital unsers Reichtums aus."
Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten gen?hert, schlang ihre zarten Arme um ihn und blieb mit dem K?pfchen an seine Brust gelehnt stehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt und fuhr fort: "Wie leicht wird es einem Grossen, die Gem?ter zu gewinnen! wie leicht eignet er sich die Herzen zu! Ein gef?lliges, bequemes, nur einigermassen menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geister festzuhalten. Uns kommt alles seltner, wird alles schwerer, und wie nat?rlich ist es, dass wir auf das, was wir erwerben und leisten, einen gr?ssern Wert legen. Welche r?hrenden Beispiele von treuen Dienern, die sich f?r ihre Herren aufopferten! Wie sch?n hat uns Shakespeare solche geschildert! Die Treue ist in diesem Falle ein Bestreben einer edlen Seele, einem Gr?ssern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anh?nglichkeit und Liebe wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen bezahlten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind nur f?r den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren, und sie kleiden ihn sch?n. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht versucht, sich auch der Erkenntlichkeit zu ?berheben. Ja, in diesem Sinne glaube ich behaupten zu k?nnen, dass ein Grosser wohl Freunde haben, aber nicht Freund sein k?nne."
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