Read Ebook: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 4 by Goethe Johann Wolfgang Von
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Ebook has 314 lines and 27809 words, and 7 pages
Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten gen?hert, schlang ihre zarten Arme um ihn und blieb mit dem K?pfchen an seine Brust gelehnt stehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt und fuhr fort: "Wie leicht wird es einem Grossen, die Gem?ter zu gewinnen! wie leicht eignet er sich die Herzen zu! Ein gef?lliges, bequemes, nur einigermassen menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geister festzuhalten. Uns kommt alles seltner, wird alles schwerer, und wie nat?rlich ist es, dass wir auf das, was wir erwerben und leisten, einen gr?ssern Wert legen. Welche r?hrenden Beispiele von treuen Dienern, die sich f?r ihre Herren aufopferten! Wie sch?n hat uns Shakespeare solche geschildert! Die Treue ist in diesem Falle ein Bestreben einer edlen Seele, einem Gr?ssern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anh?nglichkeit und Liebe wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen bezahlten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind nur f?r den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren, und sie kleiden ihn sch?n. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht versucht, sich auch der Erkenntlichkeit zu ?berheben. Ja, in diesem Sinne glaube ich behaupten zu k?nnen, dass ein Grosser wohl Freunde haben, aber nicht Freund sein k?nne."
Mignon dr?ckte sich immer fester an ihn.
"Nun gut", versetzte einer aus der Gesellschaft. "Wir brauchen ihre Freundschaft nicht und haben sie niemals verlangt. Nur sollten sie sich besser auf K?nste verstehen, die sie doch besch?tzen wollen. Wenn wir am besten gespielt haben, hat uns niemand zugeh?rt: alles war lauter Parteilichkeit. Wem man g?nstig war, der gefiel, und man war dem nicht g?nstig, der zu gefallen verdiente. Es war nicht erlaubt, wie oft das Alberne und Abgeschmackte Aufmerksamkeit und Beifall auf sich zog."
"Wenn ich abrechne", versetzte Wilhelm, "was Schadenfreude und Ironie gewesen sein mag, so denk ich, es geht in der Kunst wie in der Liebe. Wie will der Weltmann bei seinem zerstreuten Leben die Innigkeit erhalten, in der ein K?nstler bleiben muss, wenn er etwas Vollkommenes hervorzubringen denkt, und die selbst demjenigen nicht fremd sein darf, der einen solchen Anteil am Werke nehmen will, wie der K?nstler ihn w?nscht und hofft.
Glaubt mir, meine Freunde, es ist mit den Talenten wie mit der Tugend: man muss sie um ihrer selbst willen lieben oder sie ganz aufgeben. Und doch werden sie beide nicht anders erkannt und belohnt, als wenn man sie gleich einem gef?hrlichen Geheimnis im verborgnen ?ben kann."
"Unterdessen, bis ein Kenner uns auffindet, kann man Hungers sterben", rief einer aus der Ecke.
"Nicht eben sogleich", versetzte Wilhelm. "Ich habe gesehen, solange einer lebt und sich r?hrt, findet er immer seine Nahrung, und wenn sie auch gleich nicht die reichlichste ist. Und wor?ber habt ihr euch denn zu beschweren? Sind wir nicht ganz unvermutet, eben da es mit uns am schlimmsten aussah, gut aufgenommen und bewirtet worden? Und jetzt, da es uns noch an nichts gebricht, f?llt es uns denn ein, etwas zu unserer ?bung zu tun und nur einigermassen weiterzustreben? Wir treiben fremde Dinge und entfernen, den Schulkindern ?hnlich, alles, was uns nur an unsre Lektion erinnern k?nnte."
"Wahrhaftig", sagte Philine, "es ist unverantwortlich! Lasst uns ein St?ck w?hlen; wir wollen es auf der Stelle spielen. Jeder muss sein m?glichstes tun, als wenn er vor dem gr?ssten Auditorium st?nde."
Man ?berlegte nicht lange; das St?ck ward bestimmt. Es war eines derer, die damals in Deutschland grossen Beifall fanden und nun verschollen sind. Einige pfiffen eine Symphonie, jeder besann sich schnell auf seine Rolle, man fing an und spielte mit der gr?ssten Aufmerksamkeit das St?ck durch, und wirklich ?ber Erwartung gut. Man applaudierte sich wechselsweise; man hatte sich selten so wohl gehalten.
Als sie fertig waren, empfanden sie alle ein ausnehmendes Vergn?gen, teils ?ber ihre wohlzugebrachte Zeit, teils weil jeder besonders mit sich zufrieden sein konnte. Wilhelm liess sich weitl?ufig zu ihrem Lobe heraus, und ihre Unterhaltung war heiter und fr?hlich.
"Ihr solltet sehen", rief unser Freund, "wie weit wir kommen m?ssten, wenn wir unsre ?bungen auf diese Art fortsetzten und nicht bloss auf Auswendiglernen, Probieren und Spielen uns mechanisch pflicht- und handwerksm?ssig einschr?nkten. Wieviel mehr Lob verdienen die Tonk?nstler, wie sehr erg?tzen sie sich, wie genau sind sie, wenn sie gemeinschaftlich ihre ?bungen vornehmem Wie sind sie bem?ht, ihre Instrumente ?bereinzustimmen, wie genau halten sie Takt, wie zart wissen sie die St?rke und Schw?che des Tons auszudr?cken! Keinem f?llt es ein, sich bei dem Solo eines andern durch ein vorlautes Akkompagnieren Ehre zu machen. Jeder sucht in dem Geist und Sinne des Komponisten zu spielen und jeder das, was ihm aufgetragen ist, es mag viel oder wenig sein, gut auszudr?cken. Sollten wir nicht ebenso genau und ebenso geistreich zu Werke gehen, da wir eine Kunst treiben, die noch viel zarter als jede Art von Musik ist, da wir die gew?hnlichsten und seltensten ?usserungen der Menschheit geschmackvoll und erg?tzend darzustellen berufen sind? Kann etwas abscheulicher sein, als in den Proben zu sudeln und sich bei der Vorstellung auf Laune und gut Gl?ck zu verlassen? Wir sollten unser gr?sstes Gl?ck und Vergn?gen dareinsetzen, miteinander ?bereinzustimmen, um uns wechselsweise zu gefallen, und auch nur insofern den Beifall des Publikums zu sch?tzen, als wir ihn uns gleichsam untereinander schon selbst garantiert h?tten. Warum ist der Kapellmeister seines Orchesters gewisser als der Direktor seines Schauspiels? Weil dort jeder sich seines Missgriffs, der das ?ussere Ohr beleidigt, sch?men muss; aber wie selten hab ich einen Schauspieler verzeihliche und unverzeihliche Missgriffe, durch die das innere Ohr so schn?de beleidigt wird, anerkennen und sich ihrer sch?men sehen! Ich w?nschte nur, dass das Theater so schmal w?re als der Draht eines Seilt?nzers, damit sich kein Ungeschickter hinaufwagte, anstatt dass jetzo ein jeder sich F?higkeit genug f?hlt, darauf zu paradieren."
Die Gesellschaft nahm diese Apostrophe gut auf, indem jeder ?berzeugt war, dass nicht von ihm die Rede sein k?nne, da er sich noch vor kurzem nebst den ?brigen so gut gehalten. Man kam vielmehr ?berein, dass man in dem Sinne, wie man angefangen, auf dieser Reise und k?nftig, wenn man zusammen bliebe, eine gesellige Bearbeitung wolle obwalten lassen. Man fand nur, dass, weil dieses eine Sache der guten Laune und des freien Willens sei, so m?sse sich eigentlich kein Direktor dareinmischen. Man nahm als ausgemacht an, dass unter guten Menschen die republikanische Form die beste sei; man behauptete, das Amt eines Direktors m?sse herumgehen; er m?sse von allen gew?hlt werden und eine Art von kleinem Senat ihm jederzeit beigesetzt bleiben. Sie waren so von diesem Gedanken eingenommen, dass sie w?nschten, ihn gleich ins Werk zu richten.
"Ich habe nichts dagegen", sagte Melina, "wenn ihr auf der Reise einen solchen Versuch machen wollt; ich suspendiere meine Direktorschaft gern, bis wir wieder an Ort und Stelle kommen." Er hoffte dabei zu sparen und manche Ausgaben der kleinen Republik oder dem Interimsdirektor aufzuw?lzen. Nun ging man sehr lebhaft zu Rate, wie man die Form des neuen Staates aufs beste einrichten wolle.
"Es ist ein wanderndes Reich", sagte Laertes; "wir werden wenigstens keine Grenzstreitigkeiten haben."
Man schritt sogleich zur Sache und erw?hlte Wilhelmen zum ersten Direktor. Der Senat ward bestellt, die Frauen erhielten Sitz und Stimme, man schlug Gesetze vor, man verwarf, man genehmigte. Die Zeit ging unvermerkt unter diesem Spiele vor?ber, und weil man sie angenehm zubrachte, glaubte man auch wirklich etwas N?tzliches getan und durch die neue Form eine neue Aussicht f?r die vaterl?ndische B?hne er?ffnet zu haben.
Drittes Kapitel
Wilhelm hoffte nunmehr, da er die Gesellschaft in so guter Disposition sah, sich auch mit ihr ?ber das dichterische Verdienst der St?cke unterhalten zu k?nnen. "Es ist nicht genug", sagte er zu ihnen, als sie des andern Tages wieder zusammenkamen, "dass der Schauspieler ein St?ck nur so obenhin ansehe, dasselbe nach dem ersten Eindruck beurteile und ohne Pr?fung sein Gefallen oder Missfallen daran zu erkennen gebe. Dies ist dem Zuschauer wohl erlaubt, der ger?hrt und unterhalten sein, aber eigentlich nicht urteilen will. Der Schauspieler dagegen soll von dem St?cke und von den Ursachen seines Lobes und Tadels Rechenschaft geben k?nnen: und wie will er das, wenn er nicht in den Sinn seines Autors, wenn er nicht in die Absichten desselben einzudringen versteht? Ich habe den Fehler, ein St?ck aus einer Rolle zu beurteilen, eine Rolle nur an sich und nicht im Zusammenhange mit dem St?ck zu betrachten, an mir selbst in diesen Tagen so lebhaft bemerkt, dass ich euch das Beispiel erz?hlen will, wenn ihr mir ein geneigtes Geh?r g?nnen wollt.
Ihr kennt Shakespeares unvergleichlichen "Hamlet" aus einer Vorlesung, die euch schon auf dem Schlosse das gr?sste Vergn?gen machte. Wir setzten uns vor, das St?ck zu spielen, und ich hatte, ohne zu wissen, was ich tat, die Rolle des Prinzen ?bernommen; ich glaubte sie zu studieren, indem ich anfing, die st?rksten Stellen, die Selbstgespr?che und jene Auftritte zu memorieren, in denen Kraft der Seele, Erhebung des Geistes und Lebhaftigkeit freien Spielraum haben, wo das bewegte Gem?t sich in einem gef?hlvollen Ausdrucke zeigen kann.
Auch glaubte ich recht in den Geist der Rolle einzudringen, wenn ich die Last der tiefen Schwermut gleichsam selbst auf mich n?hme und unter diesem Druck meinem Vorbilde durch das seltsame Labyrinth so mancher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen suchte. So memorierte ich, und so ?bte ich mich und glaubte nach und nach mit meinem Helden zu einer Person zu werden.
Allein je weiter ich kam, desto schwerer ward mir die Vorstellung des Ganzen, und mir schien zuletzt fast unm?glich, zu einer ?bersicht zu gelangen. Nun ging ich das St?ck in einer ununterbrochenen Folge durch, und auch da wollte mir leider manches nicht passen. Bald schienen sich die Charaktere, bald der Ausdruck zu widersprechen, und ich verzweifelte fast, einen Ton zu finden, in welchem ich meine ganze Rolle mit allen Abweichungen und Schattierungen vortragen k?nnte. In diesen Irrg?ngen bem?hte ich mich lange vergebens, bis ich mich endlich auf einem ganz besondern Wege meinem Ziele zu n?hern hoffte.
Ich suchte jede Spur auf, die sich von dem Charakter Hamlets in fr?her Zeit vor dem Tode seines Vaters zeigte; ich bemerkte, was unabh?ngig von dieser traurigen Begebenheit, unabh?ngig von den nachfolgenden schrecklichen Ereignissen dieser interessante J?ngling gewesen war und was er ohne sie vielleicht geworden w?re.
Zart und edel entsprossen, wuchs die k?nigliche Blume unter den unmittelbaren Einfl?ssen der Majest?t hervor; der Begriff des Rechts und der f?rstlichen W?rde, das Gef?hl des Guten und Anst?ndigen mit dem Bewusstsein der H?he seiner Geburt entwickelten sich zugleich in ihm. Er war ein F?rst, ein geborner F?rst, und w?nschte zu regieren, nur damit der Gute ungehindert gut sein m?chte. Angenehm von Gestalt, gesittet von Natur, gef?llig von Herzen aus, sollte er das Muster der Jugend sein und die Freude der Welt werden.
Ohne irgendeine hervorstechende Leidenschaft war seine Liebe zu Ophelien ein stilles Vorgef?hl s?sser Bed?rfnisse; sein Eifer zu ritterlichen ?bungen war nicht ganz original; vielmehr musste diese Lust durch das Lob, das man dem Dritten beilegte, gesch?rft und erh?ht werden; rein f?hlend, kannte er die Redlichen und wusste die Ruhe zu sch?tzen, die ein aufrichtiges Gem?t an dem offnen Busen eines Freundes geniesst. Bis auf einen gewissen Grad hatte er in K?nsten und Wissenschaften das Gute und Sch?ne erkennen und w?rdigen gelernt; das Abgeschmackte war ihm zuwider, und wenn in seiner zarten Seele der Hass aufkeimen konnte, so war es nur ebenso viel, als n?tig ist, um bewegliche und falsche H?flinge zu verachten und sp?ttisch mit ihnen zu spielen. Er war gelassen in seinem Wesen, in seinem Betragen einfach, weder im M?ssiggange behaglich noch allzu begierig nach Besch?ftigung. Ein akademisches Hinschlendern schien er auch bei Hofe fortzusetzen. Er besass mehr Fr?hlichkeit der Laune als des Herzens, war ein guter Gesellschafter, nachgiebig, bescheiden, besorgt, und konnte eine Beleidigung vergeben und vergessen; aber niemals konnte er sich mit dem vereinigen, der die Grenzen des Rechten, des Guten, des Anst?ndigen ?berschritt.
Wenn wir das St?ck wieder zusammen lesen werden, k?nnt ihr beurteilen, ob ich auf dem rechten Wege bin. Wenigstens hoffe ich meine Meinung durchaus mit Stellen belegen zu k?nnen."
Man gab der Schilderung lauten Beifall; man glaubte vorauszusehen, dass sich nun die Handelsweise Hamlets gar gut werde erkl?ren lassen; man freute sich ?ber diese Art, in den Geist des Schriftstellers einzudringen. Jeder nahm sich vor, auch irgendein St?ck auf diese Art zu studieren und den Sinn des Verfassers zu entwickeln.
Viertes Kapitel
Nur einige Tage musste die Gesellschaft an dem Orte liegenbleiben, und sogleich zeigten sich f?r verschiedene Glieder derselben nicht unangenehme Abenteuer, besonders aber ward Laertes von einer Dame angereizt, die in der Nachbarschaft ein Gut hatte, gegen die er sich aber ?usserst kalt, ja unartig betrug und dar?ber von Philinen viele Sp?ttereien erdulden musste. Sie ergriff die Gelegenheit, unserm Freund die ungl?ckliche Liebesgeschichte zu erz?hlen, ?ber die der arme J?ngling dem ganzen weiblichen Geschlechte feind geworden war. "Wer wird ihm ?belnehmen", rief sie aus, "dass er ein Geschlecht hasst, das ihm so ?bel mitgespielt hat und ihm alle ?bel, die sonst M?nner von Weibern zu bef?rchten haben, in einem sehr konzentrierten Tranke zu verschlucken gab? Stellen Sie sich vor: binnen vierundzwanzig Stunden war er Liebhaber, Br?utigam, Ehmann, Hahnrei, Patient und Witwer! Ich w?sste nicht, wie man's einem ?rger machen wollte."
Laertes lief halb lachend, halb verdriesslich zur Stube hinaus, und Philine fing in ihrer allerliebsten Art die Geschichte zu erz?hlen an, wie Laertes als ein junger Mensch von achtzehn Jahren, eben als er bei einer Theatergesellschaft eingetroffen, ein sch?nes vierzehnj?hriges M?dchen gefunden, die eben mit ihrem Vater, der sich mit dem Direktor entzweiet, abzureisen willens gewesen. Er habe sich aus dem Stegreife sterblich verliebt, dem Vater alle m?glichen Vorstellungen getan zu bleiben und endlich versprochen, das M?dchen zu heiraten. Nach einigen angenehmen Stunden des Brautstandes sei er getraut worden, habe eine gl?ckliche Nacht als Ehmann zugebracht, darauf habe ihn seine Frau des andern Morgens, als er in der Probe gewesen, nach Standesgeb?hr mit einem H?rnerschmuck beehrt; weil er aber aus allzugrosser Z?rtlichkeit viel zu fr?h nach Hause geeilt, habe er leider einen ?ltern Liebhaber an seiner Stelle gefunden, habe mit unsinniger Leidenschaft dreingeschlagen, Liebhaber und Vater herausgefordert und sei mit einer leidlichen Wunde davongekommen. Vater und Tochter seien darauf noch in der Nacht abgereist, und er sei leider auf eine doppelte Weise verwundet zur?ckgeblieben. Sein Ungl?ck habe ihn zu dem schlechtesten Feldscher von der Welt gef?hrt, und der Arme sei leider mit schwarzen Z?hnen und triefenden Augen aus diesem Abenteuer geschieden. Er sei zu bedauern, weil er ?brigens der bravste Junge sei, den Gottes Erdboden tr?ge. "Besonders", sagte sie, "tut es mir leid, dass der arme Narr nun die Weiber hasst: denn wer die Weiber hasst, wie kann der leben?"
Melina unterbrach sie mit der Nachricht, dass alles zum Transport v?llig bereit sei und dass sie morgen fr?h abfahren k?nnten. Er ?berreichte ihnen eine Disposition, wie sie fahren sollten.
"Wenn mich ein guter Freund auf den Schoss nimmt", sagte Philine, "so bin ich zufrieden, dass wir eng und erb?rmlich sitzen; ?brigens ist mir alles einerlei."
"Es tut nichts", sagte Laertes, der auch herbeikam.
"Es ist verdriesslich!" sagte Wilhelm und eilte weg. Er fand f?r sein Geld noch einen gar bequemen Wagen, den Melina verleugnet hatte. Eine andere Einteilung ward gemacht, und man freute sich, bequem abreisen zu k?nnen, als die bedenkliche Nachricht einlief: dass auf dem Wege, den sie nehmen wollten, sich ein Freikorps sehen lasse, von dem man nicht viel Gutes erwartete.
An dem Orte selbst war man sehr auf diese Zeitung aufmerksam, wenn sie gleich nur schwankend und zweideutig war. Nach der Stellung der Armeen schien es unm?glich, dass ein feindliches Korps sich habe durchschleichen oder dass ein freundliches so weit habe zur?ckbleiben k?nnen. Jedermann war eifrig, unsrer Gesellschaft die Gefahr, die auf sie wartete, recht gef?hrlich zu beschreiben und ihr einen andern Weg anzuraten.
Die meisten waren dar?ber in Unruhe und Furcht gesetzt, und als nach der neuen republikanischen Form die s?mtlichen Glieder des Staats zusammengerufen wurden, um ?ber diesen ausserordentlichen Fall zu beratschlagen, waren sie fast einstimmig der Meinung, dass man das ?bel vermeiden und am Orte bleiben oder ihm ausweichen und einen andern Weg erw?hlen m?sse.
Nur Wilhelm, von Furcht nicht eingenommen, hielt f?r schimpflich, einen Plan, in den man mit so viel ?berlegung eingegangen war, nunmehr auf ein blosses Ger?cht aufzugeben. Er sprach ihnen Mut ein, und seine Gr?nde waren m?nnlich und ?berzeugend.
"Noch", sagte er, "ist es nichts als ein Ger?cht, und wie viele dergleichen entstehen im Kriege! Verst?ndige Leute sagen, dass der Fall h?chst unwahrscheinlich, ja beinah unm?glich sei. Sollten wir uns in einer so wichtigen Sache bloss durch ein so ungewisses Gerede bestimmen lassen? Die Route, welche uns der Herr Graf angegeben hat, auf die unser Pass lautet, ist die k?rzeste, und wir finden auf selbiger den besten Weg. Sie f?hrt uns nach der Stadt, wo ihr Bekanntschaften, Freunde vor euch seht und eine gute Aufnahme zu hoffen habt. Der Umweg bringt uns auch dahin, aber in welche schlimmen Wege verwickelt er uns, wie weit f?hrt er uns ab! K?nnen wir Hoffnung haben, uns in der sp?ten Jahrszeit wieder herauszufinden, und was f?r Zeit und Geld werden wir indessen versplittern!" Er sagte noch viel und trug die Sache von so mancherlei vorteilhaften Seiten vor, dass ihre Furcht sich verringerte und ihr Mut zunahm. Er wusste ihnen so viel von der Mannszucht der regelm?ssigen Truppen vorzusagen und ihnen die Marodeurs und das hergelaufene Gesindel so nichtsw?rdig zu schildern und selbst die Gefahr so lieblich und lustig darzustellen, dass alle Gem?ter aufgeheitert wurden.
Laertes war vom ersten Moment an auf seiner Seite und versicherte, dass er nicht wanken noch weichen wolle. Der alte Polterer fand wenigstens einige ?bereinstimmende Ausdr?cke in seiner Manier, Philine lachte sie alle zusammen aus, und da Madame Melina, die, ihrer hohen Schwangerschaft ungeachtet, ihre nat?rliche Herzhaftigkeit nicht verloren hatte, den Vorschlag heroisch fand, so konnte Melina, der denn freilich auf dem n?chsten Wege, auf den er akkordiert hatte, viel zu sparen hoffte, nicht widerstehen, und man willigte in den Vorschlag von ganzem Herzen.
Nun fing man an, sich auf alle F?lle zur Verteidigung einzurichten. Man kaufte grosse Hirschf?nger und hing sie an wohlgestickten Riemen ?ber die Schultern. Wilhelm steckte noch ?berdies ein Paar Terzerole in den G?rtel; Laertes hatte ohnedem eine gute Flinte bei sich, und man machte sich mit einer hohen Freudigkeit auf den Weg.
Den zweiten Tag schlugen die Fuhrleute, die der Gegend wohl kundig waren, vor: sie wollten auf einem waldigen Bergplatze Mittagsruhe halten, weil das Dorf weit abgelegen sei und man bei guten Tagen gern diesen Weg n?hme.
Die Witterung war sch?n, und jedermann stimmte leicht in den Vorschlag ein. Wilhelm eilte zu Fuss durch das Gebirge voraus, und ?ber seine sonderbare Gestalt musste jeder, der ihm begegnete, stutzig werden. Er eilte mit schnellen und zufriedenen Schritten den Wald hinauf, Laertes pfiff hinter ihm drein, nur die Frauen liessen sich in den Wagen fortschleppen. Mignon lief gleichfalls nebenher, stolz auf den Hirschf?nger, den man ihr, als die Gesellschaft sich bewaffnete, nicht abschlagen konnte. Um ihren Hut hatte sie die Perlenschnur gewunden, die Wilhelm von Marianens Reliquien ?brigbehalten hatte. Friedrich der Blonde trug die Flinte des Laertes, der Harfner hatte das friedlichste Ansehen. Sein langes Kleid war in den G?rtel gesteckt, und so ging er freier. Er st?tzte sich auf einen knotigen Stab, sein Instrument war bei den Wagen zur?ckgeblieben.
Nachdem sie nicht ganz ohne Beschwerlichkeit die H?he erstiegen, erkannten sie sogleich den angezeigten Platz an den sch?nen Buchen, die ihn umgaben und bedeckten. Eine grosse, sanft abh?ngige Waldwiese lud zum Bleiben ein; eine eingefasste Quelle bot die lieblichste Erquickung dar, und es zeigte sich an der andern Seite durch Schluchten und Waldr?cken eine ferne, sch?ne und hoffnungsvolle Aussicht. Da lagen D?rfer und M?hlen in den Gr?nden, St?dtchen in der Ebene, und neue, in der Ferne eintretende Berge machten die Aussicht noch hoffnungsvoller, indem sie nur wie eine sanfte Beschr?nkung hereintraten.
Die ersten Ankommenden nahmen Besitz von der Gegend, ruhten im Schatten aus, machten ein Feuer an und erwarteten gesch?ftig, singend die ?brige Gesellschaft, welche nach und nach herbeikam und den Platz, das sch?ne Wetter, die unaussprechlich sch?ne Gegend mit einem Munde begr?sste.
F?nftes Kapitel
Hatte man oft zwischen vier W?nden gute und fr?hliche Stunden zusammen genossen, so war man nat?rlich noch viel aufgeweckter hier, wo die Freiheit des Himmels und die Sch?nheit der Gegend jedes Gem?t zu reinigen schien. Alle f?hlten sich einander n?her, alle w?nschten in einem so angenehmen Aufenthalt ihr ganzes Leben hinzubringen. Man beneidete die J?ger, K?hler und Holzhauer, Leute, die ihr Beruf in diesen gl?cklichen Wohnpl?tzen festh?lt; ?ber alles aber pries man die reizende Wirtschaft eines Zigeunerhaufens. Man beneidete die wunderlichen Gesellen, die in seligem M?ssiggange alle abenteuerlichen Reize der Natur zu geniessen berechtigt sind; man freute sich, ihnen einigermassen ?hnlich zu sein.
Indessen hatten die Frauen angefangen, Erd?pfel zu sieden und die mitgebrachten Speisen auszupacken und zu bereiten. Einige T?pfe standen beim Feuer, gruppenweise lagerte sich die Gesellschaft unter den B?umen und B?schen. Ihre seltsamen Kleidungen und die mancherlei Waffen gaben ihr ein fremdes Ansehen. Die Pferde wurden beiseite gef?ttert, und wenn man die Kutschen h?tte verstecken wollen, so w?re der Anblick dieser kleinen Horde bis zur Illusion romantisch gewesen.
Wilhelm genoss ein nie gef?hltes Vergn?gen. Er konnte hier eine wandernde Kolonie und sich als Anf?hrer derselben denken. In diesem Sinne unterhielt er sich mit einem jeden und bildete den Wahn des Moments so poetisch als m?glich aus. Die Gef?hle der Gesellschaft erh?hten sich; man ass, trank und jubilierte und bekannte wiederholt, niemals sch?nere Augenblicke erlebt zu haben.
Nicht lange hatte das Vergn?gen zugenommen, als bei den jungen Leuten die T?tigkeit erwachte. Wilhelm und Laertes griffen zu den Rapieren und fingen diesmal in theatralischer Absicht ihre ?bungen an. Sie wollten den Zweikampf darstellen, in welchem Hamlet und sein Gegner ein so tragisches Ende nehmen. Beide Freunde waren ?berzeugt, dass man in dieser wichtigen Szene nicht, wie es wohl auf Theatern zu geschehen pflegt, nur ungeschickt hin und wider stossen d?rfe: sie hofften ein Muster darzustellen, wie man bei der Auff?hrung auch dem Kenner der Fechtkunst ein w?rdiges Schauspiel zu geben habe. Man schloss einen Kreis um sie her; beide fochten mit Eifer und Einsicht, das Interesse der Zuschauer wuchs mit jedem Gange.
Auf einmal aber fiel im n?chsten Busche ein Schuss und gleich darauf noch einer, und die Gesellschaft fuhr erschreckt auseinander. Bald erblickte man bewaffnete Leute, die auf den Ort zudrangen, wo die Pferde nicht weit von den bepackten Kutschen ihr Futter einnahmen.
Ein allgemeiner Schrei entfuhr dem weiblichen Geschlechte, unsre Helden warfen die Rapiere weg, griffen nach den Pistolen, eilten den R?ubern entgegen und forderten unter lebhaften Drohungen Rechenschaft des Unternehmens.
Als man ihnen lakonisch mit ein paar Musketensch?ssen antwortete, dr?ckte Wilhelm seine Pistole auf einen Krauskopf ab, der den Wagen erstiegen hatte und die Stricke des Gep?ckes auseinanderschnitt. Wohlgetroffen st?rzte er sogleich herunter; Laertes hatte auch nicht fehlgeschossen, und beide Freunde zogen beherzt ihre Seitengewehre, als ein Teil der r?uberischen Bande mit Fluchen und Gebr?ll auf sie losbrach, einige Sch?sse auf sie tat und sich mit blinkenden S?beln ihrer K?hnheit entgegensetzte. Unsre jungen Helden hielten sich tapfer; sie riefen ihren ?brigen Gesellen zu und munterten sie zu einer allgemeinen Verteidigung auf. Bald aber verlor Wilhelm den Anblick des Lichtes und das Bewusstsein dessen, was vorging. Von einem Schuss, der ihn zwischen der Brust und dem linken Arm verwundete, von einem Hiebe, der ihm den Hut spaltete und fast bis auf die Hirnschale durchdrang, bet?ubt, fiel er nieder und musste das ungl?ckliche Ende des ?berfalls nur erst in der Folge aus der Erz?hlung vernehmen.
Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich in der wunderbarsten Lage. Das erste, was ihm durch die D?mmerung, die noch vor seinen Augen lag, entgegenblickte, war das Gesicht Philinens, das sich ?ber das seine her?berneigte. Er f?hlte sich schwach, und da er, um sich emporzurichten, eine Bewegung machte, fand er sich in Philinens Schoss, in den er auch wieder zur?cksank. Sie sass auf dem Rasen, hatte den Kopf des vor ihr ausgestreckten J?nglings leise an sich gedr?ckt und ihm in ihren Armen, soviel sie konnte, ein sanftes Lager bereitet. Mignon kniete mit zerstreuten, blutigen Haaren an seinen F?ssen und umfasste sie mit vielen Tr?nen.
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