Read Ebook: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 5 by Goethe Johann Wolfgang Von
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Ebook has 360 lines and 26118 words, and 8 pages
#17 in our series by Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 5 by Johann Wolfgang von Goethe
September, 2000
Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 5
Johann Wolfgang von Goethe
F?nftes Buch
Erstes Kapitel
So hatte Wilhelm zu seinen zwei kaum geheilten Wunden abermals eine frische dritte, die ihm nicht wenig unbequem war. Aurelie wollte nicht zugeben, dass er sich eines Wundarztes bediente; sie selbst verband ihn unter allerlei wunderlichen Reden, Zeremonien und Spr?chen und setzte ihn dadurch in eine sehr peinliche Lage. Doch nicht er allein, sondern alle Personen, die sich in ihrer N?he befanden, litten durch ihre Unruhe und Sonderbarkeit; niemand aber mehr als der kleine Felix. Das lebhafte Kind war unter einem solchen Druck h?chst ungeduldig und zeigte sich immer unartiger, je mehr sie es tadelte und zurechtwies.
Der Knabe gefiel sich in gewissen Eigenheiten, die man auch Unarten zu nennen pflegt und die sie ihm keinesweges nachzusehen gedachte. Er trank zum Beispiel lieber aus der Flasche als aus dem Glase, und offenbar schmeckten ihm die Speisen aus der Sch?ssel besser als von dem Teller. Eine solche Unschicklichkeit wurde nicht ?bersehen, und wenn er nun gar die T?re aufliess oder zuschlug und, wenn ihm etwas befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungest?m davonrannte, so musste er eine grosse Lektion anh?ren, ohne dass er darauf je einige Besserung h?tte sp?ren lassen. Vielmehr schien die Neigung zu Aurelien sich t?glich mehr zu verlieren; in seinem Tone war nichts Z?rtliches, wenn er sie Mutter nannte, er hing vielmehr leidenschaftlich an der alten Amme, die ihm denn freilich allen Willen liess.
Aber auch diese war seit einiger Zeit so krank geworden, dass man sie aus dem Hause in ein stilles Quartier bringen musste, und Felix h?tte sich ganz allein gesehen, w?re nicht Mignon auch ihm als ein liebevoller Schutzgeist erschienen. Auf das artigste unterhielten sich beide Kinder miteinander; sie lehrte ihm kleine Lieder, und er, der ein sehr gutes Ged?chtnis hatte, rezitierte sie oft zur Verwunderung der Zuh?rer. Auch wollte sie ihm die Landkarten erkl?ren, mit denen sie sich noch immer sehr abgab, wobei sie jedoch nicht mit der besten Methode verfuhr. Denn eigentlich schien sie bei den L?ndern kein besonderes Interesse zu haben, als ob sie kalt oder warm seien. Von den Weltpolen, von dem schrecklichen Eise daselbst und von der zunehmenden W?rme, je mehr man sich von ihnen entfernte, wusste sie sehr gut Rechenschaft zu geben. Wenn jemand reiste, fragte sie nur, ob er nach Norden oder nach S?den gehe, und bem?hte sich, die Wege auf ihren kleinen Karten aufzufinden. Besonders wenn Wilhelm von Reisen sprach, war sie sehr aufmerksam und schien sich immer zu betr?ben, sobald das Gespr?ch auf eine andere Materie ?berging. Sowenig man sie bereden konnte, eine Rolle zu ?bernehmen oder auch nur, wenn gespielt wurde, auf das Theater zu gehen, so gern und fleissig lernte sie Oden und Lieder auswendig und erregte, wenn sie ein solches Gedicht, gew?hnlich von der ernsten und feierlichen Art, oft unvermutet wie aus dem Stegreife deklamierte, bei jedermann Erstaunen.
Serlo, der auf jede Spur eines aufkeimenden Talentes zu achten gewohnt war, suchte sie aufzumuntern; am meisten aber empfahl sie sich ihm durch einen sehr artigen, mannigfaltigen und manchmal selbst muntern Gesang, und auf ebendiesem Wege hatte sich der Harfenspieler seine Gunst erworben.
Serlo, ohne selbst Genie zur Musik zu haben oder irgendein Instrument zu spielen, wusste ihren hohen Wert zu sch?tzen; er suchte sich sooft als m?glich diesen Genuss, der mit keinem andern verglichen werden kann, zu verschaffen. Er hatte w?chentlich einmal Konzert, und nun hatte sich ihm durch Mignon, den Harfenspieler und Laertes, der auf der Violine nicht ungeschickt war, eine wunderliche kleine Hauskapelle gebildet.
Er pflegte zu sagen: "Der Mensch ist so geneigt, sich mir dem Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht gegen die Eindr?cke des Sch?nen und Vollkommenen ab, dass man die F?higkeit, es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen solchen Genuss kann niemand ganz entbehren, und nur die Ungewohntheit, etwas Gutes zu geniessen, ist Ursache, dass viele Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es nur neu ist, Vergn?gen finden. Man sollte", sagte er, "alle Tage wenigstens ein kleines Lied h?ren, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gem?lde sehen und, wenn es m?glich zu machen w?re, einige vern?nftige Worte sprechen."
Bei diesen Gesinnungen, die Serlo gewissermassen nat?rlich waren, konnte es den Personen, die ihn umgaben, nicht an angenehmer Unterhaltung fehlen. Mitten in diesem vergn?glichen Zustande brachte man Wilhelmen eines Tags einen schwarzgesiegelten Brief. Werners Petschaft deutete auf eine traurige Nachricht, und er erschrak nicht wenig, als er den Tod seines Vaters nur mit einigen Worten angezeigt fand. Nach einer unerwarteten, kurzen Krankheit war er aus der Welt gegangen und hatte seine h?uslichen Angelegenheiten in der besten Ordnung hinterlassen.
Diese unvermutete Nachricht traf Wilhelmen im Innersten. Er f?hlte tief, wie unempfindlich man oft Freunde und Verwandte, solange sie sich mit uns des irdischen Aufenthaltes erfreuen, vernachl?ssigt und nur dann erst die Vers?umnis bereut, wenn das sch?ne Verh?ltnis wenigstens f?r diesmal aufgehoben ist. Auch konnte der Schmerz ?ber das zeitige Absterben des braven Mannes nur durch das Gef?hl gelindert werden, dass er auf der Welt wenig geliebt, und durch die ?berzeugung, dass er wenig genossen habe.
Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen Verh?ltnisse, und er f?hlte sich nicht wenig beunruhigt. Der Mensch kann in keine gef?hrlichere Lage versetzt werden, als wenn durch ?ussere Umst?nde eine grosse Ver?nderung seines Zustandes bewirkt wird, ohne dass seine Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet ist. Es gibt alsdann eine Epoche ohne Epoche, und es entsteht nur ein desto gr?sserer Widerspruch, je weniger der Mensch bemerkt, dass er zu dem neuen Zustande noch nicht ausgebildet sei.
Wilhelm sah sich in einem Augenblicke frei, in welchem er mit sich selbst noch nicht einig werden konnte. Seine Gesinnungen waren edel, seine Absichten lauter, und seine Vors?tze schienen nicht verwerflich. Das alles durfte er sich mit einigem Zutrauen selbst bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, dass es ihm an Erfahrung fehle, und er legte daher auf die Erfahrung anderer und auf die Resultate, die sie daraus mit ?berzeugung ableiteten, einen ?berm?ssigen Wert und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Was ihm fehlte, glaubte er am ersten zu erwerben, wenn er alles Denkw?rdige, was ihm in B?chern und im Gespr?ch vorkommen mochte, zu erhalten und zu sammeln untern?hme. Er schrieb daher fremde und eigene Meinungen und Ideen, ja ganze Gespr?che, die ihm interessant waren, auf und hielt leider auf diese Weise das Falsche so gut als das Wahre fest, blieb viel zu lange an einer Idee, ja man m?chte sagen an einer Sentenz h?ngen und verliess dabei seine nat?rliche Denk- und Handelsweise, indem er oft fremden Lichtern als Leitsternen folgte. Aureliens Bitterkeit und seines Freundes Laertes kalte Verachtung der Menschen bestachen ?fter als billig war sein Urteil: niemand aber war ihm gef?hrlicher gewesen als Jarno, ein Mann, dessen heller Verstand von gegenw?rtigen Dingen ein richtiges, strenges Urteil f?llte, dabei aber den Fehler hatte, dass er diese einzelnen Urteile mit einer Art von Allgemeinheit aussprach, da doch die Ausspr?che des Verstandes eigentlich nur einmal, und zwar in dem bestimmtesten Falle gelten und schon unrichtig werden, wenn man sie auf den n?chsten anwendet.
So entfernte sich Wilhelm, indem er mit sich selbst einig zu werden strebte, immer mehr von der heilsamen Einheit, und bei dieser Verwirrung ward es seinen Leidenschaften um so leichter, alle Zur?stungen zu ihrem Vorteil zu gebrauchen und ihn ?ber das, was er zu tun hatte, nur noch mehr zu verwirren.
Serlo benutzte die Todespost zu seinem Vorteil, und wirklich hatte er auch t?glich immer mehr Ursache, an eine andere Einrichtung seines Schauspiels zu denken. Er musste entweder seine alten Kontrakte erneuern, wozu er keine grosse Lust hatte, indem mehrere Mitglieder, die sich f?r unentbehrlich hielten, t?glich unleidlicher wurden; oder er musste, wohin auch sein Wunsch ging, der Gesellschaft eine ganz neue Gestalt geben.
Ohne selbst in Wilhelmen zu dringen, regte er Aurelien und Philinen auf; und die ?brigen Gesellen, die sich nach Engagement sehnten, liessen unserm Freunde gleichfalls keine Ruhe, so dass er mit ziemlicher Verlegenheit an einem Scheidewege stand. Wer h?tte gedacht, dass ein Brief von Wernern, der ganz im entgegengesetzten Sinne geschrieben war, ihn endlich zu einer Entschliessung hindr?ngen sollte. Wir lassen nur den Eingang weg und geben ?brigens das Schreiben mit weniger Ver?nderung.
Zweites Kapitel
"--So war es, und so muss es denn auch wohl recht sein, dass jeder bei jeder Gelegenheit seinem Gewerbe nachgeht und seine T?tigkeit zeigt. Der gute Alte war kaum verschieden, als auch in der n?chsten Viertelstunde schon nichts mehr nach seinem Sinne im Hause geschah. Freunde, Bekannte und Verwandte dr?ngten sich zu, besonders aber alle Menschenarten, die bei solchen Gelegenheiten etwas zu gewinnen haben. Man brachte, man trug, man zahlte, schrieb und rechnete; die einen holten Wein und Kuchen, die andern tranken und assen; niemanden sah ich aber ernsthafter besch?ftigt als die Weiber, indem sie die Trauer aussuchten.
Du wirst mir also verzeihen, mein Lieber, wenn ich bei dieser Gelegenheit auch an meinen Vorteil dachte, mich deiner Schwester so hilfreich und t?tig als m?glich zeigte und ihr, sobald es nur einigermassen schicklich war, begreiflich machte, dass es nunmehr unsre Sache sei, eine Verbindung zu beschleunigen, die unsre V?ter aus allzugrosser Umst?ndlichkeit bisher verz?gert hatten.
Nun musst du aber ja nicht denken, dass es uns eingefallen sei, das grosse, leere Haus in Besitz zu nehmen. Wir sind bescheidner und vern?nftiger; unsern Plan sollst du h?ren. Deine Schwester zieht nach der Heirat gleich in unser Haus her?ber, und sogar auch deine Mutter mit.
"Wie ist das m?glich?" wirst du sagen; "ihr habt ja selbst in dem Neste kaum Platz." Das ist eben die Kunst, mein Freund! Die geschickte Einrichtung macht alles m?glich, und du glaubst nicht, wieviel Platz man findet, wenn man wenig Raum braucht. Das grosse Haus verkaufen wir, wozu sich sogleich eine gute Gelegenheit darbietet; das daraus gel?ste Geld soll hundertf?ltige Zinsen tragen.
Ich hoffe, du bist damit einverstanden, und w?nsche, dass du nichts von den unfruchtbaren Liebhabereien deines Vaters und Grossvaters geerbt haben m?gest. Dieser setzte seine h?chste Gl?ckseligkeit in eine Anzahl unscheinbarer Kunstwerke, die niemand, ich darf wohl sagen niemand, mit ihm geniessen konnte: jener lebte in einer kostbaren Einrichtung, die er niemand mit sich geniessen liess. Wir wollen es anders machen, und ich hoffe deine Beistimmung.
Es ist wahr, ich selbst behalte in unserm ganzen Hause keinen Platz als den an meinem Schreibepulte, und noch seh ich nicht ab, wo man k?nftig eine Wiege hinsetzen will; aber daf?r ist der Raum ausser dem Hause desto gr?sser. Die Kaffeeh?user und Klubs f?r den Mann, die Spazierg?nge und Spazierfahrten f?r die Frau, und die sch?nen Lust?rter auf dem Lande f?r beide. Dabei ist der gr?sste Vorteil, dass auch unser runder Tisch ganz besetzt ist und es dem Vater unm?glich wird, Freunde zu sehen, die sich nur desto leichtfertiger ?ber ihn aufhalten, je mehr er sich M?he gegeben hat, sie zu bewirten.
Nur nichts ?berfl?ssiges im Hause! nur nicht zu viel M?beln, Ger?tschaften, nur keine Kutsche und Pferde! Nichts als Geld, und dann auf eine vern?nftige Weise jeden Tag getan, was dir beliebt. Nur keine Garderobe, immer das Neueste und Beste auf dem Leibe; der Mann mag seinen Rock abtragen und die Frau den ihrigen vertr?deln, sobald er nur einigermassen aus der Mode k?mmt. Es ist mir nichts unertr?glicher als so ein alter Kram von Besitztum. Wenn man mir den kostbarsten Edelstein schenken wollte mit der Bedingung, ihn t?glich am Finger zu tragen, ich w?rde ihn nicht annehmen; denn wie l?sst sich bei einem toten Kapital nur irgendeine Freude denken? Das ist also mein lustiges Glaubensbekenntnis: seine Gesch?fte verrichtet, Geld geschafft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die ?brige Welt sich nicht mehr bek?mmert, als insofern man sie nutzen kann.
Nun wirst du aber sagen: wie ist denn in eurem saubern Plane an mich gedacht? Wo soll ich unterkommen, wenn ihr mir das v?terliche Haus verkauft und in dem eurigen nicht der mindeste Raum ?brigbleibt?'
Das ist freilich der Hauptpunkt, Br?derchen, und auf den werde ich dir gleich dienen k?nnen, wenn ich dir vorher das geb?hrende Lob ?ber deine vortrefflich angewendete Zeit werde entrichtet haben.
Sage nur, wie hast du es angefangen, in so wenigen Wochen ein Kenner aller n?tzlichen und interessanten Gegenst?nde zu werden? Soviel F?higkeiten ich an dir kenne, h?tte ich dir doch solche Aufmerksamkeit und solchen Fleiss nicht zugetraut. Dein Tagebuch hat uns ?berzeugt, mit welchem Nutzen du die Reise gemacht hast; die Beschreibung der Eisen- und Kupferh?mmer ist vortrefflich und zeigt von vieler Einsicht in die Sache. Ich habe sie ehemals auch besucht; aber meine Relation, wenn ich sie dagegenhalte, sieht sehr st?mperm?ssig aus. Der ganze Brief ?ber die Leinwandfabrikation ist lehrreich und die Anmerkung ?ber die Konkurrenz sehr treffend. An einigen Orten hast du Fehler in der Addition gemacht, die jedoch sehr verzeihlich sind.
Was aber mich und meinen Vater am meisten und h?chsten freut, sind deine gr?ndlichen Einsichten in die Bewirtschaftung und besonders in die Verbesserung der Feldg?ter. Wir haben Hoffnung, ein grosses Gut, das in Sequestration liegt, in einer sehr fruchtbaren Gegend zu erkaufen. Wir wenden das Geld, das wir aus dem v?terlichen Hause l?sen, dazu an; ein Teil wird geborgt, und ein Teil kann stehenbleiben; und wir rechnen auf dich, dass du dahin ziehst, den Verbesserungen vorstehst, und so kann, um nicht zuviel zu sagen, das Gut in einigen Jahren um ein Drittel an Wert steigen; man verkauft es wieder, sucht ein gr?sseres, verbessert und handelt wieder, und dazu bist du der Mann. Unsere Federn sollen indes zu Hause nicht m?ssig sein, und wir wollen uns bald in einen beneidenswerten Zustand versetzen.
Jetzt lebe wohl! Geniesse das Leben auf der Reise und ziehe hin, wo du es vergn?glich und n?tzlich findest. Vor dem ersten halben Jahre bed?rfen wir deiner nicht; du kannst dich also nach Belieben in der Welt umsehen: denn die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen. Lebe wohl, ich freue mich, so nahe mit dir verbunden, auch nunmehr im Geist der T?tigkeit mit dir vereint zu werden."
So gut dieser Brief geschrieben war und soviel ?konomische Wahrheiten er enthalten mochte, missfiel er doch Wilhelmen auf mehr als eine Weise. Das Lob, das er ?ber seine fingierten statistischen, technologischen und ruralischen Kenntnisse erhielt, war ihm ein stiller Vorwurf; und das Ideal, das ihm sein Schwager vom Gl?ck des b?rgerlichen Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs; vielmehr ward er durch einen heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die entgegengesetzte Seite getrieben. Er ?berzeugte sich, dass er nur auf dem Theater die Bildung, die er sich zu geben w?nschte, vollenden k?nne, und schien in seinem Entschlusse nur desto mehr best?rkt zu werden, je lebhafter Werner, ohne es zu wissen, sein Gegner geworden war. Er fasste darauf alle seine Argumente zusammen und best?tigte bei sich seine Meinung nur um desto mehr, je mehr er Ursache zu haben glaubte, sie dem klugen Werner in einem g?nstigen Lichte darzustellen, und auf diese Weise entstand eine Antwort, die wir gleichfalls einr?cken.
Drittes Kapitel
"Dein Brief ist so wohl geschrieben und so gescheit und klug gedacht, dass sich nichts mehr dazusetzen l?sst. Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich sage, dass man gerade das Gegenteil davon meinen, behaupten und tun und doch auch recht haben kann. Deine Art, zu sein und zu denken, geht auf einen unbeschr?nkten Besitz und auf eine leichte, lustige Art zu geniessen hinaus, und ich brauche dir kaum zu sagen, dass ich daran nichts, was mich reizte, finden kann.
Zuerst muss ich dir leider bekennen, dass mein Tagebuch aus Not, um meinem Vater gef?llig zu sein, mit H?lfe eines Freundes aus mehreren B?chern zusammengeschrieben ist und dass ich wohl die darin enthaltenen Sachen und noch mehrere dieser Art weiss, aber keineswegs verstehe noch mich damit abgeben mag. Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Inneres voller Schlacken ist? und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber uneins bin?
Dass ich dir's mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich ebendiese Gesinnungen, nur dass mir die Mittel, die mir es m?glich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe mehr Welt gesehen, als du glaubst, und sie besser benutzt, als du denkst. Schenke deswegen dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne sein sollte.
W?re ich ein Edelmann, so w?re unser Streit bald abgetan; da ich aber nur ein B?rger bin, so muss ich einen eigenen Weg nehmen, und ich w?nsche, dass du mich verstehen m?gest. Ich weiss nicht, wie es in fremden L?ndern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung m?glich. Ein B?rger kann sich Verdienst erwerben und zur h?chsten Not seinen Geist ausbilden; seine Pers?nlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder T?r noch Tor verschlossen ist, zu einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen muss: so hat er Ursache, etwas auf sie zu halten und zu zeigen, dass er etwas auf sie h?lt. Eine gewisse feierliche Grazie bei gew?hnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen l?sst, dass er ?berall im Gleichgewicht steht. Er ist eine ?ffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme, je gehaltner und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto vollkommner ist er. Wenn er gegen Hohe und Niedre, gegen Freunde und Verwandte immer ebenderselbe bleibt, so ist nichts an ihm auszusetzen, man darf ihn nicht anders w?nschen. Er sei kalt, aber verst?ndig; verstellt, aber klug. Wenn er sich ?usserlich in jedem Momente seines Lebens zu beherrschen weiss, so hat niemand eine weitere Forderung an ihn zu machen, und alles ?brige, was er an und um sich hat, F?higkeit, Talent, Reichtum, alles scheinen nur Zugaben zu sein.
Nun denke dir irgendeinen B?rger, der an jene Vorz?ge nur einigen Anspruch zu machen ged?chte; durchaus muss es ihm misslingen, und er m?sste desto ungl?cklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art zu sein F?higkeit und Trieb gegeben h?tte.
Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm K?nige oder k?nig?hnliche Figuren erschaffen kann, so darf er ?berall mit einem stillen Bewusstsein vor seinesgleichen treten; er darf ?berall vorw?rtsdringen, anstatt dass dem B?rger nichts besser ansteht als das reine, stille Gef?hl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: "Was bist du?" sondern nur: "Was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis, welche F?higkeit, wieviel Verm?gen?" Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der B?rger durch seine Pers?nlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will, ist l?cherlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne F?higkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, dass in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein d?rfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles ?brige vernachl?ssigen muss.
An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmassung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der B?rger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst schuld; ob sich daran einmal etwas ?ndern wird und was sich ?ndern wird, bek?mmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken und wie ich mich selbst und das, was mir ein unerl?ssliches Bed?rfnis ist, rette und erreiche.
Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibes?bung viel gewonnen; ich habe viel von meiner gew?hnlichen Verlegenheit abgelegt und stelle mich so ziemlich dar. Ebenso habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, dass ich in Gesellschaften nicht missfalle. Nun leugne ich dir nicht, dass mein Trieb t?glich un?berwindlicher wird, eine ?ffentliche Person zu sein und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. Dazu k?mmt meine Neigung zur Dichtkunst und zu allem, was mit ihr in Verbindung steht, und das Bed?rfnis, meinen Geist und Geschmack auszubilden, damit ich nach und nach auch bei dem Genuss, den ich nicht entbehren kann, nur das Gute wirklich f?r gut, und das Sch?ne f?r sch?n halte. Du siehst wohl, dass das alles f?r mich nur auf dem Theater zu finden ist und dass ich mich in diesem einzigen Elemente nach Wunsch r?hren und ausbilden kann. Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut pers?nlich in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und K?rper m?ssen bei jeder Bem?hung gleichen Schritt gehen, und ich werde da so gut sein und scheinen k?nnen als irgend anderswo. Suche ich daneben noch Besch?ftigungen, so gibt es dort mechanische Qu?lereien genug, und ich kann meiner Geduld t?gliche ?bung verschaffen.
Disputiere mit mir nicht dar?ber; denn eh du mir schreibst, ist der Schritt schon geschehen. Wegen der herrschenden Vorurteile will ich meinen Namen ver?ndern, weil ich mich ohnehin sch?me, als Meister aufzutreten. Lebe wohl. Unser Verm?gen ist in so guter Hand, dass ich mich darum gar nicht bek?mmere; was ich brauche, verlange ich gelegentlich von dir; es wird nicht viel sein, denn ich hoffe, dass mich meine Kunst auch n?hren soll."
Der Brief war kaum abgeschickt, als Wilhelm auf der Stelle Wort hielt und zu Serlos und der ?brigen grossen Verwunderung sich auf einmal erkl?rte: dass er sich zum Schauspieler widme und einen Kontrakt auf billige Bedingungen eingehen wolle. Man war hier?ber bald einig, denn Serlo hatte schon fr?her sich so erkl?rt, dass Wilhelm und die ?brigen damit gar wohl zufrieden sein konnten. Die ganze verungl?ckte Gesellschaft, mit der wir uns so lange unterhalten haben, ward auf einmal angenommen, ohne dass jedoch, ausser etwa Laertes, sich einer gegen Wilhelmen dankbar erzeigt h?tte. Wie sie ohne Zutrauen gefordert hatten, so empfingen sie ohne Dank. Die meisten wollten lieber ihre Anstellung dem Einflusse Philinens zuschreiben und richteten ihre Danksagungen an sie. Indessen wurden die ausgefertigten Kontrakte unterschrieben, und durch eine unerkl?rliche Verkn?pfung von Ideen entstand vor Wilhelms Einbildungskraft in dem Augenblicke, als er seinen fingierten Namen unterzeichnete, das Bild jenes Waldplatzes, wo er verwundet in Philinens Schoss gelegen. Auf einem Schimmel kam die liebensw?rdige Amazone aus den B?schen, nahte sich ihm und stieg ab. Ihr menschenfreundliches Bem?hen hiess sie gehen und kommen; endlich stand sie vor ihm. Das Kleid fiel von ihren Schultern; ihr Gesicht, ihre Gestalt fing an zu gl?nzen, und sie verschwand. So schrieb er seinen Namen nur mechanisch hin, ohne zu wissen, was er tat, und f?hlte erst, nachdem er unterzeichnet hatte, dass Mignon an seiner Seite stand, ihn am Arm hielt und ihm die Hand leise wegzuziehen versucht hatte.
Viertes Kapitel
Eine der Bedingungen, unter denen Wilhelm sich aufs Theater begab, war von Serlo nicht ohne Einschr?nkung zugestanden worden. Jener verlangte, dass "Hamlet" ganz und unzerst?ckt aufgef?hrt werden sollte, und dieser liess sich das wunderliche Begehren insofern gefallen, als es m?glich sein w?rde. Nun hatten sie hier?ber bisher manchen Streit gehabt; denn was m?glich oder nicht m?glich sei und was man von dem St?ck weglassen k?nne, ohne es zu zerst?cken, dar?ber waren beide sehr verschiedener Meinung.
Wilhelm befand sich noch in den gl?cklichen Zeiten, da man nicht begreifen kann, dass an einem geliebten M?dchen, an einem verehrten Schriftsteller irgend etwas mangelhaft sein k?nne. Unsere Empfindung von ihnen ist so ganz, so mit sich selbst ?bereinstimmend, dass wir uns auch in ihnen eine solche vollkommene Harmonie denken m?ssen. Serlo hingegen sonderte gern und beinah zuviel; sein scharfer Verstand wollte in einem Kunstwerke gew?hnlich nur ein mehr oder weniger unvollkommenes Ganze erkennen. Er glaubte, so wie man die St?cke finde, habe man wenig Ursache, mit ihnen so gar bed?chtig umzugehen, und so musste auch Shakespeare, so musste besonders "Hamlet" vieles leiden.
Wilhelm wollte gar nicht h?ren, wenn jener von der Absonderung der Spreu von dem Weizen sprach. "Es ist nicht Spreu und Weizen durcheinander", rief dieser, "es ist ein Stamm, ?ste, Zweige, Bl?tter, Knospen, Bl?ten und Fr?chte. Ist nicht eins mit dem andern und durch das andere?" Jener behauptete, man bringe nicht den ganzen Stamm auf den Tisch; der K?nstler m?sse goldene ?pfel in silbernen Schalen seinen G?sten reichen. Sie ersch?pften sich in Gleichnissen, und ihre Meinungen schienen sich immer weiter voneinander zu entfernen.
Gar verzweifeln wollte unser Freund, als Serlo ihm einst nach langem Streit das einfachste Mittel anriet, sich kurz zu resolvieren, die Feder zu ergreifen und in dem Trauerspiele, was eben nicht gehen wolle noch k?nne, abzustreichen, mehrere Personen in eine zu dr?ngen, und wenn er mit dieser Art noch nicht bekannt genug sei oder noch nicht Herz genug dazu habe, so solle er ihm die Arbeit ?berlassen, und er wolle bald fertig sein.
"Das ist nicht unserer Abrede gem?ss", versetzte Wilhelm. "Wie k?nnen Sie bei soviel Geschmack so leichtsinnig sein?"
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