Read Ebook: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 5 by Goethe Johann Wolfgang Von
Font size:
Background color:
Text color:
Add to tbrJar First Page Next Page Prev Page
Ebook has 360 lines and 26118 words, and 8 pages
"Das ist nicht unserer Abrede gem?ss", versetzte Wilhelm. "Wie k?nnen Sie bei soviel Geschmack so leichtsinnig sein?"
"Mein Freund", rief Serlo aus, "Sie werden es auch schon werden. Ich kenne das Abscheuliche dieser Manier nur zu wohl, die vielleicht noch auf keinem Theater in der Welt stattgefunden hat. Aber wo ist auch eins so verwahrlost als das unsere? Zu dieser ekelhaften Verst?mmelung zwingen uns die Autoren, und das Publikum erlaubt sie. Wieviel St?cke haben wir denn, die nicht ?ber das Mass des Personals, der Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit, des Dialogs und der physischen Kr?fte des Akteurs hinausschritten? Und doch sollen wir spielen und immer spielen und immer neu spielen. Sollen wir uns dabei nicht unsers Vorteils bedienen, da wir mit zerst?ckelten Werken ebensoviel ausrichten als mit ganzen? Setzt uns das Publikum doch selbst in den Vorteil! Wenig Deutsche, und vielleicht nur wenige Menschen aller neuern Nationen haben Gef?hl f?r ein ?sthetisches Ganze; sie loben und tadeln nur stellenweise; sie entz?cken sich nur stellenweise: und f?r wen ist das ein gr?sseres Gl?ck als f?r den Schauspieler, da das Theater immer nur ein gestoppeltes und gest?ckeltes Wesen bleibt."
"Ist!" versetzte Wilhelm; "aber muss es denn auch so bleiben, muss denn alles bleiben, was ist? ?berzeugen Sie mich ja nicht, dass Sie recht haben; denn keine Macht in der Welt w?rde mich bewegen k?nnen, einen Kontrakt zu halten, den ich nur im gr?bsten Irrtum geschlossen h?tte."
Serlo gab der Sache eine lustige Wendung und ersuchte Wilhelmen, ihre ?ftern Gespr?che ?ber "Hamlet" nochmals zu bedenken und selbst die Mittel zu einer gl?cklichen Bearbeitung zu ersinnen.
Nach einigen Tagen, die er in der Einsamkeit zugebracht hatte, kam Wilhelm mit frohem Blicke zur?ck. "Ich m?sste mich sehr irren", rief er aus, "wenn ich nicht gefunden h?tte, wie dem Ganzen zu helfen ist; ja ich bin ?berzeugt, dass Shakespeare es selbst so w?rde gemacht haben, wenn sein Genie nicht auf die Hauptsache so sehr gerichtet und nicht vielleicht durch die Novellen, nach denen er arbeitete, verf?hrt worden w?re."
"Lassen Sie h?ren", sagte Serlo, indem er sich gravit?tisch aufs Kanapee setzte; "ich werde ruhig aufhorchen, aber auch desto strenger richten."
Wilhelm versetzte: "Mir ist nicht bange; h?ren Sie nur. Ich unterscheide nach der genausten Untersuchung, nach der reiflichsten ?berlegung in der Komposition dieses St?cks zweierlei: das erste sind die grossen innern Verh?ltnisse der Personen und der Begebenheiten, die m?chtigen Wirkungen, die aus den Charakteren und Handlungen der Hauptfiguren entstehen, und diese sind einzeln vortrefflich und die Folge, in der sie aufgestellt sind, unverbesserlich. Sie k?nnen durch keine Art von Behandlung zerst?rt, ja kaum verunstaltet werden. Diese sind's, die jedermann zu sehen verlangt, die niemand anzutasten wagt, die sich tief in die Seele eindr?cken und die man, wie ich h?re, beinahe alle auf das deutsche Theater gebracht hat. Nur hat man, wie ich glaube, darin gefehlt, dass man das zweite, was bei diesem St?ck zu bemerken ist, ich meine die ?ussern Verh?ltnisse der Personen, wodurch sie von einem Orte zum andern gebracht oder auf diese und jene Weise durch gewisse zuf?llige Begebenheiten verbunden werden, f?r allzu unbedeutend angesehen, nur im Vorbeigehn davon gesprochen oder sie gar weggelassen hat. Freilich sind diese F?den nur d?nn und lose, aber sie gehen doch durch's ganze St?ck und halten zusammen, was sonst auseinanderfiele, auch wirklich auseinanderf?llt, wenn man sie wegschneidet und ein ?briges getan zu haben glaubt, dass man die Enden stehenl?sst.
Zu diesen ?ussern Verh?ltnissen z?hle ich die Unruhen in Norwegen, den Krieg mit dem jungen Fortinbras, die Gesandtschaft an den alten Oheim, den geschlichteten Zwist, den Zug des jungen Fortinbras nach Polen und seine R?ckkehr am Ende; angleichen die R?ckkehr des Horatio von Wittenberg, die Lust Hamlets, dahin zu gehen, die Reise des Laertes nach Frankreich, seine R?ckkunft, die Verschickung Hamlets nach England, seine Gefangenschaft beim Seer?uber, der Tod der beiden Hofleute auf den Uriasbrief: alles dieses sind Umst?nde und Begebenheiten, die einen Roman weit und breit machen k?nnen, die aber der Einheit dieses St?cks, in dem besonders der Held keinen Plan hat, auf das ?usserste schaden und h?chst fehlerhaft sind."
"So h?re ich Sie einmal gerne!" rief Serlo.
"Fallen Sie mir nicht ein", versetzte Wilhelm, "Sie m?chten mich nicht immer loben. Diese Fehler sind wie fl?chtige St?tzen eines Geb?udes, die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher eine feste Mauer unterzuziehen. Mein Vorschlag ist also, an jenen ersten, grossen Situationen gar nicht zu r?hren, sondern sie sowohl im ganzen als einzelnen m?glichst zu schonen, aber diese ?ussern, einzelnen, zerstreuten und zerstreuenden Motive alle auf einmal wegzuwerfen und ihnen ein einziges zu substituieren."
"Und das w?re?" fragte Serlo, indem er sich aus seiner ruhigen Stellung aufhob.
"Es liegt auch schon im St?cke", erwiderte Wilhelm, "nur mache ich den rechten Gebrauch davon. Es sind die Unruhen in Norwegen. Hier haben Sie meinen Plan zur Pr?fung.
Nach dem Tode des alten Hamlet werden die erst eroberten Norweger unruhig. Der dortige Statthalter schickt seinen Sohn Horatio, einen alten Schulfreund Hamlets, der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit allen andern vorgelaufen ist, nach D?nemark, auf die Ausr?stung der Flotte zu dringen, welche unter dem neuen, der Schwelgerei ergebenen K?nig nur saumselig vonstatten geht. Horatio kennt den alten K?nig, denn er hat seinen letzten Schlachten beigewohnt, hat bei ihm in Gunsten gestanden, und die erste Geisterszene wird dadurch nicht verlieren. Der neue K?nig gibt sodann dem Horatio Audienz und schickt den Laertes nach Norwegen mit der Nachricht, dass die Flotte bald anlanden werde, indes Horatio den Auftrag erh?lt, die R?stung derselben zu beschleunigen; dagegen will die Mutter nicht einwilligen, dass Hamlet, wie er w?nschte, mit Horatio zur See gehe."
"Gott sei Dank!" rief Serlo, "so werden wir auch Wittenberg und die hohe Schule los, die mir immer ein leidiger Anstoss war. Ich finde Ihren Gedanken recht gut: denn ausser den zwei einzigen fernen Bildern, Norwegen und der Flotte, braucht der Zuschauer sich nichts zu denken; das ?brige sieht er alles, das ?brige geht alles vor, anstatt dass sonst seine Einbildungskraft in der ganzen Welt herumgejagt w?rde."
"Sie sehen leicht", versetzte Wilhelm, "wie ich nunmehr auch das ?brige zusammenhalten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die Missetat seines Stiefvaters entdeckt, so r?t ihm dieser, mit nach Norwegen zu gehen, sich der Armee zu versichern und mit gewaffneter Hand zur?ckzukehren. Da Hamlet dem K?nig und der K?nigin zu gef?hrlich wird, haben sie kein n?heres Mittel, ihn loszuwerden, als ihn nach der Flotte zu schicken und ihm Rosenkranz und G?ldenstern zu Beobachtern mitzugeben; und da indes Laertes zur?ckkommt, soll dieser bis zum Meuchelmord erhitzte J?ngling ihm nachgeschickt werden. Die Flotte bleibt wegen ung?nstigen Windes liegen; Hamlet kehrt nochmals zur?ck, seine Wanderung ?ber den Kirchhof kann vielleicht gl?cklich motiviert werden; sein Zusammentreffen mit Laertes in Opheliens Grabe ist ein grosser, unentbehrlicher Moment. Hierauf mag der K?nig bedenken, dass es besser sei, Hamlet auf der Stelle loszuwerden; das Fest der Abreise, der scheinbaren Vers?hnung mit Laertes wird nun feierlich begangen, wobei man Ritterspiele h?lt und auch Hamlet und Laertes fechten. Ohne die vier Leichen kann ich das St?ck nicht schliessen; es darf niemand ?brigbleiben. Hamlet gibt, da nun das Wahlrecht des Volks wieder eintritt, seine Stimme sterbend dem Horatio."
"Nur geschwind", versetzte Serlo, "setzen Sie sich hin und arbeiten das St?ck aus; die Idee hat v?llig meinen Beifall; nur dass die Lust nicht verraucht."
F?nftes Kapitel
Wilhelm hatte sich schon lange mit einer ?bersetzung "Hamlets" abgegeben; er hatte sich dabei der geistvollen Wielandschen Arbeit bedient, durch die er ?berhaupt Shakespearen zuerst kennenlernte. Was in derselben ausgelassen war, f?gte er hinzu, und so war er im Besitz eines vollst?ndigen Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo ?ber die Behandlung so ziemlich einig geworden war. Er fing nun an, nach seinem Plane auszuheben und einzuschieben, zu trennen und zu verbinden, zu ver?ndern und oft wiederherzustellen; denn so zufrieden er auch mit seiner Idee war, so schien ihm doch bei der Ausf?hrung immer, dass das Original nur verdorben werde.
Sobald er fertig war, las er es Serlo und der ?brigen Gesellschaft vor. Sie bezeugten sich sehr zufrieden damit; besonders machte Serlo manche g?nstige Bemerkung.
"Sie haben", sagte er unter anderm, "sehr richtig empfunden, dass ?ussere Umst?nde dieses St?ck begleiten, aber einfacher sein m?ssen, als sie uns der grosse Dichter gegeben hat. Was ausser dem Theater vorgeht, was der Zuschauer nicht sieht, was er sich vorstellen muss, ist wie ein Hintergrund, vor dem die spielenden Figuren sich bewegen. Die grosse, einfache Aussicht auf die Flotte und Norwegen wird dem St?cke sehr gut tun; n?hme man sie ganz weg, so ist es nur eine Familienszene, und der grosse Begriff, dass hier ein ganzes k?nigliches Haus durch innere Verbrechen und Ungeschicklichkeiten zugrunde geht, wird nicht in seiner ganzen W?rde dargestellt. Bliebe aber jener Hintergrund selbst mannigfaltig, beweglich, konfus: so t?te er dem Eindrucke der Figuren Schaden."
Wilhelm nahm nun wieder die Partie Shakespeares und zeigte, dass er f?r Insulaner geschrieben habe, f?r Engl?nder, die selbst im Hintergrunde nur Schiffe und Seereisen, die K?ste von Frankreich und Kaper zu sehen gewohnt sind, und dass, was jenen etwas ganz Gew?hnliches sei, uns schon zerstreue und verwirre.
Serlo musste nachgeben, und beide stimmten darin ?berein, dass, da das St?ck nun einmal auf das deutsche Theater solle, dieser ernstere, einfachere Hintergrund f?r unsre Vorstellungsart am besten passen werde.
Die Rollen hatte man schon fr?her ausgeteilt; den Polonius ?bernahm Serlo; Aurelie Ophelien; Laertes war durch seinen Namen schon bezeichnet; ein junger, untersetzter, muntrer, neuangekommener J?ngling erhielt die Rolle des Horatio; nur wegen des K?nigs und des Geistes war man in einiger Verlegenheit. F?r beide Rollen war nur der alte Polterer da. Serlo schlug den Pedanten zum K?nige vor; wogegen Wilhelm aber aufs ?usserste protestierte. Man konnte sich nicht entschliessen.
Ferner hatte Wilhelm in seinem St?cke die beiden Rollen von Rosenkranz und G?ldenstern stehenlassen. "Warum haben Sie diese nicht in eine verbunden?" fragte Serlo, "diese Abbreviatur ist doch so leicht gemacht."
"Gott bewahre mich vor solchen Verk?rzungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben!" versetzte Wilhelm. "Das, was diese beiden Menschen sind und tun, kann nicht durch einen vorgestellt werden. In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespeares Gr?sse. Dieses leise Auftreten, dieses Schmiegen und Biegen, dies Jasagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dies Schw?nzeln, diese Allheit und Leerheit, diese rechtliche Schurkerei, diese Unf?higkeit, wie kann sie durch einen Menschen ausgedr?ckt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend sein, wenn man sie haben k?nnte; denn sie sind bloss in Gesellschaft etwas, sie sind die Gesellschaft, und Shakespeare war sehr bescheiden und weise, dass er nur zwei solche Repr?sentanten auftreten liess. ?berdies brauche ich sie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit dem einen, guten, trefflichen Horatio kontrastiert."
"Ich verstehe Sie", sagte Serlo, "und wir k?nnen uns helfen. Den einen geben wir Elmiren ; es kann nicht schaden, wenn sie gut aussehen, und ich will die Puppen putzen und dressieren, dass es eine Lust sein soll."
Philine freute sich ausserordentlich, dass sie die Herzogin in der kleinen Kom?die spielen sollte. "Das will ich so nat?rlich machen", rief sie aus, "wie man in der Geschwindigkeit einen zweiten heiratet, nachdem man den ersten ganz ausserordentlich geliebt hat. Ich hoffe mir den gr?ssten Beifall zu erwerben, und jeder Mann soll w?nschen, der dritte zu werden."
Aurelie machte ein verdriessliches Gesicht bei diesen ?usserungen; ihr Widerwille gegen Philinen nahm mit jedem Tage zu.
"Es ist recht schade", sagte Serlo, "dass wir kein Ballett haben; sonst sollten Sie mir mit Ihrem ersten und zweiten Manne ein Pas de deux tanzen, und der Alte sollte nach dem Takt einschlafen, und Ihre F?sschen und W?dchen w?rden sich dort hinten auf dem Kindertheater ganz allerliebst ausnehmen."
"Von meinen W?dchen wissen Sie ja wohl nicht viel", versetzte sie schnippisch, "und was meine F?sschen betrifft", rief sie, indem sie schnell unter den Tisch reichte, ihre Pant?ffelchen heraufholte und nebeneinander vor Serlo hinstellte: "hier sind die Stelzchen, und ich gebe Ihnen auf, niedlichere zu finden."
"Es war Ernst!" sagte er, als er die zierlichen Halbschuhe betrachtete. Gewiss, man konnte nicht leicht etwas Artigers sehen.
Sie waren Pariser Arbeit; Philine hatte sie von der Gr?fin zum Geschenk erhalten, einer Dame, deren sch?ner Fuss ber?hmt war.
"Ein reizender Gegenstand!" rief Serlo, "das Herz h?pft mir, wenn ich sie ansehe."
"Welche Verzuckungen!" sagte Philine.
"Es geht nichts ?ber ein Paar Pant?ffelchen von so feiner, sch?ner Arbeit", rief Serlo; "doch ist ihr Klang noch reizender als ihr Anblick." Er hub sie auf und liess sie einigemal hintereinander wechselsweise auf den Tisch fallen.
"Was soll das heissen? Nur wieder her damit!" rief Philine.
"Darf ich sagen", versetzte er mit verstellter Bescheidenheit und schalkhaftem Ernst, "wir andern Junggesellen, die wir nachts meist allein sind und uns doch wie andre Menschen f?rchten und im Dunkeln uns nach Gesellschaft sehnen, besonders in Wirtsh?usern und fremden Orten, wo es nicht ganz geheuer ist, wir finden es gar tr?stlich, wenn ein gutherziges Kind uns Gesellschaft und Beistand leisten will. Es ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die T?re tut sich auf, man erkennt ein liebes, pisperndes Stimmchen, es schleicht was herbei, die Vorh?nge rauschen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein. Ach der liebe, der einzige Klang, wenn die Abs?tzchen auf den Boden aufschlagen! Je zierlicher sie sind, je feiner klingt's. Man spreche mir von Philomelen, von rauschenden B?chen, vom S?useln der Winde und von allem, was je georgelt und gepfiffen worden ist, ich halte mich an das Klipp! Klapp!--Klipp! Klapp! ist das sch?nste Thema zu einem Rondeau, das man immer wieder von vorne zu h?ren w?nscht."
Philine nahm ihm die Pantoffeln aus den H?nden und sagte: "Wie ich sie krummgetreten habe! Sie sind mir viel zu weit." Dann spielte sie damit und rieb die Sohlen gegeneinander. "Was das heiss wird!" rief sie aus, indem sie die eine Sohle flach an die Wange hielt, dann wieder rieb und sie gegen Serlo hinreichte. Er war gutm?tig genug, nach der W?rme zu f?hlen, und "Klipp! Klapp!" rief sie, indem sie ihm einen derben Schlag mit dem Absatz versetzte, dass er schreiend die Hand zur?ckzog. "Ich will euch lehren, bei meinen Pantoffeln was anders denken!" sagte Philine lachend.
"Und ich will dich lehren, alte Leute wie Kinder anf?hren!" rief Serlo dagegen, sprang auf, fasste sie mit Heftigkeit und raubte ihr manchen Kuss, deren jeden sie sich mit ernstlichem Widerstreben gar k?nstlich abzwingen liess. ?ber dem Balgen fielen ihre langen Haare herunter und wickelten sich um die Gruppe, der Stuhl schlug an den Boden, und Aurelie, die von diesem Unwesen innerlich beleidigt war, stand mit Verdruss auf.
Sechstes Kapitel
Obgleich bei der neuen Bearbeitung "Hamlets" manche Personen weggefallen waren, so blieb die Anzahl derselben doch immer noch gross genug, und fast wollte die Gesellschaft nicht hinreichen.
"Wenn das so fortgeht", sagte Serlo, "wird unser Souffleur auch noch aus dem Loche hervorsteigen m?ssen, unter uns wandeln und zur Person werden."
"Schon oft habe ich ihn an seiner Stelle bewundert", versetzte Wilhelm.
"Ich glaube nicht, dass es einen vollkommenern Einhelfer gibt", sagte Serlo. "Kein Zuschauer wird ihn jemals h?ren; wir auf dem Theater verstehen jede Silbe. Er hat sich gleichsam ein eigen Organ dazu gemacht und ist wie ein Genius, der uns in der Not vernehmlich zulispelt. Er f?hlt, welchen Teil seiner Rolle der Schauspieler vollkommen innehat, und ahnet von weitem, wenn ihn das Ged?chtnis verlassen will. In einigen F?llen, da ich die Rolle kaum ?berlesen konnte, da er sie mir Wort vor Wort vorsagte, spielte ich sie mit Gl?ck; nur hat er Sonderbarkeiten, die jeden andern unbrauchbar machen w?rden: er nimmt so herzlichen Anteil an den St?cken, dass er pathetische Stellen nicht eben deklamiert, aber doch affektvoll rezitiert. Mit dieser Unart hat er mich mehr als einmal irregemacht."
"So wie er mich", sagte Aurelie, "mit einer andern Sonderbarkeit einst an einer sehr gef?hrlichen Stelle steckenliess."
"Wie war das bei seiner Aufmerksamkeit m?glich?" fragte Wilhelm.
"Er wird", versetzte Aurelie, "bei gewissen Stellen so ger?hrt, dass er heisse Tr?nen weint und einige Augenblicke ganz aus der Fassung kommt; und es sind eigentlich nicht die sogenannten r?hrenden Stellen, die ihn in diesen Zustand versetzen; es sind, wenn ich mich deutlich ausdr?cke, die sch?nen Stellen, aus welchen der reine Geist des Dichters gleichsam aus hellen, offenen Augen hervorsieht, Stellen, bei denen wir andern uns nur h?chstens freuen und wor?ber viele Tausende wegsehen."
"Und warum erscheint er mit dieser zarten Seele nicht auf dem Theater?"
"Ein heiseres Organ und ein steifes Betragen schliessen ihn von der B?hne und seine hypochondrische Natur von der Gesellschaft aus", versetzte Serlo. "Wieviel M?he habe ich mir gegeben, ihn an mich zu gew?hnen! aber vergebens. Er liest vortrefflich, wie ich nicht wieder habe lesen h?ren; niemand h?lt wie er die zarte Grenzlinie zwischen Deklamation und affektvoller Rezitation."
"Gefunden!" rief Wilhelm, "gefunden! Welch eine gl?ckliche Entdeckung! Nun haben wir den Schauspieler, der uns die Stelle vom rauhen Pyrrhus rezitieren soll."
"Man muss so viel Leidenschaft haben wie Sie", versetzte Serlo, "um alles zu seinem Endzwecke zu nutzen."
Add to tbrJar First Page Next Page Prev Page