Read Ebook: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 6 by Goethe Johann Wolfgang Von
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Ebook has 222 lines and 23449 words, and 5 pages
#18 in our series by Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 6 by Johann Wolfgang von Goethe
September, 2000
Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 6
Johann Wolfgang von Goethe
Sechstes Buch
Bekenntnisse einer sch?nen Seele
Bis in mein achtes Jahr war ich ein ganz gesundes Kind, weiss mich aber von dieser Zeit so wenig zu erinnern als von dem Tage meiner Geburt. Mit dem Anfange des achten Jahres bekam ich einen Blutsturz, und in dem Augenblick war meine Seele ganz Empfindung und Ged?chtnis. Die kleinsten Umst?nde dieses Zufalls stehn mir noch vor Augen, als h?tte er sich gestern ereignet.
W?hrend des neunmonatlichen Krankenlagers, das ich mit Geduld aushielt, ward, so wie mich d?nkt, der Grund zu meiner ganzen Denkart gelegt, indem meinem Geiste die ersten H?lfsmittel gereicht wurden, sich nach seiner eigenen Art zu entwickeln.
Ich litt und liebte, das war die eigentliche Gestalt meines Herzens. In dem heftigsten Husten und abmattenden Fieber war ich stille wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zieht; sobald ich ein wenig Luft hatte, wollte ich etwas Angenehmes f?hlen, und da mir aller ?brige Genuss versagt war, suchte ich mich durch Augen und Ohren schadlos zu halten. Man brachte mir Puppenwerk und Bilderb?cher, und wer Sitz an meinem Bette haben wollte, musste mir etwas erz?hlen.
Von meiner Mutter h?rte ich die biblischen Geschichten gern an; der Vater unterhielt mich mit Gegenst?nden der Natur. Er besass ein artiges Kabinett. Davon brachte er gelegentlich eine Schublade nach der andern herunter, zeigte mir die Dinge und erkl?rte sie mir nach der Wahrheit. Getrocknete Pflanzen und Insekten und manche Arten von anatomischen Pr?paraten, Menschenhaut, Knochen, Mumien und dergleichen kamen auf das Krankenbette der Kleinen; V?gel und Tiere, die er auf der Jagd erlegte, wurden mir vorgezeigt, ehe sie nach der K?che gingen; und damit doch auch der F?rst der Welt eine Stimme in dieser Versammlung behielte, erz?hlte mir die Tante Liebesgeschichten und Feenm?rchen. Alles ward angenommen, und alles fasste Wurzel. Ich hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit dem unsichtbaren Wesen unterhielt; ich weiss noch einige Verse, die ich der Mutter damals in die Feder diktierte.
Oft erz?hlte ich dem Vater wieder, was ich von ihm gelernt hatte. Ich nahm nicht leicht eine Arzenei, ohne zu fragen: "Wo wachsen die Dinge, aus denen sie gemacht ist? wie sehen sie aus? wie heissen sie?" Aber die Erz?hlungen meiner Tante waren auch nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte mich in sch?ne Kleider und begegnete den allerliebsten Prinzen, die nicht ruhen noch rasten konnten, bis sie wussten, wer die unbekannte Sch?ne war. Ein ?hnliches Abenteuer mit einem reizenden kleinen Engel, der in weissem Gewand und goldnen Fl?geln sich sehr um mich bem?hte, setzte ich so lange fort, dass meine Einbildungskraft sein Bild fast bis zur Erscheinung erh?hte.
Nach Jahresfrist war ich ziemlich wiederhergestellt; aber es war mir aus der Kindheit nichts Wildes ?briggeblieben. Ich konnte nicht einmal mit Puppen spielen, ich verlangte nach Wesen, die meine Liebe erwiderten. Hunde, Katzen und V?gel, dergleichen mein Vater von allen Arten ern?hrte, vergn?gten mich sehr; aber was h?tte ich nicht gegeben, ein Gesch?pf zu besitzen, das in einem der M?rchen meiner Tante eine sehr wichtige Rolle spielte. Es war ein Sch?fchen, das von einem Bauerm?dchen in dem Walde aufgefangen und ern?hrt worden war, aber in diesem artigen Tiere stak ein verw?nschter Prinz, der sich endlich wieder als sch?ner J?ngling zeigte und seine Wohlt?terin durch seine Hand belohnte. So ein Sch?fchen h?tte ich gar zu gerne besessen!
Nun wollte sich aber keines finden, und da alles neben mir so ganz nat?rlich zuging, musste mir nach und nach die Hoffnung auf einen so k?stlichen Besitz fast vergehen. Unterdessen tr?stete ich mich, indem ich solche B?cher las, in denen wunderbare Begebenheiten beschrieben wurden. Unter allen war mir der "Christliche deutsche Herkules" der liebste; die and?chtige Liebesgeschichte war ganz nach meinem Sinne. Begegnete seiner Valiska irgend etwas, und es begegneten ihr grausame Dinge, so betete er erst, eh er ihr zu H?lfe eilte, und die Gebete standen ausf?hrlich im Buche. Wie wohl gefiel mir das! Mein Hang zu dem Unsichtbaren, den ich immer auf eine dunkle Weise f?hlte, ward dadurch nur vermehrt; denn ein f?r allemal sollte Gott auch mein Vertrauter sein.
Als ich weiter heranwuchs, las ich, der Himmel weiss was, alles durcheinander; aber die "R?mische Oktavia" behielt vor allen den Preis. Die Verfolgungen der ersten Christen, in einen Roman gekleidet, erregten bei mir das lebhafteste Interesse.
Nun fing die Mutter an, ?ber das stete Lesen zu schm?len; der Vater nahm ihr zuliebe mir einen Tag die B?cher aus der Hand und gab sie mir den andern wieder. Sie war klug genug zu bemerken, dass hier nichts auszurichten war, und drang nur darauf, dass auch die Bibel ebenso fleissig gelesen wurde. Auch dazu liess ich mich nicht treiben, und ich las die heiligen B?cher mit vielem Anteil. Dabei war meine Mutter immer sorgf?ltig, dass keine verf?hrerischen B?cher in meine H?nde k?men, und ich selbst w?rde jede sch?ndliche Schrift aus der Hand geworfen haben; denn meine Prinzen und Prinzessinnen waren alle ?usserst tugendhaft, und ich wusste ?brigens von der nat?rlichen Geschichte des menschlichen Geschlechts mehr, als ich merken liess, und hatte es meistens aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen hielt ich mit Worten und Dingen, die mir vor Augen kamen, zusammen und brachte bei meiner Wissbegierde und Kombinationsgabe die Wahrheit gl?cklich heraus. H?tte ich von Hexen geh?rt, so h?tte ich auch mit der Hexerei bekannt werden m?ssen.
Meiner Mutter und dieser Wissbegierde hatte ich es zu danken, dass ich bei dem heftigen Hang zu B?chern doch kochen lernte; aber dabei war etwas zu sehen. Ein Huhn, ein Ferkel aufzuschneiden war f?r mich ein Fest. Dem Vater brachte ich die Eingeweide, und er redete mit mir dar?ber wie mit einem jungen Studenten und pflegte mich oft mit inniger Freude seinen missratenen Sohn zu nennen.
Nun war das zw?lfte Jahr zur?ckgelegt. Ich lernte Franz?sisch, Tanzen und Zeichnen und erhielt den gew?hnlichen Religionsunterricht. Bei dem letzten wurden manche Empfindungen und Gedanken rege, aber nichts, was sich auf meinen Zustand bezogen h?tte. Ich h?rte gern von Gott reden, ich war stolz darauf, besser als meinesgleichen von ihm reden zu k?nnen; ich las nun mit Eifer manche B?cher, die mich in den Stand setzten, von Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so gestaltet sei, ob sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne widergl?nzen k?nnte; das hatte ich ein f?r allemal schon vorausgesetzt.
Franz?sisch lernte ich mit vieler Begierde. Mein Sprachmeister war ein wackerer Mann. Er war nicht ein leichtsinniger Empiriker, nicht ein trocknet Grammatiker; er hatte Wissenschaften, er hatte die Welt gesehen. Zugleich mit dem Sprachunterrichte s?ttigte er meine Wissbegierde auf mancherlei Weise. Ich liebte ihn so sehr, dass ich seine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeichnen fiel mir nicht schwer, und ich w?rde es weiter gebracht haben, wenn mein Meister Kopf und Kenntnisse gehabt h?tte; er hatte aber nur H?nde und ?bung.
Tanzen war anfangs nur meine geringste Freude; mein K?rper war zu empfindlich, und ich lernte nur in der Gesellschaft meiner Schwester. Durch den Einfall unsers Tanzmeisters, allen seinen Sch?lern und Sch?lerinnen einen Ball zu geben, ward aber die Lust zu dieser ?bung ganz anders belebt.
Unter vielen Knaben und M?dchen zeichneten sich zwei S?hne des Hofmarschalls aus: der j?ngste so alt wie ich, der andere zwei Jahre ?lter, Kinder von einer solchen Sch?nheit, dass sie nach dem allgemeinen Gest?ndnis alles ?bertrafen, was man je von sch?nen Kindern gesehen hatte. Auch ich hatte sie kaum erblickt, so sah ich niemand mehr vom ganzen Haufen. In dem Augenblicke tanzte ich mit Aufmerksamkeit und w?nschte sch?n zu tanzen. Wie es kam, dass auch diese Knaben unter allen andern mich vorz?glich bemerkten?--Genug, in der ersten Stunde waren wir die besten Freunde, und die kleine Lustbarkeit ging noch nicht zu Ende, so hatten wir schon ausgemacht, wo wir uns n?chstens wiedersehen wollten. Eine grosse Freude f?r mich! Aber ganz entz?ckt war ich, als beide den andern Morgen, jeder in einem galanten Billett, das mit einem Blumenstrauss begleitet war, sich nach meinem Befinden erkundigten. So f?hlte ich nie mehr, wie ich da f?hlte! Artigkeiten wurden mit Artigkeiten, Briefchen mit Briefchen erwidert. Kirche und Promenaden wurden von nun an zu Rendezvous; unsre jungen Bekannten luden uns schon jederzeit zusammen ein, wir aber waren schlau genug, die Sache dergestalt zu verdecken, dass die Eltern nicht mehr davon einsahen, als wir f?r gut hielten.
Nun hatte ich auf einmal zwei Liebhaber bekommen. Ich war f?r keinen entschieden; sie gefielen mir beide, und wir standen aufs beste zusammen. Auf einmal ward der ?ltere sehr krank; ich war selbst schon oft sehr krank gewesen und wusste den Leidenden durch ?bersendung mancher Artigkeiten und f?r einen Kranken schicklicher Leckerbissen zu erfreuen, dass seine Eltern die Aufmerksamkeit dankbar erkannten, der Bitte des lieben Sohns Geh?r gaben und mich samt meinen Schwestern, sobald er nur das Bette verlassen hatte, zu ihm einluden. Die Z?rtlichkeit, womit er mich empfing, war nicht kindisch, und von dem Tage an war ich f?r ihn entschieden. Er warnte mich gleich, vor seinem Bruder geheim zu sein; allein das Feuer war nicht mehr zu verbergen, und die Eifersucht des J?ngern machte den Roman vollkommen. Er spielte uns tausend Streiche; mit Lust vernichtete er unsre Freunde und vermehrte dadurch die Leidenschaft, die er zu zerst?ren suchte.
Nun hatte ich denn wirklich das gew?nschte Sch?fchen gefunden, und diese Leidenschaft hatte, wie sonst eine Krankheit, die Wirkung auf mich, dass sie mich still machte und mich von der schw?rmenden Freude zur?ckzog. Ich war einsam und ger?hrt, und Gott fiel mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter, und ich weiss wohl, mit welchen Tr?nen ich f?r den Knaben, der fortkr?nkelte, zu beten anhielt.
Soviel Kindisches in dem Vorgang war, soviel trug er zur Bildung meines Herzens bei. Unserm franz?sischen Sprachmeister mussten wir t?glich statt der sonst gew?hnlichen ?bersetzung Briefe von unsrer eignen Erfindung schreiben. Ich brachte meine Liebesgeschichte unter dem Namen Phyllis und Damon zu Markte. Der Alte sah bald durch, und um mich treuherzig zu machen, lobte er meine Arbeit gar sehr. Ich wurde immer k?hner, ging offenherzig heraus und war bis ins Detail der Wahrheit getreu. Ich weiss nicht mehr, bei welcher Stelle er einst Gelegenheit nahm zu sagen: "Wie das artig, wie das nat?rlich ist! Aber die gute Phyllis mag sich in acht nehmen, es kann bald ernsthaft werden."
Mich verdross, dass er die Sache nicht schon f?r ernsthaft hielt, und fragte ihn pikiert, was er unter ernsthaft verstehe? Er liess sich nicht zweimal fragen und erkl?rte sich so deutlich, dass ich meinen Schrecken kaum verbergen konnte. Doch da sich gleich darauf bei mir der Verdruss einstellte und ich ihm ?belnahm, dass er solche Gedanken hegen k?nne, fasste ich mich, wollte meine Sch?ne rechtfertigen und sagte mit feuerroten Wangen: "Aber, mein Herr, Phyllis ist ein ehrbares M?dchen!"
Nun war er boshaft genug, mich mit meiner ehrbaren Heldin aufzuziehen und, indem wir Franz?sisch sprachen, mit dem "honnete" zu spielen, um die Ehrbarkeit der Phyllis durch alle Bedeutungen durchzuf?hren. Ich f?hlte das L?cherliche und war ?usserst verwirrt. Er, der mich nicht furchtsam machen wollte, brach ab, brachte aber das Gespr?ch bei andern Gelegenheiten wieder auf die Bahn. Schauspiele und kleine Geschichten, die ich bei ihm las und ?bersetzte, gaben ihm oft Anlass zu zeigen, was f?r ein schwacher Schutz die sogenannte Tugend gegen die Aufforderungen eines Affekts sei. Ich widersprach nicht mehr, ?rgerte mich aber immer heimlich, und seine Anmerkungen wurden mir zur Last.
Mit meinem guten Damon kam ich auch nach und nach aus aller Verbindung. Die Schikanen des J?ngern hatten unsern Umgang zerrissen. Nicht lange Zeit darauf starben beide bl?hende J?nglinge. Es tat mir weh, aber bald waren sie vergessen.
Phyllis wuchs nun schnell heran, war ganz gesund und fing an, die Welt zu sehen. Der Erbprinz verm?hlte sich und trat bald darauf nach dem Tode seines Vaters die Regierung an. Hof und Stadt waren in lebhafter Bewegung. Nun hatte meine Neugierde mancherlei Nahrung. Nun gab es Kom?dien, B?lle und was sich daran anschliesst, und ob uns gleich die Eltern soviel als m?glich zur?ckhielten, so musste man doch bei Hof, wo ich eingef?hrt war, erscheinen. Die Fremden str?mten herbei, in allen H?usern war grosse Welt, an uns selbst waren einige Kavaliere empfohlen und andre introduziert, und bei meinem Oheim waren alle Nationen anzutreffen.
Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich auf eine bescheidene und doch treffende Weise zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich ?bel. Ich war keinesweges von der Wahrheit seiner Behauptung ?berzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals recht, vielleicht hatte er unrecht, die Frauen unter allen Umst?nden f?r so schwach zu halten; aber er redete zugleich so zudringlich, dass mir einst bange wurde, er m?chte recht haben, da ich denn sehr lebhaft zu ihm sagte: "Weil die Gefahr so gross und das menschliche Herz so schwach ist, so will ich Gott bitten, dass er mich bewahre."
Die naive Antwort schien ihn zu freuen, er lobte meinen Vorsatz; aber es war bei mir nichts weniger als ernstlich gemeint; diesmal war es nur ein leeres Wort: denn die Empfindungen f?r den Unsichtbaren waren bei mir fast ganz verloschen. Der grosse Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerstreute mich und riss mich wie ein starker Strom mit fort. Es waren die leersten Jahre meines Lebens. Tagelang von nichts zu reden, keinen gesunden Gedanken zu haben und nur zu schw?rmen, das war meine Sache. Nicht einmal der geliebten B?cher wurde gedacht. Die Leute, mit denen ich umgeben war, hatten keine Ahnung von Wissenschaften; es waren deutsche Hofleute, und diese Klasse hatte damals nicht die mindeste Kultur.
Ein solcher Umgang, sollte man denken, h?tte mich an den Rand des Verderbens f?hren m?ssen. Ich lebte in sinnlicher Munterkeit nur so hin, ich sammelte mich nicht, ich betete nicht, ich dachte nicht an mich noch an Gott; aber ich sah es als eine F?hrung an, dass mir keiner von den vielen sch?nen, reichen und wohlgekleideten M?nnern gefiel. Sie waren liederlich und versteckten es nicht, das schreckte mich zur?ck; ihr Gespr?ch zierten sie mit Zweideutigkeiten, das beleidigte mich, und ich hielt mich kalt gegen sie; ihre Unart ?berstieg manchmal allen Glauben, und ich erlaubte mir, grob zu sein.
?berdies hatte mir mein Alter einmal vertraulich er?ffnet, dass mit den meisten dieser leidigen Bursche nicht allein die Tugend, sondern auch die Gesundheit eines M?dchens in Gefahr sei. Nun graute mir erst vor ihnen, und ich war schon besorgt, wenn mir einer auf irgendeine Weise zu nahe kam. Ich h?tete mich vor Gl?sern und Tassen wie vor dem Stuhle, von dem einer aufgestanden war. Auf diese Weise war ich moralisch und physisch sehr isoliert, und alle die Artigkeiten, die sie mir sagten, nahm ich stolz f?r schuldigen Weihrauch auf.
Unter den Fremden, die sich damals bei uns aufhielten, zeichnete sich ein junger Mann besonders aus, den wir im Scherz Narziss nannten. Er hatte sich in der diplomatischen Laufbahn guten Ruf erworben und hoffte bei verschiedenen Ver?nderungen, die an unserm neuen Hofe vorgingen, vorteilhaft plaziert zu werden. Er ward mit meinem Vater bald bekannt, und seine Kenntnisse und sein Betragen ?ffneten ihm den Weg in eine geschlossene Gesellschaft der w?rdigsten M?nner. Mein Vater sprach viel zu seinem Lobe, und seine sch?ne Gestalt h?tte noch mehr Eindruck gemacht, wenn sein ganzes Wesen nicht eine Art von Selbstgef?lligkeit gezeigt h?tte. Ich hatte ihn gesehen, dachte gut von ihm, aber wir hatten uns nie gesprochen.
Auf einem grossen Balle, auf dem er sich auch befand, tanzten wir eine Menuett zusammen; auch das ging ohne n?here Bekanntschaft ab. Als die heftigen T?nze angingen, die ich meinem Vater zuliebe, der f?r meine Gesundheit besorgt war, zu vermeiden pflegte, begab ich mich in ein Nebenzimmer und unterhielt mich mit ?ltern Freundinnen, die sich zum Spiele gesetzt hatten.
Narziss, der eine Weile mit herumgesprungen war, kam auch einmal in das Zimmer, in dem ich mich befand, und fing, nachdem er sich von einem Nasenbluten, das ihn beim Tanzen ?berfiel, erholt hatte, mit mir ?ber mancherlei zu sprechen an. Binnen einer halben Stunde war der Diskurs so interessant, ob sich gleich keine Spur von Z?rtlichkeit dreinmischte, dass wir nun beide das Tanzen nicht mehr vertragen konnten. Wir wurden bald von den andern dar?ber geneckt, ohne dass wir uns dadurch irremachen liessen. Den andern Abend konnten wir unser Gespr?ch wieder ankn?pfen und schonten unsre Gesundheit sehr.
Nun war die Bekanntschaft gemacht. Narziss wartete mir und meinen Schwestern auf, und nun fing ich erst wieder an gewahr zu werden, was ich alles wusste, wor?ber ich gedacht, was ich empfunden hatte und wor?ber ich mich im Gespr?che auszudr?cken verstand. Mein neuer Freund, der von jeher in der besten Gesellschaft gewesen war, hatte ausser dem historischen und politischen Fache, das er ganz ?bersah, sehr ausgebreitete literarische Kenntnisse, und ihm blieb nichts Neues, besonders was in Frankreich herauskam, unbekannt. Er brachte und sendete mir manch angenehmes Buch, doch das musste geheimer als ein verbotenes Liebesverst?ndnis gehalten werden. Man hatte die gelehrten Weiber l?cherlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich weil man f?r unh?flich hielt, so viel unwissende M?nner besch?men zu lassen. Selbst mein Vater, dem diese neue Gelegenheit, meinen Geist auszubilden, sehr erw?nscht war, verlangte ausdr?cklich, dass dieses literarische Kommerz ein Geheimnis bleiben sollte.
So w?hrte unser Umgang beinahe Jahr und Tag, und ich konnte nicht sagen, dass Narziss auf irgendeine Weise Liebe oder Z?rtlichkeit gegen mich ge?ussert h?tte. Er blieb artig und verbindlich, aber zeigte keinen Affekt; vielmehr schien der Reiz meiner j?ngsten Schwester, die damals ausserordentlich sch?n war, ihn nicht gleichg?ltig zu lassen. Er gab ihr im Scherze allerlei freundliche Namen aus fremden Sprachen, deren mehrere er sehr gut sprach und deren eigent?mliche Redensarten er gern ins deutsche Gespr?ch mischte. Sie erwiderte seine Artigkeiten nicht sonderlich; sie war von einem andern F?dchen gebunden, und da sie ?berhaupt sehr rasch und er empfindlich war, so wurden sie nicht selten ?ber Kleinigkeiten uneins. Mit der Mutter und den Tanten wusste er sich gut zu halten, und so war er nach und nach ein Glied der Familie geworden.
Wer weiss, wie lange wir noch auf diese Weise fortgelebt h?tten, w?ren durch einen sonderbaren Zufall unsere Verh?ltnisse nicht auf einmal ver?ndert worden. Ich ward mit meinen Schwestern in ein gewisses Haus gebeten, wohin ich nicht gerne ging. Die Gesellschaft war zu gemischt, und es fanden sich dort oft Menschen, wo nicht vom rohsten, doch vom plattsten Schlage mit ein. Diesmal war Narziss auch mit geladen, und um seinetwillen war ich geneigt hinzugehen: denn ich war doch gewiss, jemanden zu finden, mit dem ich mich auf meine Weise unterhalten konnte. Schon bei Tafel hatten wir manches auszustehen, denn einige M?nner hatten stark getrunken; nach Tische sollten und mussten Pf?nder gespielt werden. Es ging dabei sehr rauschend und lebhaft zu. Narziss hatte ein Pfand zu l?sen; man gab ihm auf, der ganzen Gesellschaft etwas ins Ohr zu sagen, das jedermann angenehm w?re. Er mochte sich bei meiner Nachbarin, der Frau eines Hauptmanns, zu lange verweilen. Auf einmal gab ihm dieser eine Ohrfeige, dass mir, die ich gleich daran sass, der Puder in die Augen flog. Als ich die Augen ausgewischt und mich vom Schrecken einigermassen erholt hatte, sah ich beide M?nner mit blossen Degen. Narziss blutete, und der andere, ausser sich von Wein, Zorn und Eifersucht, konnte kaum von der ganzen ?brigen Gesellschaft zur?ckgehalten werden. Ich nahm Narzissen beim Arm und f?hrte ihn zur T?re hinaus, eine Treppe hinauf in ein ander Zimmer, und weil ich meinen Freund vor seinem tollen Gegner nicht sicher glaubte, riegelte ich die T?re sogleich zu.
Wir hielten beide die Wunde nicht f?r ernsthaft, denn wir sahen nur einen leichten Hieb ?ber die Hand; bald aber wurden wir einen Strom von Blut, der den R?cken hinunterfloss, gewahr, und es zeigte sich eine grosse Wunde auf dem Kopfe. Nun ward mir bange. Ich eilte auf den Vorplatz, um nach H?lfe zu schicken, konnte aber niemand ansichtig werden, denn alles war unten geblieben, den rasenden Menschen zu b?ndigen. Endlich kam eine Tochter des Hauses heraufgesprungen, und ihre Munterkeit ?ngstigte mich nicht wenig, da sie sich ?ber den tollen Spektakel und ?ber die verfluchte Kom?die fast zu Tode lachen wollte. Ich bat sie dringend, mir einen Wundarzt zu schaffen, und sie, nach ihrer wilden Art, sprang gleich die Treppe hinunter, selbst einen zu holen.
Ich ging wieder zu meinem Verwundeten, band ihm mein Schnupftuch um die Hand und ein Handtuch, das an der T?re hing, um den Kopf. Er blutete noch immer heftig: der Verwundete erblasste und schien in Ohnmacht zu sinken. Niemand war in der N?he, der mir h?tte beistehen k?nnen; ich nahm ihn sehr ungezwungen in den Arm und suchte ihn durch Streicheln und Schmeicheln aufzumuntern. Es schien die Wirkung eines geistigen Heilmittels zu tun; er blieb bei sich, aber sass totenbleich da.
Nun kam endlich die t?tige Hausfrau, und wie erschrak sie, als sie den Freund in dieser Gestalt in meinen Armen liegen und uns alle beide mit Blut ?berstr?mt sah: denn niemand hatte sich vorgestellt, dass Narziss verwundet sei; alle meinten, ich habe ihn gl?cklich hinausgebracht.
Nun war Wein, wohlriechendes Wasser, und was nur erquicken und erfrischen konnte, im ?berfluss da, nun kam auch der Wundarzt, und ich h?tte wohl abtreten k?nnen; allein Narziss hielt mich fest bei der Hand, und ich w?re, ohne gehalten zu werden, stehengeblieben. Ich fuhr w?hrend des Verbandes fort, ihn mit Wein anzustreichen, und achtete es wenig, dass die ganze Gesellschaft nunmehr umherstand. Der Wundarzt hatte geendigt, der Verwundete nahm einen stummen, verbindlichen Abschied von mir und wurde nach Hause getragen.
Nun f?hrte mich die Hausfrau in ihr Schlafzimmer; sie musste mich ganz auskleiden, und ich darf nicht verschweigen, dass ich, da man sein Blut von meinem K?rper abwusch, zum erstenmal zuf?llig im Spiegel gewahr wurde, dass ich mich auch ohne H?lle f?r sch?n halten durfte. Ich konnte keines meiner Kleidungsst?cke wieder anziehn, und da die Personen im Hause alle kleiner oder st?rker waren als ich, so kam ich in einer seltsamen Verkleidung zum gr?ssten Erstaunen meiner Eltern nach Hause. Sie waren ?ber mein Schrecken, ?ber die Wunden des Freundes, ?ber den Unsinn des Hauptmanns, ?ber den ganzen Vorfall ?usserst verdriesslich. Wenig fehlte, so h?tte mein Vater selbst, seinen Freund auf der Stelle zu r?chen, den Hauptmann herausgefordert. Er schalt die anwesenden Herren, dass sie ein solches meuchlerisches Beginnen nicht auf der Stelle geahndet; denn es war nur zu offenbar, dass der Hauptmann sogleich, nachdem er geschlagen, den Degen gezogen und Narzissen von hinten verwundet habe; der Hieb ?ber die Hand war erst gef?hrt worden, als Narziss selbst zum Degen griff. Ich war unbeschreiblich alteriert und affiziert, oder wie soll ich es ausdr?cken; der Affekt, der im tiefsten Grunde des Herzens ruhte, war auf einmal losgebrochen wie eine Flamme, welche Luft bek?mmt. Und wenn Lust und Freude sehr geschickt sind, die Liebe zuerst zu erzeugen und im stillen zu n?hren, so wird sie, die von Natur herzhaft ist, durch den Schrecken am leichtesten angetrieben, sich zu entscheiden und zu erkl?ren. Man gab dem T?chterchen Arznei ein und legte es zu Bette. Mit dem fr?hesten Morgen eilte mein Vater zu dem verwundeten Freund, der an einem starken Wundfieber recht krank darniederlag.
Mein Vater sagte mir wenig von dem, was er mit ihm geredet hatte, und suchte mich wegen der Folgen, die dieser Vorfall haben k?nnte, zu beruhigen. Es war die Rede, ob man sich mit einer Abbitte begn?gen k?nne, ob die Sache gerichtlich werden m?sse, und was dergleichen mehr war. Ich kannte meinen Vater zu wohl, als dass ich ihm geglaubt h?tte, dass er diese Sache ohne Zweikampf geendigt zu sehen w?nschte; allein ich blieb still, denn ich hatte von meinem Vater fr?h gelernt, dass Weiber in solche H?ndel sich nicht zu mischen h?tten. ?brigens schien es nicht, als wenn zwischen den beiden Freunden etwas vorgefallen w?re, das mich betroffen h?tte; doch bald vertraute mein Vater den Inhalt seiner weitern Unterredung meiner Mutter. Narziss, sagte er, sei ?usserst ger?hrt von meinem geleisteten Beistand, habe ihn umarmt, sich f?r meinen ewigen Schuldner erkl?rt, bezeigt, er verlange kein Gl?ck, wenn er es nicht mit mir teilen sollte; er habe sich die Erlaubnis ausgebeten, ihn als Vater ansehn zu d?rfen. Mama sagte mir das alles treulich wieder, h?ngte aber die wohlmeinende Erinnerung daran, auf so etwas, das in der ersten Bewegung gesagt worden, d?rfe man so sehr nicht achten. "Ja freilich", antwortete ich mit angenommener K?lte und f?hlte der Himmel weiss was und wieviel dabei.
Narziss blieb zwei Monate krank, konnte wegen der Wunde an der rechten Hand nicht einmal schreiben, bezeigte mir aber inzwischen sein Andenken durch die verbindlichste Aufmerksamkeit. Alle diese mehr als gew?hnlichen H?flichkeiten hielt ich mit dem, was ich von der Mutter erfahren hatte, zusammen, und best?ndig war mein Kopf voller Grillen. Die ganze Stadt unterhielt sich von der Begebenheit. Man sprach mit mir davon in einem besondern Tone, man zog Folgerungen daraus, die, sosehr ich sie abzulehnen suchte, mir immer sehr nahegingen. Was vorher T?ndelei und Gewohnheit gewesen war, ward nun Ernst und Neigung. Die Unruhe, in der ich lebte, war um so heftiger, je sorgf?ltiger ich sie vor allen Menschen zu verbergen suchte. Der Gedanke, ihn zu verlieren, erschreckte mich, und die M?glichkeit einer n?hern Verbindung machte mich zittern. Der Gedanke des Ehestandes hat f?r ein halbkluges M?dchen gewiss etwas Schreckhaftes.
Durch diese heftigen Ersch?tterungen ward ich wieder an mich selbst erinnert. Die bunten Bilder eines zerstreuten Lebens, die mir sonst Tag und Nacht vor den Augen schwebten, waren auf einmal weggeblasen. Meine Seele fing wieder an, sich zu regen; allein die sehr unterbrochene Bekanntschaft mit dem unsichtbaren Freunde war so leicht nicht wiederhergestellt. Wir blieben noch immer in ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen sonst ein grosser Unterschied.
Ein Zweikampf, worin der Hauptmann stark verwundet wurde, war vor?ber, ohne dass ich etwas davon erfahren hatte, und die ?ffentliche Meinung war in jedem Sinne auf der Seite meines Geliebten, der endlich wieder auf dem Schauplatze erschien. Vor allen Dingen liess er sich mit verbundnem Haupt und eingewickelter Hand in unser Haus tragen. Wie klopfte mir das Herz bei diesem Besuche! Die ganze Familie war gegenw?rtig; es blieb auf beiden Seiten nur bei allgemeinen Danksagungen und H?flichkeiten; doch fand er Gelegenheit, mir einige geheime Zeichen seiner Z?rtlichkeit zu geben, wodurch meine Unruhe nur zu sehr vermehrt ward. Nachdem er sich v?llig wieder erholt, besuchte er uns den ganzen Winter auf ebendem Fuss wie ehemals, und bei allen leisen Zeichen von Empfindung und Liebe, die er mir gab, blieb alles uner?rtert.
Auf diese Weise ward ich in steter ?bung gehalten. Ich konnte mich keinem Menschen vertrauen, und von Gott war ich zu weit entfernt. Ich hatte diesen w?hrend vier wilder Jahre ganz vergessen; nun dachte ich dann und wann wieder an ihn, aber die Bekanntschaft war erkaltet; es waren nur Zeremonienvisiten, die ich ihm machte, und da ich ?berdies, wenn ich vor ihm erschien, immer sch?ne Kleider anlegte, meine Tugend, Ehrbarkeit und Vorz?ge, die ich vor andern zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit vorwies, so schien er mich in dem Schmucke gar nicht zu bemerken.
Ein H?fling w?rde, wenn sein F?rst, von dem er sein Gl?ck erwartet, sich so gegen ihn betr?ge, sehr beunruhigt werden; mir aber war nicht ?bel dabei zumute. Ich hatte, was ich brauchte, Gesundheit und Bequemlichkeit; wollte sich Gott mein Andenken gefallen lassen, so war es gut; wo nicht, so glaubte ich doch meine Schuldigkeit getan zu haben.
So dachte ich freilich damals nicht von mir; aber es war doch die wahrhafte Gestalt meiner Seele. Meine Gesinnungen zu ?ndern und zu reinigen, waren aber auch schon Anstalten gemacht.
Der Fr?hling kam heran, und Narziss besuchte mich unangemeldet zu einer Zeit, da ich ganz allein zu Hause war. Nun erschien er als Liebhaber und fragte mich, ob ich ihm mein Herz und, wenn er eine ehrenvolle, wohlbesoldete Stelle erhielte, auch dereinst meine Hand schenken wollte.
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