Read Ebook: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 7 by Goethe Johann Wolfgang Von
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Ebook has 335 lines and 28103 words, and 7 pages
#19 in our series by Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 7 by Johann Wolfgang von Goethe
September, 2000
Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 7
Johann Wolfgang von Goethe
Siebentes Buch
Erstes Kapitel
Der Fr?hling war in seiner v?lligen Herrlichkeit erschienen; ein fr?hzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging st?rmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. "Ach!" sagte er zu sich selbst, "erscheinen uns denn eben die sch?nsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde? Und m?ssen Tropfen fallen, wenn wir entz?ckt werden sollen? Ein heiterer Tag ist wie ein grauer, wenn wir ihn unger?hrt ansehen, und was kann uns r?hren als die stille Hoffnung, dass die angeborne Neigung unsers Herzens nicht ohne Gegenstand bleiben werde? Uns r?hrt die Erz?hlung jeder guten Tat, uns r?hrt das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes; wir f?hlen dabei, dass wir nicht ganz in der Fremde sind, wir w?hnen einer Heimat n?her zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt."
Inzwischen hatte ihn ein Fussg?nger eingeholt, der sich zu ihm gesellte, mit starkem Schritte neben dem Pferde blieb und nach einigen gleichg?ltigen Reden zu dem Reiter sagte: "Wenn ich mich nicht irre, so muss ich Sie irgendwo schon gesehen haben."
"Ich erinnere mich Ihrer auch", versetzte Wilhelm; "haben wir nicht zusammen eine lustige Wasserfahrt gemacht?"--"Ganz recht!" erwiderte der andere.
Wilhelm betrachtete ihn genauer und sagte nach einigem Stillschweigen: "Ich weiss nicht, was f?r eine Ver?nderung mit Ihnen vorgegangen sein mag; damals hielt ich Sie f?r einen lutherischen Landgeistlichen, und jetzt sehen Sie mir eher einem katholischen ?hnlich."
"Heute betriegen Sie sich wenigstens nicht", sagte der andere, indem er den Hut abnahm und die Tonsur sehen liess. "Wo ist denn Ihre Gesellschaft hingekommen? Sind Sie noch lange bei ihr geblieben?"
"L?nger als billig: denn leider wenn ich an jene Zeit zur?ckdenke, die ich mit ihr zugebracht habe, so glaube ich in ein unendliches Leere zu sehen; es ist mir nichts davon ?briggeblieben."
"Darin irren Sie sich; alles, was uns begegnet, l?sst Spuren zur?ck, alles tr?gt unmerklich zu unserer Bildung bei; doch es ist gef?hrlich, sich davon Rechenschaft geben zu wollen. Wir werden dabei entweder stolz und l?ssig oder niedergeschlagen und kleinm?tig, und eins ist f?r die Folge so hinderlich als das andere. Das Sicherste bleibt immer, nur das N?chste zu tun, was vor uns liegt, und das ist jetzt", fuhr er mit einem L?cheln fort, "dass wir eilen, ins Quartier zu kommen."
Wilhelm fragte, wie weit noch der Weg nach Lotharios Gut sei, der andere versetzte, dass es hinter dem Berge liege. "Vielleicht treffe ich Sie dort an", fuhr er fort, "ich habe nur in der Nachbarschaft noch etwas zu besorgen. Leben Sie solange wohl!" Und mit diesen Worten ging er einen steilen Pfad, der schneller ?ber den Berg hin?berzuf?hren schien.
"Ja wohl hat er recht!" sagte Wilhelm vor sich, indem er weiterritt. "An das N?chste soll man denken, und f?r mich ist wohl jetzt nichts N?heres als der traurige Auftrag, den ich ausrichten soll. Lass sehen, ob ich die Rede noch ganz im Ged?chtnis habe, die den grausamen Freund besch?men soll."
Er fing darauf an, sich dieses Kunstwerk vorzusagen; es fehlte ihm auch nicht eine Silbe, und je mehr ihm sein Ged?chtnis zustatten kam, desto mehr wuchs seine Leidenschaft und sein Mut. Aureliens Leiden und Tod waren lebhaft vor seiner Seele gegenw?rtig.
"Geist meiner Freundin!" rief er aus, "umschwebe mich! und wenn es dir m?glich ist, so gib mir ein Zeichen, dass du bes?nftigt, dass du vers?hnt seist!"
Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die H?he des Berges gekommen und sah an dessen Abhang an der andern Seite ein wunderliches Geb?ude liegen, das er sogleich f?r Lotharios Wohnung hielt. Ein altes, unregelm?ssiges Schloss mit einigen T?rmen und Giebeln schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein; allein noch unregelm?ssiger waren die neuen Angeb?ude, die, teils nah, teils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgeb?ude durch Galerien und bedeckte G?nge zusammenhingen. Alle ?ussere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bed?rfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, ebensowenig als von k?nstlichen G?rten und grossen Alleen. Ein Gem?se- und Baumgarten drang bis an die H?user hinan, und kleine nutzbare G?rten waren selbst in den Zwischenr?umen angelegt. Ein heiteres D?rfchen lag in einiger Entfernung; G?rten und Felder schienen durchaus in dem besten Zustande.
In seine eignen leidenschaftlichen Betrachtungen vertieft, ritt Wilhelm weiter, ohne viel ?ber das, was er sah, nachzudenken, stellte sein Pferd in einem Gasthofe ein und eilte nicht ohne Bewegung nach dem Schlosse zu.
Ein alter Bedienter empfing ihn an der T?re und berichtete ihm mit vieler Gutm?tigkeit, dass er heute wohl schwerlich vor den Herren kommen werde; der Herr habe viel Briefe zu schreiben und schon einige seiner Gesch?ftsleute abweisen lassen. Wilhelm ward dringender, und endlich musste der Alte nachgeben und ihn melden. Er kam zur?ck und f?hrte Wilhelmen in einen grossen, alten Saal. Dort ersuchte er ihn, sich zu gedulden, weil der Herr vielleicht noch eine Zeitlang ausbleiben werde. Wilhelm ging unruhig auf und ab und warf einige Blicke auf die Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen an der Wand umher hingen, er wiederholte den Anfang seiner Rede, und sie schien ihm in Gegenwart dieser Harnische und Kragen erst recht am Platz. Sooft er etwas rauschen h?rte, setzte er sich in Positur, um seinen Gegner mit W?rde zu empfangen, ihm erst den Brief zu ?berreichen und ihn dann mit den Waffen des Vorwurfs anzufallen.
Mehrmals war er schon get?uscht worden und fing wirklich an, verdriesslich und verstimmt zu werden, als endlich aus einer Seitent?r ein wohlgebildeter Mann in Stiefeln und einem schlichten ?berrocke heraustrat. "Was bringen Sie mir Gutes?" sagte er mit freundlicher Stimme zu Wilhelmen, "verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen."
Er faltete, indem er dieses sprach, einen Brief, den er in der Hand hielt. Wilhelm, nicht ohne Verlegenheit, ?berreichte ihm das Blatt Aureliens und sagte: "Ich bringe die letzten Worte einer Freundin, die Sie nicht ohne R?hrung lesen werden."
Lothario nahm den Brief und ging sogleich in das Zimmer zur?ck, wo er, wie Wilhelm recht gut durch die offne T?re sehen konnte, erst noch einige Briefe siegelte und ?berschrieb, dann Aureliens Brief er?ffnete und las. Er schien das Blatt einigemal durchgelesen zu haben, und Wilhelm, obgleich seinem Gef?hl nach die pathetische Rede zu dem nat?rlichen Empfang nicht recht passen wollte, nahm sich doch zusammen, ging auf die Schwelle los und wollte seinen Spruch beginnen, als eine Tapetent?re des Kabinetts sich ?ffnete und der Geistliche hereintrat.
"Ich erhalte die wunderlichste Depesche von der Welt", rief Lothario ihm entgegen; "verzeihn Sie mir", fuhr er fort, indem er sich gegen Wilhelmen wandte, "wenn ich in diesem Augenblicke nicht gestimmt bin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben heute nacht bei uns! Und Sie sorgen f?r unsern Gast, Abbe, dass ihm nichts abgeht."
Mit diesen Worten machte er eine Verbeugung gegen Wilhelmen, der Geistliche nahm unsern Freund bei der Hand, der nicht ohne Widerstreben folgte.
Stillschweigend gingen sie durch wunderliche G?nge und kamen in ein gar artiges Zimmer. Der Geistliche f?hrte ihn ein und verliess ihn ohne weitere Entschuldigung. Bald darauf erschien ein munterer Knabe, der sich bei Wilhelmen als seine Bedienung ank?ndigte und das Abendessen brachte, bei der Aufwartung von der Ordnung des Hauses, wie man zu fr?hst?cken, zu speisen, zu arbeiten und sich zu vergn?gen pflegte, manches erz?hlte und besonders zu Lotharios Ruhm gar vieles vorbrachte.
So angenehm auch der Knabe war, so suchte ihn Wilhelm doch bald loszuwerden. Er w?nschte allein zu sein, denn er f?hlte sich in seiner Lage ?usserst gedr?ckt und beklommen. Er machte sich Vorw?rfe, seinen Vorsatz so schlecht vollf?hrt, seinen Auftrag nur halb ausgerichtet zu haben. Bald nahm er sich vor, den andern Morgen das Vers?umte nachzuholen, bald ward er gewahr, dass Lotharios Gegenwart ihn zu ganz andern Gef?hlen stimmte. Das Haus, worin er sich befand, kam ihm auch so wunderbar vor, er wusste sich in seine Lage nicht zu finden. Er wollte sich ausziehen und ?ffnete seinen Mantelsack; mit seinen Nachtsachen brachte er zugleich den Schleier des Geistes hervor, den Mignon eingepackt hatte. Der Anblick vermehrte seine traurige Stimmung. ""Flieh! J?ngling, flieh!"" rief er aus, "was soll das mystische Wort heissen? was fliehen? wohin fliehen? Weit besser h?tte der Geist mir zugerufen: "Kehre in dich selbst zur?ck!"" Er betrachtete die englischen Kupfer, die an der Wand in Rahmen hingen; gleichg?ltig sah er ?ber die meisten hinweg, endlich fand er auf dem einen ein ungl?cklich strandendes Schiff vorgestellt: ein Vater mit seinen sch?nen T?chtern erwartete den Tod von den hereindringenden Wellen. Das eine Frauenzimmer schien ?hnlichkeit mit jener Amazone zu haben; ein unaussprechliches Mitleiden ergriff unsern Freund, er f?hlte ein unwiderstehliches Bed?rfnis, seinem Herzen Luft zu machen, Tr?nen drangen aus seinem Auge, und er konnte sich nicht wieder erholen, bis ihn der Schlaf ?berw?ltigte.
Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er fand sich in einem Garten, den er als Knabe ?fters besucht hatte, und sah mit Vergn?gen die bekannten Alleen, Hecken und Blumenbeete wieder; Mariane begegnete ihm, er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgendeines vergangenen Missverh?ltnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen, im Hauskleide; und mit vertraulicher Miene, die ihm selten war, hiess er den Sohn zwei St?hle aus dem Gartenhause holen, nahm Marianen bei der Hand und f?hrte sie nach einer Laube.
Wilhelm eilte nach dem Gartensaale, fand ihn aber ganz leer, nur sah er Aurelien an dem entgegengesetzten Fenster stehen; er ging, sie anzureden, allein sie blieb unverwandt, und ob er sich gleich neben sie stellte, konnte er doch ihr Gesicht nicht sehen. Er blickte zum Fenster hinaus und sah in einem fremden Garten viele Menschen beisammen, von denen er einige sogleich erkannte. Frau Melina sass unter einem Baum und spielte mit einer Rose, die sie in der Hand hielt; Laertes stand neben ihr und z?hlte Gold aus einer Hand in die andere. Mignon und Felix lagen im Grase, jene ausgestreckt auf dem R?cken, dieser auf dem Gesichte. Philine trat hervor und klatschte ?ber den Kindern in die H?nde, Mignon blieb unbeweglich, Felix sprang auf und floh vor Philinen. Erst lachte er im Laufen, als Philine ihn verfolgte, dann schrie er ?ngstlich, als der Harfenspieler mit grossen, langsamen Schritten ihm nachging. Das Kind lief grade auf einen Teich los; Wilhelm eilte ihm nach, aber zu sp?t, das Kind lag im Wasser! Wilhelm stand wie eingewurzelt. Nun sah er die sch?ne Amazone an der andern Seite des Teichs, sie streckte ihre rechte Hand gegen das Kind aus und ging am Ufer hin, das Kind durchstrich das Wasser in gerader Richtung auf den Finger zu und folgte ihr nach, wie sie ging, endlich reichte sie ihm ihre Hand und zog es aus dem Teiche. Wilhelm war indessen n?her gekommen, das Kind brannte ?ber und ?ber, und es fielen feurige Tropfen von ihm herab. Wilhelm war noch besorgter, doch die Amazone nahm schnell einen weissen Schleier vom Haupte und bedeckte das Kind damit. Das Feuer war sogleich gel?scht. Als sie den Schleier aufhob, sprangen zwei Knaben hervor, die zusammen mutwillig hin und her spielten, als Wilhelm mit der Amazone Hand in Hand durch den Garten ging und in der Entfernung seinen Vater und Marianen in einer Allee spazieren sah, die mit hohen B?umen den ganzen Garten zu umgeben schien. Er richtete seinen Weg auf beide zu und machte mit seiner sch?nen Begleiterin den Durchschnitt des Gartens, als auf einmal der blonde Friedrich ihnen in den Weg trat und sie mit grossem Gel?chter und allerlei Possen aufhielt. Sie wollten demungeachtet ihren Weg weiter fortsetzen; da eilte er weg und lief auf jenes entfernte Paar zu; der Vater und Mariane schienen vor ihm zu fliehen, er lief nur desto schneller, und Wilhelm sah jene fast im Fluge durch die Allee hinschweben. Natur und Neigung forderten ihn auf, jenen zu H?lfe zu kommen, aber die Hand der Amazone hielt ihn zur?ck. Wie gern liess er sich halten! Mit dieser gemischten Empfindung wachte er auf und fand sein Zimmer schon von der hellen Sonne erleuchtet.
Zweites Kapitel
Der Knabe lud Wilhelmen zum Fr?hst?ck ein; dieser fand den Abbe schon im Saale; Lothario, hiess es, sei ausgeritten; der Abbe war nicht sehr gespr?chig und schien eher nachdenklich zu sein; er fragte nach Aureliens Tode und h?rte mit Teilnahme der Erz?hlung Wilhelms zu. "Ach!" rief er aus, "wem es lebhaft und gegenw?rtig ist, welche unendliche Operationen Natur und Kunst machen m?ssen, bis ein gebildeter Mensch dasteht, wer selbst soviel als m?glich an der Bildung seiner Mitbr?der teilnimmt, der m?chte verzweifeln, wenn er sieht, wie freventlich sich oft der Mensch zerst?rt und so oft in den Fall kommt, mit oder ohne Schuld, zerst?rt zu werden. Wenn ich das bedenke, so scheint mir das Leben selbst eine so zuf?llige Gabe, dass ich jeden loben m?chte, der sie nicht h?her als billig sch?tzt."
Er hatte kaum ausgesprochen, als die T?re mit Heftigkeit sich aufriss, ein junges Frauenzimmer hereinst?rzte und den alten Bedienten, der sich ihr in den Weg stellte, zur?ckstiess. Sie eilte gerade auf den Abbe zu und konnte, indem sie ihn beim Arm fasste, vor Weinen und Schluchzen kaum die wenigen Worte hervorbringen: "Wo ist er? Wo habt ihr ihn? Es ist eine entsetzliche Verr?terei! Gesteht nur! Ich weiss, was vorgeht! Ich will ihm nach! Ich will wissen, wo er ist."
"Beruhigen Sie sich, mein Kind", sagte der Abbe mit angenommener Gelassenheit, "kommen Sie auf Ihr Zimmer, Sie sollen alles erfahren, nur m?ssen Sie h?ren k?nnen, wenn ich Ihnen erz?hlen soll." Er bot ihr die Hand an im Sinne, sie wegzuf?hren. "Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen", rief sie aus, "ich hasse die W?nde, zwischen denen ihr mich schon so lange gefangenhaltet! Und doch habe ich alles erfahren, der Obrist hat ihn herausgefordert, er ist hinausgeritten, seinen Gegner aufzusuchen, und vielleicht jetzt eben in diesem Augenblicke--es war mir etlichemal, als h?rte ich schiessen. Lassen Sie anspannen und fahren Sie mit mir, oder ich f?lle das Haus, das ganze Dorf mit meinem Geschrei."
Sie eilte unter den heftigsten Tr?nen nach dem Fenster, der Abbe hielt sie zur?ck und suchte vergebens, sie zu bes?nftigen.
Man h?rte einen Wagen fahren, sie riss das Fenster auf: "Er ist tot!" rief sie, "da bringen sie ihn."--"Er steigt aus!" sagte der Abbe. "Sie sehen, er lebt."--"Er ist verwundet", versetzte sie heftig, "sonst k?m er zu Pferde! Sie f?hren ihn! Er ist gef?hrlich verwundet!" Sie rannte zur T?re hinaus und die Treppe hinunter, der Abbe eilte ihr nach, und Wilhelm folgte ihnen; er sah, wie die Sch?ne ihrem heraufkommenden Geliebten begegnete.
Lothario lehnte sich auf seinen Begleiter, welchen Wilhelm sogleich f?r seinen alten G?nner Jarno erkannte, sprach dem trostlosen Frauenzimmer gar liebreich und freundlich zu, und indem er sich auch auf sie st?tzte, kam er die Treppe langsam herauf; er gr?sste Wilhelmen und ward in sein Kabinett gef?hrt.
Nicht lange darauf kam Jarno wieder heraus und trat zu Wilhelmen: "Sie sind, wie es scheint", sagte er, "pr?destiniert, ?berall Schauspieler und Theater zu finden; wir sind eben in einem Drama begriffen, das nicht ganz lustig ist."
"Ich freue mich", versetzte Wilhelm, "Sie in diesem sonderbaren Augenblicke wiederzufinden; ich bin verwundert, erschrocken, und Ihre Gegenwart macht mich gleich ruhig und gefasst. Sagen Sie mir, hat es Gefahr? Ist der Baron schwer verwundet?"--"Ich glaube nicht", versetzte Jarno.
Nach einiger Zeit trat der junge Wundarzt aus dem Zimmer. "Nun, was sagen Sie?" rief ihm Jarno entgegen. "Dass es sehr gef?hrlich steht", versetzte dieser und steckte einige Instrumente in seine lederne Tasche zusammen.
Wilhelm betrachtete das Band, das von der Tasche herunterhing, er glaubte es zu kennen. Lebhafte, widersprechende Farben, ein seltsames Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren zeichneten dieses Band vor allen B?ndern der Welt aus. Wilhelm war ?berzeugt, die Instrumententasche des alten Chirurgus vor sich zu sehen, der ihn in jenem Walde verbunden hatte, und die Hoffnung, nach so langer Zeit wieder eine Spur seiner Amazone zu finden, schlug wie eine Flamme durch sein ganzes Wesen.
"Wo haben Sie die Tasche her?" rief er aus. "Wem geh?rte sie vor Ihnen? Ich bitte, sagen Sie mir's."--"Ich habe Sie in einer Auktion gekauft", versetzte jener; "was k?mmert's mich, wem sie angeh?rte?" Mit diesen Worten entfernte er sich, und Jarno sagte: "Wenn diesem jungen Menschen nur ein wahres Wort aus dem Munde ginge."--"So hat er also diese Tasche nicht erstanden?" versetzte Wilhelm. "Sowenig, als es Gefahr mit Lothario hat", antwortete Jarno.
Wilhelm stand in ein vielfaches Nachdenken versenkt, als Jarno ihn fragte, wie es ihm zeither gegangen sei. Wilhelm erz?hlte seine Geschichte im allgemeinen, und als er zuletzt von Aureliens Tod und seiner Botschaft gesprochen hatte, rief jener aus: "Es ist doch sonderbar, sehr sonderbar!"
Der Abbe trat aus dem Zimmer, winkte Jarno zu, an seiner Statt hineinzugehen, und sagte zu Wilhelmen: "Der Baron l?sst Sie ersuchen, hierzubleiben, einige Tage die Gesellschaft zu vermehren und zu seiner Unterhaltung unter diesen Umst?nden beizutragen. Haben Sie n?tig, etwas an die Ihrigen zu bestellen, so soll Ihr Brief gleich besorgt werden, und damit Sie diese wunderbare Begebenheit verstehen, von der Sie Augenzeuge sind, muss ich Ihnen erz?hlen, was eigentlich kein Geheimnis ist. Der Baron hatte ein kleines Abenteuer mit einer Dame, das mehr Aufsehen machte, als billig war, weil sie den Triumph, ihn einer Nebenbuhlerin entrissen zu haben, allzu lebhaft geniessen wollte. Leider fand er nach einiger Zeit bei ihr nicht die n?mliche Unterhaltung, er vermied sie; allein bei ihrer heftigen Gem?tsart war es ihr unm?glich, ihr Schicksal mit gesetztem Mute zu tragen. Bei einem Balle gab es einen ?ffentlichen Bruch, sie glaubte sich ?usserst beleidigt und w?nschte ger?cht zu werden; kein Ritter fand sich, der sich ihrer angenommen h?tte, bis endlich ihr Mann, von dem sie sich lange getrennt hatte, die Sache erfuhr und sich ihrer annahm, den Baron herausforderte und heute verwundete; doch ist der Obrist, wie ich h?re, noch schlimmer dabei gefahren."
Von diesem Augenblicke an ward unser Freund im Hause, als geh?re er zur Familie, behandelt.
Drittes Kapitel
Man hatte einigemal dem Kranken vorgelesen; Wilhelm leistete diesen kleinen Dienst mit Freuden. Lydie kam nicht vom Bette hinweg, ihre Sorgfalt f?r den Verwundeten verschlang alle ihre ?brige Aufmerksamkeit, aber heute schien auch Lothario zerstreut, ja er bat, dass man nicht weiterlesen m?chte.
"Ich f?hle heute so lebhaft", sagte er, "wie t?richt der Mensch seine Zeit verstreichen l?sst! Wie manches habe ich mir vorgenommen, wie manches durchdacht, und wie zaudert man nicht bei seinen besten Vors?tzen! Ich habe die Vorschl?ge ?ber die Ver?nderungen gelesen, die ich auf meinen G?tern machen will, und ich kann sagen, ich freue mich vorz?glich dieserwegen, dass die Kugel keinen gef?hrlichern Weg genommen hat."
Lydie sah ihn z?rtlich, ja mit Tr?nen in den Augen an, als wollte sie fragen, ob denn sie, ob seine Freunde nicht auch Anteil an der Lebensfreude fordern k?nnten. Jarno dagegen versetzte: "Ver?nderungen, wie Sie vorhaben, werden billig erst von allen Seiten ?berlegt, bis man sich dazu entschliesst."
"Lange ?berlegungen", versetzte Lothario, "zeigen gew?hnlich, dass man den Punkt nicht im Auge hat, von dem die Rede ist, ?bereilte Handlungen, dass man ihn gar nicht kennt. Ich ?bersehe sehr deutlich, dass ich in vielen St?cken bei der Wirtschaft meiner G?ter die Dienste meiner Landleute nicht entbehren kann und dass ich auf gewissen Rechten strack und streng halten muss; ich sehe aber auch, dass andere Befugnisse mir zwar vorteilhaft, aber nicht ganz unentbehrlich sind, so dass ich davon meinen Leuten auch was g?nnen kann. Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich nicht meine G?ter weit besser als mein Vater? Werde ich meine Eink?nfte nicht noch h?her treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vorteil allein geniessen? Soll ich dem, der mit mir und f?r mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen Vorteile g?nnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorr?ckende Zeit darbietet?"
"Der Mensch ist nun einmal so!" rief Jarno, "und ich tadle mich nicht, wenn ich mich auch in dieser Eigenheit ertappe; der Mensch begehrt, alles an sich zu reissen, um nur nach Belieben damit schalten und walten zu k?nnen; das Geld, das er nicht selbst ausgibt, scheint ihm selten wohl angewendet."
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