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Read Ebook: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 7 by Goethe Johann Wolfgang Von

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Ebook has 335 lines and 28103 words, and 7 pages

"Der Mensch ist nun einmal so!" rief Jarno, "und ich tadle mich nicht, wenn ich mich auch in dieser Eigenheit ertappe; der Mensch begehrt, alles an sich zu reissen, um nur nach Belieben damit schalten und walten zu k?nnen; das Geld, das er nicht selbst ausgibt, scheint ihm selten wohl angewendet."

"O ja!" versetzte Lothario, "wir k?nnten manches vom Kapital entbehren, wenn wir mit den Interessen weniger willk?rlich umgingen."

"Das einzige, was ich zu erinnern habe", sagte Jarno, "und warum ich nicht raten kann, dass Sie eben jetzt diese Ver?nderungen machen, wodurch Sie wenigstens im Augenblicke verlieren, ist, dass Sie selbst noch Schulden haben, deren Abzahlung Sie einengt. Ich w?rde raten, Ihren Plan aufzuschieben, bis Sie v?llig im reinen w?ren."

"Und indessen einer Kugel oder einem Dachziegel zu ?berlassen, ob er die Resultate meines Lebens und meiner T?tigkeit auf immer vernichten wollte! Oh, mein Freund!" fuhr Lothario fort, "das ist ein Hauptfehler gebildeter Menschen, dass sie alles an eine Idee, wenig oder nichts an einen Gegenstand wenden m?gen. Wozu habe ich Schulden gemacht? Warum habe ich mich mit meinem Oheim entzweit? meine Geschwister so lange sich selbst ?berlassen? als um einer Idee willen. In Amerika glaubte ich zu wirken, ?ber dem Meere glaubte ich n?tzlich und notwendig zu sein; war eine Handlung nicht mit tausend Gefahren umgeben, so schien sie mir nicht bedeutend, nicht w?rdig. Wie anders seh ich jetzt die Dinge, und wie ist mir das N?chste so wert, so teuer geworden."

"Ich erinnere mich wohl des Briefes", versetzte Jarno, "den ich noch ?ber das Meer erhielt. Sie schrieben mir: Ich werde zur?ckkehren und in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen: "Hier oder nirgend ist Amerika!""

"Ja, mein Freund, und ich wiederhole noch immer dasselbe, und doch schelte ich mich zugleich, dass ich hier nicht so t?tig wie dort bin. Zu einer gewissen gleichen, fortdauernden Gegenwart brauchen wir nur Verstand, und wir werden auch nur zu Verstand, so dass wir das Ausserordentliche, was jeder gleichg?ltige Tag von uns fordert, nicht mehr sehen und, wenn wir es erkennen, doch tausend Entschuldigungen finden, es nicht zu tun. Ein verst?ndiger Mensch ist viel f?r sich, aber f?rs Ganze ist er wenig."

"Wir wollen", sagte Jarno, "dem Verstande nicht zu nahe treten und bekennen, dass das Ausserordentliche, was geschieht, meistens t?richt ist."

"Ja, und zwar eben deswegen, weil die Menschen das Ausserordentliche ausser der Ordnung tun. So gibt mein Schwager sein Verm?gen, insofern er es ver?ussern kann, der Br?dergemeinde und glaubt seiner Seele Heil dadurch zu bef?rdern; h?tte er einen geringen Teil seiner Eink?nfte aufgeopfert, so h?tte er viel gl?ckliche Menschen machen und sich und ihnen einen Himmel auf Erden schaffen k?nnen. Selten sind unsere Aufopferungen t?tig, wir tun gleich Verzicht auf das, was wir weggeben. Nicht entschlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen. Diese Tage, ich gesteh es, schwebt mir der Graf immer vor Augen, und ich bin fest entschlossen, das aus ?berzeugung zu tun, wozu ihn ein ?ngstlicher Wahn treibt; ich will meine Genesung nicht abwarten. Hier sind die Papiere, sie d?rfen nur ins reine gebracht werden. Nehmen Sie den Gerichtshalter dazu, unser Gast hilft Ihnen auch, Sie wissen so gut als ich, worauf es ankommt, und ich will hier genesend oder sterbend dabei bleiben und ausrufen: "Hier oder nirgend ist Herrnhut!""

Als Lydie ihren Freund von Sterben reden h?rte, st?rzte sie vor seinem Bette nieder, hing an seinen Armen und weinte bitterlich. Der Wundarzt kam herein, Jarno gab Wilhelmen die Papiere und n?tigte Lydien, sich zu entfernen.

"Um 's Himmels willen!" rief Wilhelm, als sie in dem Saal allein waren, "was ist das mit dem Grafen? Welch ein Graf ist das, der sich unter die Br?dergemeinde begibt?"

"Den Sie sehr wohl kennen", versetzte Jarno. "Sie sind das Gespenst, das ihn in die Arme der Fr?mmigkeit jagt, Sie sind der B?sewicht, der sein artiges Weib in einen Zustand versetzt, in dem sie ertr?glich findet, ihrem Manne zu folgen."

"Und sie ist Lotharios Schwester?" rief Wilhelm.

"Nicht anders."

"Und Lothario weiss--?"

"Alles."

"O lassen Sie mich fliehen!" rief Wilhelm aus, "wie kann ich vor ihm stehen? Was kann er sagen?"

"Dass niemand einen Stein gegen den andern aufheben soll und dass niemand lange Reden komponieren soll, um die Leute zu besch?men, er m?sste sie denn vor dem Spiegel halten wollen."

"Auch das wissen Sie?"

"Wie manches andere", versetzte Jarno l?chelnd; "doch diesmal", fuhr er fort, "werde ich Sie so leicht nicht wie das vorige Mal loslassen, und vor meinem Werbesold haben Sie sich auch nicht mehr zu f?rchten. Ich bin kein Soldat mehr, und auch als Soldat h?tte ich Ihnen diesen Argwohn nicht einfl?ssen sollen. Seit der Zeit, dass ich Sie nicht gesehen habe, hat sich vieles ge?ndert. Nach dem Tode meines F?rsten, meines einzigen Freundes und Wohlt?ters, habe ich mich aus der Welt und aus allen weltlichen Verh?ltnissen herausgerissen. Ich bef?rderte gern, was vern?nftig war, verschwieg nicht, wenn ich etwas abgeschmackt fand, und man hatte immer von meinem unruhigen Kopf und von meinem b?sen Maule zu reden. Das Menschenpack f?rchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollten sie sich f?rchten, wenn sie begriffen, was f?rchterlich ist; aber jener ist unbequem, und man muss ihn beiseite schaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten. Doch es mag hingehen, ich habe zu leben, und von meinem Plane sollen Sie weiter h?ren. Sie sollen teil daran nehmen, wenn Sie m?gen; aber sagen Sie mir, wie ist es Ihnen ergangen? Ich sehe, ich f?hle Ihnen an, auch Sie haben sich ver?ndert. Wie steht's mit Ihrer alten Grille, etwas Sch?nes und Gutes in Gesellschaft von Zigeunern hervorzubringen?"

"Ich bin gestraft genug!" rief Wilhelm aus, "erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung davon machen. Wie v?llig diese Menschen mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihr Gesch?ft ohne Nachdenken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff. Nicht allein will jeder der erste, sondern auch der einzige sein, jeder m?chte gerne alle ?brigen ausschliessen und sieht nicht, dass er mit ihnen zusammen kaum etwas leistet; jeder d?nkt sich wunderoriginal zu sein und ist unf?hig, sich in etwas zu finden, was ausser dem Schlendrian ist; dabei eine immerw?hrende Unruhe nach etwas Neuem. Mit welcher Heftigkeit wirken sie gegeneinander! Und nur die kleinlichste Eigenliebe, der beschr?nkteste Eigennutz macht, dass sie sich miteinander verbinden. Vom wechselseitigen Betragen ist gar die Rede nicht; ein ewiges Misstrauen wird durch heimliche T?cke und sch?ndliche Reden unterhalten; wer nicht liederlich lebt, lebt albern. Jeder macht Anspruch auf die unbedingteste Achtung, jeder ist empfindlich gegen den mindesten Tadel. Das hat er selbst alles schon besser gewusst! Und warum hat er denn immer das Gegenteil getan? Immer bed?rftig und immer ohne Zutrauen, scheint es, als wenn sie sich vor nichts so sehr f?rchteten als vor Vernunft und gutem Geschmack und nichts so sehr zu erhalten suchten als das Majest?tsrecht ihrer pers?nlichen Willk?r."

Wilhelm holte Atem, um seine Litanei noch weiter fortzusetzen, als ein unm?ssiges Gel?chter Jarnos ihn unterbrach. "Die armen Schauspieler!" rief er aus, warf sich in einen Sessel und lachte fort: "die armen, guten Schauspieler! Wissen Sie denn, mein Freund", fuhr er fort, nachdem er sich einigermassen wieder erholt hatte, "dass Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben und dass ich Ihnen aus allen St?nden genug Figuren und Handlungen zu Ihren harten Pinselstrichen finden wollte? Verzeihen Sie mir, ich muss wieder lachen, dass Sie glaubten, diese sch?nen Qualit?ten seien nur auf die Bretter gebannt."

Wilhelm fasste sich, denn wirklich hatte ihn das unb?ndige und unzeitige Gel?chter Jarnos verdrossen. "Sie k?nnen", sagte er, "Ihren Menschenhass nicht ganz verbergen, wenn Sie behaupten, dass diese Fehler allgemein seien."

"Und es zeugt von Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, wenn Sie diese Erscheinungen dem Theater so hoch anrechnen. Wahrhaftig, ich verzeihe dem Schauspieler jeden Fehler, der aus dem Selbstbetrug und aus der Begierde zu gefallen entspringt; denn wenn er sich und andern nicht etwas scheint, so ist er nichts. Zum Schein ist er berufen, er muss den augenblicklichen Beifall hochsch?tzen, denn er erh?lt keinen andern Lohn; er muss zu gl?nzen suchen, denn deswegen steht er da."

"Sie erlauben", versetzte Wilhelm, "dass ich von meiner Seite wenigstens l?chele. Nie h?tte ich geglaubt, dass Sie so billig, so nachsichtig sein k?nnten."

"Nein, bei Gott! dies ist mein v?lliger, wohlbedachter Ernst. Alle Fehler des Menschen verzeih ich dem Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen. Lassen Sie mich meine Klaglieder hier?ber nicht anstimmen, sie w?rden heftiger klingen als die Ihrigen."

Der Chirurgus kam aus dem Kabinett, und auf Befragen, wie sich der Kranke befinde, sagte er mit lebhafter Freundlichkeit: "Recht sehr wohl, ich hoffe, ihn bald v?llig wiederhergestellt zu sehen." Sogleich eilte er zum Saal hinaus und erwartete Wilhelms Frage nicht, der schon den Mund ?ffnete, sich nochmals und dringender nach der Brieftasche zu erkundigen. Das Verlangen, von seiner Amazone etwas zu erfahren, gab ihm Vertrauen zu Jarno; er entdeckte ihm seinen Fall und bat ihn um seine Beih?lfe. "Sie wissen so viel", sagte er, "sollten Sie nicht auch das erfahren k?nnen?"

Jarno war einen Augenblick nachdenkend, dann sagte er zu seinem jungen Freunde: "Seien Sie ruhig, und lassen Sie sich weiter nichts merken, wir wollen der Sch?nen schon auf die Spur kommen. Jetzt beunruhigt mich nur Lotharios Zustand, die Sache steht gef?hrlich, das sagt mir die Freundlichkeit und der gute Trost des Wundarztes. Ich h?tte Lydien schon gerne weggeschafft, denn sie nutzt hier gar nichts, aber ich weiss nicht, wie ich es anfangen soll. Heute abend, hoff ich, soll unser alter Medikus kommen, und dann wollen wir weiter ratschlagen."

Viertes Kapitel

Der Medikus kam; es war der gute, alte, kleine Arzt, den wir schon kennen und dem wir die Mitteilung des interessanten Manuskripts verdanken. Er besuchte vor allen Dingen den Verwundeten und schien mit dessen Befinden keinesweges zufrieden. Dann hatte er mit Jarno eine lange Unterredung, doch liessen sie nichts merken, als sie abends zu Tische kamen.

Wilhelm begr?sste ihn aufs freundlichste und erkundigte sich nach seinem Harfenspieler. "Wir haben noch Hoffnung, den Ungl?cklichen zurechtezubringen", versetzte der Arzt. "Dieser Mensch war eine traurige Zugabe zu Ihrem eingeschr?nkten und wunderlichen Leben", sagte Jarno. "Wie ist es ihm weiter ergangen? Lassen Sie mich es wissen."

Nachdem man Jarnos Neugierde befriedigst hatte, fuhr der Arzt fort: "Nie habe ich ein Gem?t in einer so sonderbaren Lage gesehen. Seit vielen Jahren hat er an nichts, was ausser ihm war, den mindesten Anteil genommen, ja fast auf nichts gemerkt; bloss in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermesslicher Abgrund erschien. Wie r?hrend war es, wenn er von diesem traurigen Zustande sprach! "Ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir", rief er aus, "als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit befinde; kein Gef?hl bleibt mir als das Gef?hl meiner Schuld, die doch auch nur wie ein entferntes, unf?rmliches Gespenst sich r?ckw?rts sehen l?sst. Doch da ist keine H?he, keine Tiefe, kein Vor noch Zur?ck, kein Wort dr?ckt diesen immer gleichen Zustand aus. Manchmal ruf ich in der Not dieser Gleichg?ltigkeit: 'Ewig! ewig!' mit Heftigkeit aus, und dieses seltsame, unbegreifliche Wort ist hell und klar gegen die Finsternis meines Zustandes. Kein Strahl einer Gottheit erscheint mir in dieser Nacht, ich weine meine Tr?nen alle mir selbst und um mich selbst. Nichts ist mir grausamer als Freundschaft und Liebe, denn sie allein locken mir den Wunsch ab, dass die Erscheinungen, die mich umgeben, wirklich sein m?chten. Aber auch diese beiden Gespenster sind nur aus dem Abgrunde gestiegen, um mich zu ?ngstigen und um mir zuletzt auch das teure Bewusstsein dieses ungeheuren Daseins zu rauben."

Sie sollten ihn h?ren", fuhr der Arzt fort, "wenn er in vertraulichen Stunden auf diese Weise sein Herz erleichtert; mit der gr?ssten R?hrung habe ich ihm einigemal zugeh?rt. Wenn sich ihm etwas aufdringt, das ihn n?tigt, einen Augenblick zu gestehen, eine Zeit sei vergangen, so scheint er wie erstaunt, und dann verwirft er wieder die Ver?nderung an den Dingen als eine Erscheinung der Erscheinungen. Eines Abends sang er ein Lied ?ber seine grauen Haare; wir sassen alle um ihn her und weinten."

"O schaffen Sie es mir!" rief Wilhelm aus.

"Haben Sie denn aber", fragte Jarno, "nichts entdeckt von dem, was er sein Verbrechen nennt, nicht die Ursache seiner sonderbaren Tracht, sein Betragen beim Brande, seine Wut gegen das Kind?"

"Nur durch Mutmassungen k?nnen wir seinem Schicksale n?herkommen; ihn unmittelbar zu fragen w?rde gegen unsere Grunds?tze sein. Da wir wohl merken, dass er katholisch erzogen ist, haben wir geglaubt, ihm durch eine Beichte Linderung zu verschaffen; aber er entfernt sich auf eine sonderbare Weise jedesmal, wenn wir ihn dem Geistlichen n?her zu bringen suchen. Dass ich aber Ihren Wunsch, etwas von ihm zu wissen, nicht ganz unbefriedigt lasse, will ich Ihnen wenigstens unsere Vermutungen entdecken. Er hat seine Jugend in dem geistlichen Stande zugebracht; daher scheint er sein langes Gewand und seinen Bart erhalten zu wollen. Die Freuden der Liebe blieben ihm die gr?sste Zeit seines Lebens unbekannt. Erst sp?t mag eine Verirrung mit einem sehr nahe verwandten Frauenzimmer, es mag ihr Tod, der einem ungl?cklichen Gesch?pfe das Dasein gab, sein Gehirn v?llig zerr?ttet haben.

Sein gr?sster Wahn ist, dass er ?berall Ungl?ck bringe und dass ihm der Tod durch einen unschuldigen Knaben bevorstehe. Erst f?rchtete er sich vor Mignon, eh er wusste, dass es ein M?dchen war; nun ?ngstigte ihn Felix, und da er das Leben bei alle seinem Elend unendlich liebt, scheint seine Abneigung gegen das Kind daher entstanden zu sein."

"Was haben Sie denn zu seiner Besserung f?r Hoffnung?" fragte Wilhelm.

"Es geht langsam vorw?rts", versetzte der Arzt, "aber doch nicht zur?ck. Seine bestimmten Besch?ftigungen treibt er fort, und wir haben ihn gew?hnt, die Zeitungen zu lesen, die er jetzt immer mit grosser Begierde erwartet."

"Ich bin auf seine Lieder neugierig", sagte Jarno.

"Davon werde ich Ihnen verschiedene geben k?nnen", sagte der Arzt. "Der ?lteste Sohn des Geistlichen, der seinem Vater die Predigten nachzuschreiben gewohnt ist, hat manche Strophe, ohne von dem Alten bemerkt zu werden, aufgezeichnet und mehrere Lieder nach und nach zusammengesetzt."

Den andern Morgen kam Jarno zu Wilhelmen und sagte ihm: "Sie m?ssen uns einen Gefallen tun; Lydie muss einige Zeit entfernt werden; ihre heftige und, ich darf wohl sagen, unbequeme Liebe und Leidenschaft hindert des Barons Genesung. Seine Wunde verlangt Ruhe und Gelassenheit, ob sie gleich bei seiner guten Natur nicht gef?hrlich ist. Sie haben gesehen, wie ihn Lydie mit st?rmischer Sorgfalt, unbezwinglicher Angst und nie versiegenden Tr?nen qu?lt, und--genug", setzte er nach einer Pause mit einem L?cheln hinzu, "der Medikus verlangt ausdr?cklich, dass sie das Haus auf einige Zeit verlassen solle. Wir haben ihr eingebildet, eine sehr gute Freundin halte sich in der N?he auf, verlange sie zu sehen und erwarte sie jeden Augenblick. Sie hat sich bereden lassen, zu dem Gerichtshalter zu fahren, der nur zwei Stunden von hier wohnt. Dieser ist unterrichtet und wird herzlich bedauern, dass Fr?ulein Therese soeben weggefahren sei; er wird wahrscheinlich machen, dass man sie noch einholen k?nne, Lydie wird ihr nacheilen, und wenn das Gl?ck gut ist, wird sie von einem Orte zum andern gef?hrt werden. Zuletzt, wenn sie drauf besteht, wieder umzukehren, darf man ihr nicht widersprechen; man muss die Nacht zu H?lfe nehmen, der Kutscher ist ein gescheiter Kerl, mit dem man noch Abrede nehmen muss. Sie setzen sich zu ihr in den Wagen, unterhalten sie und dirigieren das Abenteuer."

"Sie geben mir einen sonderbaren und bedenklichen Auftrag", versetzte Wilhelm, "wie ?ngstlich ist die Gegenwart einer gekr?nkten treuen Liebe! Und ich soll selbst dazu das Werkzeug sein? Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden auf diese Weise hintergehe: denn ich habe immer geglaubt, dass es uns zu weit f?hren k?nne, wenn wir einmal um des Guten und N?tzlichen willen zu betriegen anfangen."

"K?nnen wir doch Kinder nicht anders erziehen als auf diese Weise", versetzte Jarno.

"Bei Kindern m?chte es noch hingehen", sagte Wilhelm, "indem wir sie so z?rtlich lieben und offenbar ?bersehen; aber bei unsersgleichen, f?r die uns nicht immer das Herz so laut um Schonung anruft, m?chte es oft gef?hrlich werden. Doch glauben Sie nicht", fuhr er nach einem kurzen Nachdenken fort, "dass ich deswegen diesen Auftrag ablehne. Bei der Ehrfurcht, die mir Ihr Verstand einfl?sst, bei der Neigung, die ich f?r Ihren trefflichen Freund f?hle, bei dem lebhaften Wunsch, seine Genesung, durch welche Mittel sie auch m?glich sei, zu bef?rdern, mag ich mich gerne selbst vergessen. Es ist nicht genug, dass man sein Leben f?r einen Freund wagen k?nne, man muss auch im Notfall seine ?berzeugung f?r ihn verleugnen. Unsere liebste Leidenschaft, unsere besten W?nsche sind wir f?r ihn aufzuopfern schuldig. Ich ?bernehme den Auftrag, ob ich gleich schon die Qual voraussehe, die ich von Lydiens Tr?nen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben."

"Dagegen erwartet Sie auch keine geringe Belohnung", versetzte Jarno, "indem Sie Fr?ulein Theresen kennenlernen, ein Frauenzimmer, wie es ihrer wenige gibt; sie besch?mt hundert M?nner, und ich m?chte sie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieser zweideutigen Kleidung herumgehen."

Wilhelm war betroffen, er hoffte in Theresen seine Amazone wiederzufinden, um so mehr, als Jarno, von dem er einige Auskunft verlangte, kurz abbrach und sich entfernte.

Die neue, nahe Hoffnung, jene verehrte und geliebte Gestalt wiederzusehen, brachte in ihm die sonderbarsten Bewegungen hervor. Er hielt nunmehr den Auftrag, der ihm gegeben worden war, f?r ein Werk einer ausdr?cklichen Schickung, und der Gedanke, dass er ein armes M?dchen von dem Gegenstande ihrer aufrichtigsten und heftigsten Liebe hinterlistig zu entfernen im Begriff war, erschien ihm nur im Vor?bergehen, wie der Schatten eines Vogels ?ber die erleuchtete Erde wegfliegt.

Der Wagen stand vor der T?re, Lydie zauderte einen Augenblick hineinzusteigen. "Gr?sst Euren Herrn nochmals", sagte sie zu dem alten Bedienten, "vor Abend bin ich wieder zur?ck." Tr?nen standen ihr im Auge, als sie im Fortfahren sich nochmals umwendete. Sie kehrte sich darauf zu Wilhelmen, nahm sich zusammen und sagte: "Sie werden an Fr?ulein Theresen eine sehr interessante Person finden. Mich wundert, wie sie in diese Gegend kommt: denn Sie werden wohl wissen, dass sie und der Baron sich heftig liebten. Ungeachtet der Entfernung war Lothario oft bei ihr; ich war damals um sie, es schien, als ob sie nur f?reinander leben w?rden. Auf einmal aber zerschlug sich's, ohne dass ein Mensch begreifen konnte, warum. Er hatte mich kennenlernen, und ich leugne nicht, dass ich Theresen herzlich beneidete, dass ich meine Neigung zu ihm kaum verbarg und dass ich ihn nicht zur?ckstiess, als er auf einmal mich statt Theresen zu w?hlen schien. Sie betrug sich gegen mich, wie ich es nicht besser w?nschen konnte, ob es gleich beinahe scheinen musste, als h?tte ich ihr einen so werten Liebhaber geraubt. Aber auch wieviel tausend Tr?nen und Schmerzen hat mich diese Liebe schon gekostet! Erst sahen wir uns nur zuweilen am dritten Orte verstohlen, aber lange konnte ich das Leben nicht ertragen; nur in seiner Gegenwart war ich gl?cklich, ganz gl?cklich! Fern von ihm hatte ich kein trocknes Auge, keinen ruhigen Pulsschlag. Einst verzog er mehrere Tage, ich war in Verzweiflung, machte mich auf den Weg und ?berraschte ihn hier. Er nahm mich liebevoll auf, und w?re nicht dieser ungl?ckselige Handel dazwischengekommen, so h?tte ich ein himmlisches Leben gef?hrt; und was ich ausgestanden habe, seitdem er in Gefahr ist, seitdem er leidet, sag ich nicht, und noch in diesem Augenblicke mache ich mir lebhafte Vorw?rfe, dass ich mich nur einen Tag von ihm habe entfernen k?nnen."

Wilhelm wollte sich eben n?her nach Theresen erkundigen, als sie bei dem Gerichtshalter vorfuhren, der an den Wagen kam und von Herzen bedauerte, dass Fr?ulein Therese schon abgefahren sei. Er bot den Reisenden ein Fr?hst?ck an, sagte aber zugleich, der Wagen w?rde noch im n?chsten Dorfe einzuholen sein. Man entschloss sich nachzufahren, und der Kutscher s?umte nicht; man hatte schon einige D?rfer zur?ckgelegt und niemand angetroffen. Lydie bestand nun darauf, man solle umkehren; der Kutscher fuhr zu, als verst?nde er es nicht. Endlich verlangte sie es mit gr?sster Heftigkeit; Wilhelm rief ihm zu und gab ihm das verabredete Zeichen. Der Kutscher erwiderte: "Wir haben nicht n?tig, denselben Weg zur?ckzufahren; ich weiss einen n?hern, der zugleich viel bequemer ist." Er fuhr nun seitw?rts durch einen Wald und ?ber lange Triften weg. Endlich, da kein bekannter Gegenstand zum Vorschein kam, gestand der Kutscher, er sei ungl?cklicherweise irregefahren, wolle sich aber bald wieder zurechtefinden, indem er dort ein Dorf sehe. Die Nacht kam herbei, und der Kutscher machte seine Sache so geschickt, dass er ?berall fragte und nirgends die Antwort abwartete. So fuhr man die ganze Nacht, Lydie schloss kein Auge; bei Mondschein fand sie ?berall ?hnlichkeiten, und immer verschwanden sie wieder. Morgens schienen ihr die Gegenst?nde bekannt, aber desto unerwarteter. Der Wagen hielt vor einem kleinen, artig gebauten Landhause stille; ein Frauenzimmer trat aus der T?re und ?ffnete den Schlag. Lydie sah sie starr an, sah sich um, sah sie wieder an und lag ohnm?chtig in Wilhelms Armen.

F?nftes Kapitel

Wilhelm ward in ein Mansardzimmerchen gef?hrt; das Haus war neu und so klein, als es beinah nur m?glich war, ?usserst reinlich und ordentlich. In Theresen, die ihn und Lydien an der Kutsche empfangen hatte, fand er seine Amazone nicht, es war ein anderes, ein himmelweit von ihr unterschiedenes Wesen. Wohlgebaut, ohne gross zu sein, bewegte sie sich mit viel Lebhaftigkeit, und ihren hellen, blauen, offnen Augen schien nichts verborgen zu bleiben, was vorging.

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