Read Ebook: Bahnwärter Thiel by Hauptmann Gerhart
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Ebook has 340 lines and 19758 words, and 7 pages
In kurzer Zeit hatte er die Spree erreicht, setzte mit wenigen kr?ftigen Ruderschl?gen ?ber und stieg gleich darauf, am ganzen K?rper schwitzend, die sanft ansteigende Dorfstrasse hinauf. Der alte, sch?bige Pudel des Kr?mers lag mitten auf der Strasse. Auf dem geteerten Plankenzaune eines Koss?tenhofes sass eine Nebelkr?he. Sie spreizte die Federn, sch?ttelte sich, nickte, stiess ein ohrenzerreissendes >>kr?<<, >>kr?<< aus und erhob sich mit pfeifendem Fl?gelschlag, um sich vom Winde in der Richtung des Forstes davontreiben zu lassen.
Von den Bewohnern der kleinen Kolonie, etwa zwanzig Fischern und Waldarbeitern mit ihren Familien, war nichts zu sehen.
Der Ton einer kreischenden Stimme unterbrach die Stille so laut und schrill, dass der W?rter unwillk?rlich mit Laufen innehielt. Ein Schwall heftig herausgestossener, misst?nender Laute schlug an sein Ohr, die aus dem offenen Giebelfenster eines niedrigen H?uschens zu kommen schienen, welches er nur zu wohl kannte.
Das Ger?usch seiner Schritte nach M?glichkeit d?mpfend, schlich er sich n?her und unterschied nun ganz deutlich die Stimme seiner Frau. Nur noch wenige Bewegungen, und die meisten ihrer Worte wurden ihm verst?ndlich.
>>Was, du unbarmherziger, herzloser Schuft! Soll sich das elende Wurm die Plautze ausschreien vor Hunger? -- wie? Na wart nur, wart, ich will dich lehren aufpassen! -- Du sollst dran denken.<< Einige Augenblicke blieb es still; dann h?rte man ein Ger?usch, wie wenn Kleidungsst?cke ausgeklopft w?rden; unmittelbar darauf entlud sich ein neues Hagelwetter von Schimpfworten.
>>Du erb?rmlicher Gr?nschnabel,<< scholl es im schnellsten Tempo herunter, >>meinst du, ich sollte mein leibliches Kind wegen solch einem Jammerlappen, wie du bist, verhungern lassen?<< >>Halts Maul!<< schrie es, als ein leises Wimmern h?rbar wurde, >>oder du sollst eine Portion kriegen, an der du acht Tage zu fressen hast.<<
Das Wimmern verstummte nicht.
Der W?rter f?hlte, wie sein Herz in schweren, unregelm?ssigen Schl?gen ging. Er begann leise zu zittern. Seine Blicke hingen wie abwesend am Boden fest, und die plumpe und harte Hand strich mehrmals ein B?schel nasser Haare zur Seite, das immer von neuem in die sommersprossige Stirne hinein fiel.
Einen Augenblick drohte es ihn zu ?berw?ltigen. Es war ein Krampf, der die Muskeln schwellen machte und die Finger der Hand zur Faust zusammenzog. Es liess nach, und dumpfe Mattigkeit blieb zur?ck.
Unsicheren Schrittes trat der W?rter in den engen, ziegelgepflasterten Hausflur. M?de und langsam erklomm er die knarrende Holzstiege.
>>Pfui, pfui, pfui!<< hob es wieder an; dabei h?rte man, wie jemand dreimal hintereinander mit allen Zeichen der Wut und Verachtung ausspie. >>Du erb?rmlicher, niedertr?chtiger, hinterlistiger, h?mischer, feiger, gemeiner L?mmel.<< Die Worte folgten einander in steigender Betonung, und die Stimme, welche sie herausstiess, schnappte zuweilen ?ber vor Anstrengung. >>Meinen Buben willst du schlagen, was? Du elende G?re unterstehst dich, das arme, hilflose Kind aufs Maul zu schlagen? -- wie? -- he, wie? -- Ich will mich nur nicht dreckig machen an dir, sonst ...<<
In diesem Augenblick ?ffnete Thiel die T?r des Wohnzimmers, weshalb der erschrockenen Frau das Ende des begonnenen Satzes in der Kehle stecken blieb. Sie war kreidebleich vor Zorn; ihre Lippen zuckten b?sartig; sie hatte die Rechte erhoben, senkte sie und griff nach dem Milchtopf, aus dem sie ein Kinderfl?schchen voll zu f?llen versuchte. Sie liess jedoch diese Arbeit, da der gr?sste Teil der Milch ?ber den Flaschenhals auf den Tisch rann, halb verrichtet, griff vollkommen fassungslos vor Erregung bald nach diesem, bald nach jenem Gegenstand, ohne ihn l?nger als einige Augenblicke festhalten zu k?nnen und ermannte sich endlich soweit, ihren Mann heftig anzulassen: was es denn heissen solle, dass er um diese ungew?hnliche Zeit nach Hause k?me, er w?rde sie doch nicht etwa gar belauschen wollen; >>das w?re noch das Letzte,<< meinte sie, und gleich darauf: sie habe ein reines Gewissen und brauche vor niemand die Augen niederzuschlagen.
Thiel h?rte kaum, was sie sagte. Seine Blicke streiften fl?chtig das heulende Tobi?schen. Einen Augenblick schien es, als m?sse er gewaltsam etwas Furchtbares zur?ckhalten, was in ihm aufstieg; dann legte sich ?ber die gespannten Mienen pl?tzlich das alte Phlegma, von einem verstohlnen begehrlichen Aufblitzen der Augen seltsam belebt. Sekundenlang spielte sein Blick ?ber den starken Gliedmassen seines Weibes, das, mit abgewandtem Gesicht herumhantierend, noch immer nach Fassung suchte. Ihre vollen, halbnackten Br?ste bl?hten sich vor Erregung und drohten das Mieder zu sprengen, und ihre aufgerafften R?cke liessen die breiten H?ften noch breiter erscheinen. Eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen f?hlte.
Leicht gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz von Eisen legte es sich um ihn, fesselnd, ?berwindend, erschlaffend. Er h?tte in diesem Zustand ?berhaupt kein Wort an sie zu richten vermocht, am allerwenigsten ein hartes, und so musste Tobias, der in Tr?nen gebadet und ver?ngstet in einer Ecke hockte, sehen, wie der Vater, ohne sich auch nur weiter nach ihm umzuschauen, das vergessene Brot von der Ofenbank nahm, es der Mutter als einzige Erkl?rung hinhielt und mit einem kurzen, zerstreuten Kopfnicken sogleich wieder verschwand.
Obgleich Thiel den Weg in seine Waldeinsamkeit mit m?glichster Eile zur?cklegte, kam er doch erst f?nfzehn Minuten nach der ordnungsm?ssigen Zeit an den Ort seiner Bestimmung.
Der Hilfsw?rter, ein infolge des bei seinem Dienst unumg?nglichen, schnellen Temperaturwechsels schwinds?chtig gewordener Mensch, der mit ihm im Dienst abwechselte, stand schon fertig zum Aufbruch auf der kleinen, sandigen Plattform des H?uschens, dessen grosse Nummer schwarz auf weiss weithin durch die St?mme leuchtete.
Die beiden M?nner reichten sich die H?nde, machten sich einige kurze Mitteilungen und trennten sich. Der eine verschwand im Innern der Bude, der andere ging quer ?ber die Strecke, die Fortsetzung jener Strasse benutzend, welche Thiel gekommen war. Man h?rte sein krampfhaftes Husten erst n?her, dann ferner durch die St?mme, und mit ihm verstummte der einzige menschliche Laut in dieser Ein?de. Thiel begann wie immer so auch heute damit, das enge, viereckige Steingebauer der W?rterbude auf seine Art f?r die Nacht herzurichten. Er tat es mechanisch, w?hrend sein Geist mit dem Eindruck der letzten Stunden besch?ftigt war. Er legte sein Abendbrot auf den schmalen, braungestrichenen Tisch an einem der beiden schlitzartigen Seitenfenster, von denen aus man die Strecke bequem ?bersehen konnte. Hierauf entz?ndete er in dem kleinen, rostigen ?fchen ein Feuer und stellte einen Topf kalten Wassers darauf. Nachdem er schliesslich noch in die Ger?tschaften Schaufel, Spaten, Schraubstock usw. einige Ordnung gebracht hatte, begab er sich ans Putzen seiner Laterne, die er zugleich mit frischem Petroleum versorgte.
Als dies geschehen war, meldete die Glocke mit drei schrillen Schl?gen, die sich wiederholten, dass ein Zug in der Richtung von Breslau her aus der n?chstliegenden Station abgelassen sei. Ohne die mindeste Hast zu zeigen, blieb Thiel noch eine gute Weile im Innern der Bude, trat endlich, Fahne und Patronentasche in der Hand, langsam ins Freie und bewegte sich tr?gen und schl?rfenden Ganges ?ber den schmalen Sandpfad, dem etwa zwanzig Schritt entfernten Bahn?bergang zu. Seine Barrieren schloss und ?ffnete Thiel vor und nach jedem Zuge gewissenhaft, obgleich der Weg nur selten von jemand passiert wurde.
Er hatte seine Arbeit beendet und lehnte jetzt wartend an der schwarzweissen Sperrstange.
Die Strecke schnitt rechts und links gradlinig in den unabsehbaren, gr?nen Forst hinein; zu ihren beiden Seiten stauten die Nadelmassen gleichsam zur?ck, zwischen sich eine Gasse freilassend, die der r?tlichbraune, kiesbestreute Bahndamm ausf?llte. Die schwarzen parallellaufenden Geleise darauf glichen in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren, eisernen Netzmasche, deren schmale Str?hne sich im ?ussersten S?den und Norden in einem Punkte des Horizontes zusammenzogen.
Der Wind hatte sich erhoben und trieb leise Wellen den Waldrand hinunter und in die Ferne hinein. Aus den Telegraphenstangen, die die Strecke begleiteten, t?nten summende Akkorde. Auf den Dr?hten, die sich wie das Gewebe einer Riesenspinne von Stange zu Stange fortrankten, klebten in dichten Reihen Scharen zwitschernder V?gel. Ein Specht flog lachend ?ber Thiels Kopf weg, ohne dass er eines Blickes gew?rdigt wurde.
Die Sonne, welche soeben unter dem Rande m?chtiger Wolken herabhing, um in das schwarzgr?ne Wipfelmeer zu versinken, goss Str?me von Purpur ?ber den Forst. Die S?ulenarkaden der Kiefernst?mme jenseit des Dammes entz?ndeten sich gleichsam von innen heraus und gl?hten wie Eisen.
Auch die Geleise begannen zu gl?hen, feurigen Schlangen gleich, aber sie erloschen zuerst. Und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die H?he, erst die Sch?fte der Kiefern, weiter den gr?ssten Teil ihrer Kronen in kaltem Verwesungslichte zur?cklassend, zuletzt nur noch den ?ussersten Rand der Wipfel mit einem r?tlichen Schimmer streifend. Lautlos und feierlich vollzog sich das erhabene Schauspiel. Der W?rter stand noch immer regungslos an der Barriere. Endlich trat er einen Schritt vor. Ein dunkler Punkt am Horizonte, da wo die Geleise sich trafen, vergr?sserte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. Pl?tzlich bekam er Bewegung und n?herte sich. Durch die Geleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein dumpfes Get?se, das, lauter und lauter werdend, zuletzt den Hufschl?gen eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht un?hnlich war.
Ein Keuchen und Brausen schwoll stossweise fernher durch die Luft. Dann pl?tzlich zerriss die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erf?llte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte -- ein starker Luftdruck -- eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Unget?m war vor?ber. So wie sie anwuchsen, starben nach und nach die Ger?usche. Der Dunst verzog sich. Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der Zug in der Ferne, und das alte heilge Schweigen schlug ?ber dem Waldwinkel zusammen.
>>Minna,<< fl?sterte der W?rter wie aus einem Traum erwacht und ging nach seiner Bude zur?ck. Nachdem er sich einen d?nnen Kaffee aufgebr?ht, liess er sich nieder und starrte, von Zeit zu Zeit einen Schluck zu sich nehmend, auf ein schmutziges St?ck Zeitungspapier, das er irgendwo an der Strecke aufgelesen.
Nach und nach ?berkam ihn eine seltsame Unruhe. Er schob es auf die Backofenglut, welche das St?bchen erf?llte, und riss Rock und Weste auf, um sich zu erleichtern. Wie das nichts half, erhob er sich, nahm einen Spaten aus der Ecke und begab sich auf das geschenkte ?ckerchen.
Es war ein schmaler Streifen Sandes, von Unkraut dicht ?berwuchert. Wie schneeweisser Schaum lag die junge Bl?tenpracht auf den Zweigen der beiden Zwergobstb?umchen, welche darauf standen.
Thiel wurde ruhig und ein stilles Wohlgefallen beschlich ihn.
Nun also an die Arbeit.
Der Spaten schnitt knirschend in das Erdreich; die nassen Schollen fielen dumpf zur?ck und br?ckelten auseinander.
Eine Zeitlang grub er ohne Unterbrechung. Dann hielt er pl?tzlich inne und sagte laut und vernehmlich vor sich hin, indem er dazu bedenklich den Kopf hin und her wiegte: >>Nein, nein, das geht ja nicht,<< und wieder: >>nein, nein, das geht ja gar nicht.<<
Es war ihm pl?tzlich eingefallen, dass ja nun Lene des ?ftern herauskommen w?rde, um den Acker zu bestellen, wodurch dann die hergebrachte Lebensweise in bedenkliche Schwankungen geraten musste. Und j?h verwandelte sich seine Freude ?ber den Besitz des Ackers in Widerwillen. Hastig, wie wenn er etwas Unrechtes zu tun im Begriff gestanden h?tte, riss er den Spaten aus der Erde und trug ihn nach der Bude zur?ck. Hier versank er abermals in dumpfe Gr?belei. Er wusste kaum warum, aber die Aussicht, Lene ganze Tage lang bei sich im Dienst zu haben, wurde ihm, so sehr er auch versuchte, sich damit zu vers?hnen, immer unertr?glicher. Es kam ihm vor, als habe er etwas ihm Wertes zu verteidigen, als versuchte jemand sein Heiligstes anzutasten, und unwillk?rlich spannten sich seine Muskeln in gelindem Krampfe, w?hrend ein kurzes herausforderndes Lachen seinen Lippen entfuhr. Vom Widerhall dieses Lachens erschreckt, blickte er auf und verlor dabei den Faden seiner Betrachtungen. Als er ihn wiedergefunden, w?hlte er sich gleichsam in den alten Gegenstand.
Und pl?tzlich zerriss etwas wie ein dichter, schwarzer Vorhang in zwei St?cke, und seine umnebelten Augen gewannen einen klaren Ausblick. Es war ihm auf einmal zumute, als erwache er aus einem zweij?hrigen toten?hnlichen Schlaf und betrachte nun mit ungl?ubigem Kopfsch?tteln all das Haarstr?ubende, welches er in diesem Zustand begangen haben sollte. Die Leidensgeschichte seines ?ltesten, welche die Eindr?cke der letzten Stunden nur noch hatten besiegeln k?nnen, trat deutlich vor seine Seele. Mitleid und Reue ergriff ihn, sowie auch eine tiefe Scham dar?ber, dass er diese ganze Zeit in schmachvoller Duldung hingelebt hatte, ohne sich des lieben, hilflosen Gesch?pfes anzunehmen, ja, ohne nur die Kraft zu finden, sich einzugestehen, wie sehr dieses litt.
?ber den selbstqu?lerischen Vorstellungen all seiner Unterlassungss?nden ?berkam ihn eine schwere M?digkeit, und so entschlief er mit gekr?mmtem R?cken, die Stirn auf die Hand, diese auf den Tisch gelegt.
Eine Zeitlang hatte er so gelegen, als er mit erstickter Stimme mehrmals den Namen >>Minna<< rief.
Ein Brausen und Sausen f?llte sein Ohr, wie von unermesslichen Wassermassen; es wurde dunkel um ihn, er riss die Augen auf und erwachte. Seine Glieder flogen, der Angstschweiss drang ihm aus allen Poren, sein Puls ging unregelm?ssig, sein Gesicht war nass von Tr?nen.
Es war stockdunkel. Er wollte einen Blick nach der T?r werfen, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Taumelnd erhob er sich, noch immer w?hrte seine Herzensangst. Der Wald draussen rauschte wie Meeresbrandung, der Wind warf Hagel und Regen gegen die Fenster des H?uschens. Thiel tastete ratlos mit den H?nden umher. Einen Augenblick kam er sich vor wie ein Ertrinkender -- da pl?tzlich flammte es bl?ulich blendend auf, wie wenn Tropfen ?berirdischen Lichtes in die dunkle Erdatmosph?re herabs?nken, um sogleich von ihr erstickt zu werden.
Der Augenblick gen?gte, um den W?rter zu sich selbst zu bringen. Er griff nach seiner Laterne, die er auch gl?cklich zu fassen bekam, und in diesem Augenblick erwachte der Donner am fernsten Saume des m?rkischen Nachthimmels. Erst dumpf und verhalten grollend, w?lzte er sich n?her in kurzen, brandenden Erzwellen, bis er, zu Riesenst?ssen anwachsend, sich endlich, die ganze Atmosph?re ?berflutend, dr?hnend, sch?tternd und brausend entlud.
Die Scheiben klirrten, die Erde erbebte.
Thiel hatte Licht gemacht. Sein erster Blick, nachdem er die Fassung wieder gewonnen, galt der Uhr. Es lagen kaum f?nf Minuten zwischen jetzt und der Ankunft des Schnellzuges. Da er glaubte, das Signal ?berh?rt zu haben, begab er sich, so schnell als Sturm und Dunkelheit erlaubten, nach der Barriere. Als er noch damit besch?ftigt war, diese zu schliessen, erklang die Signalglocke. Der Wind zerriss ihre T?ne und warf sie nach allen Richtungen auseinander. Die Kiefern bogen sich und rieben unheimlich knarrend und quietschend ihre Zweige aneinander. Einen Augenblick wurde der Mond sichtbar, wie er gleich einer blassgoldenen Schale zwischen den Wolken lag. In seinem Lichte sah man das W?hlen des Windes in den schwarzen Kronen der Kiefern. Die Blattgeh?nge der Birken am Bahndamm wehten und flatterten wie gespenstige Rossschweife. Darunter lagen die Linien der Geleise, welche, vor N?sse gl?nzend, das blasse Mondlicht in einzelnen Flecken aufsogen.
Thiel riss die M?tze vom Kopfe. Der Regen tat ihm wohl und lief vermischt mit Tr?nen ?ber sein Gesicht. Es g?rte in seinem Hirn; unklare Erinnerungen an das, was er im Traum gesehen, verjagten einander. Es war ihm gewesen, als w?rde Tobias von jemand misshandelt und zwar auf eine so entsetzliche Weise, dass ihm noch jetzt bei dem Gedanken daran das Herz stille stand. Einer anderen Erscheinung erinnerte er sich deutlicher. Er hatte seine verstorbene Frau gesehen. Sie war irgendwoher aus der Ferne gekommen, auf einem der Bahngeleise. Sie hatte recht kr?nklich ausgesehen und statt der Kleider hatte sie Lumpen getragen. Sie war an Thiels H?uschen vor?bergekommen, ohne sich danach umzuschauen und schliesslich -- hier wurde die Erinnerung undeutlich -- war sie aus irgend welchem Grunde nur mit grosser M?he vorw?rts gekommen und sogar mehrmals zusammengebrochen.
Thiel dachte weiter nach, und nun wusste er, dass sie sich auf der Flucht befunden hatte. Es lag ausser allem Zweifel, denn weshalb h?tte sie sonst diese Blicke voll Herzensangst nach r?ckw?rts gesandt und sich weiter geschleppt, obgleich ihr die F?sse den Dienst versagten. O diese entsetzlichen Blicke!
Aber es war etwas, das sie mit sich trug, in T?cher gewickelt, etwas Schlaffes, Blutiges, Bleiches, und die Art, mit der sie darauf niederblickte, erinnerte ihn an Szenen der Vergangenheit.
Er dachte an eine sterbende Frau, die ihr kaum geborenes Kind, das sie zur?cklassen musste, unverwandt anblickte, mit einem Ausdruck tiefsten Schmerzes, unfassbarer Qual, jenem Ausdruck, den Thiel ebensowenig vergessen konnte, als dass er einen Vater und eine Mutter habe.
Wo war sie hingekommen? Er wusste es nicht. Das aber trat ihm klar vor die Seele: sie hatte sich von ihm losgesagt, ihn nicht beachtet, sie hatte sich fortgeschleppt immer weiter und weiter durch die st?rmische, dunkle Nacht. Er hatte sie gerufen: >>Minna, Minna,<< und davon war er erwacht.
Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Unget?ms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel.
Thiel f?hlte ein Grauen, und je n?her der Zug kam, eine um so gr?ssere Angst; Traum und Wirklichkeit verschmolzen ihm in eins. Noch immer sah er das wandernde Weib auf den Schienen, und seine Hand irrte nach der Patronentasche, als habe er die Absicht, den rasenden Zug zum Stehen zu bringen. Zum Gl?ck war es zu sp?t, denn schon flirrte es vor Thiels Augen von Lichtern, und der Zug raste vor?ber.
Den ?brigen Teil der Nacht fand Thiel wenig Ruhe mehr in seinem Dienst. Es dr?ngte ihn daheim zu sein. Er sehnte sich, Tobi?schen wiederzusehen. Es war ihm zumute, als sei er durch Jahre von ihm getrennt gewesen. Zuletzt war er in steigender Bek?mmernis um das Befinden des Jungen mehrmals versucht, den Dienst zu verlassen.
Um die Zeit hinzubringen beschloss Thiel, sobald es d?mmerte, seine Strecke zu revidieren. In der Linken einen Stock, in der Rechten einen langen, eisernen Schraubschl?ssel schritt er denn auch alsbald auf dem R?cken einer Bahnschiene in das schmutzig graue Zwielicht hinein.
Hin und wieder zog er mit dem Schraubschl?ssel einen Bolzen fest oder schlug an eine der runden Eisenstangen, welche die Geleise untereinander verbanden.
Regen und Wind hatten nachgelassen, und zwischen zerschlissenen Wolkenschichten wurden hie und da St?cke eines blassblauen Himmels sichtbar.
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