Read Ebook: Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie by Cassirer Ernst
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Ebook has 99 lines and 23943 words, and 2 pages
PHILOSOPHISCHE VORTR?GE VER?FFENTLICHT VON DER KANTGESELLSCHAFT.
UNTER MITWIRKUNG VON HANS VAIHINGER UND MAX FRISCHEISEN-K?HLER HERAUSGEGEBEN VON ARTHUR LIEBERT. Nr. 22.
Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie
von
Ernst Cassirer
Berlin Verlag von Reuther & Reichard 1919
Kantgesellschaft.
#Vorstand#: #Gottfried Meyer#, Dr. med. , Geh. Oberreg.-Rat, Kurator der Universit?t Halle a. S., Reilstr. 53.
#?brige Mitglieder des Verwaltungs-Ausschusses#:
#Max Frischeisen-K?hler#, Dr., a. o. Professor an der Universit?t Halle a. S., Mozartstr. 24.
#Karl Gerhard#, Dr., Geh. Reg.-Rat, Direktor d. Univ.-Bibliothek Halle a. S., Karlstr. 36.
#Berthold von Kern#, Exz., Dr. med. et phil. , Prof., Obergeneralarzt, Berlin-Steglitz, Hohenzollernstr. 6.
#Heinrich Lehmann#, Dr. phil. , Dr. med. , Geheimer Kommerzienrat, Halle a. S., Burgstr. 46.
#Paul Menzer#, Dr., o. ?. Professor an der Universit?t Halle a. S., Fehrbellinstr. 2.
#Rudolf Stammler#, Dr. jur. et phil. , Geh. Reg.-Rat, o. ?. Prof. an der Universit?t Berlin, Charlottenburg, Knesebeckstr. 20-21.
#Theodor Ziehen#, Dr., Geh. Med.-Rat, o. ?. Professor an der Universit?t Halle a. S., Ulestr. 1.
#Gesch?ftsf?hrer.#
#Hans Vaihinger#, Dr., Geh. Reg.-Rat, o. ?. Prof. a. d. Universit?t Halle a. S., Reichardtstr. 15.
#Arthur Liebert#, Dr., Dozent a. d. Berl. Handels-Hochschule, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48.
Die Kantgesellschaft ist gelegentlich der hundertsten Wiederkehr des Todestages Immanuel Kants von Prof Dr. ~Hans Vaihinger~ begr?ndet worden. Sie verfolgt den Zweck, von der Grundlage der Kantischen Philosophie aus die Weiterentwicklung der Philosophie ?berhaupt zu f?rdern. Ohne ihre Mitglieder irgendwie zur Gefolgschaft gegen?ber der Kantischen Philosophie zu verpflichten, hat die Kantgesellschaft keine andere Tendenz als die von Kant selbst ausgesprochene, durch das Studium seiner Philosophie ~philosophieren~ zu ~lehren~.
Ihren Zweck sucht die Kantgesellschaft in erster Linie zu verwirklichen durch die >>#Kantstudien#<<; die Mitglieder der Kantgesellschaft erhalten diese Zeitschrift unentgeltlich zugesandt; dasselbe ist der Fall mit den >>#Erg?nzungsheften#<< der >>Kantstudien<<, welche jedesmal eine gr?ssere geschlossene Abhandlung enthalten . Ausserdem erhalten die Mitglieder kostenlos j?hrlich 1-2 B?nde der >>#Neudrucke# seltener philosophischer Werke des 18. und 19. Jahrh.<<, sowie die von der Gesellschaft ver?ffentlichten >>#Philosophischen Vortr?ge#<<, ebenfalls 3-5 in einem Jahre.
Das Gesch?ftsjahr der Kantgesellschaft ist das Kalenderjahr; der ~Eintritt kann aber jederzeit erfolgen~. Die bis dahin erschienenen Ver?ffentlichungen des betr. Jahrganges werden den Neueintretenden ~nachgeliefert~. Satzungen, Mitgliederverzeichnis u. s. w. sind unentgeltlich durch den stellv. Gesch?ftsf?hrer Dr. ~Arthur Liebert~, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48, zu beziehen, an den auch die Beitrittserkl?rungen sowie der Jahresbeitrag zu richten sind.
Vortrag,
gehalten in der Berliner Abteilung der Kantgesellschaft am 15. November 1918.
Goethes Wort, dass >>alles Lebendige eine Atmosph?re um sich her bilde<<, gilt in ganz besonderem Masse auch von den grossen philosophischen Gedankenbildungen. Sie alle stehen nicht lediglich abgel?st im leeren Raume des Begriffs und der Abstraktion, sondern sie bew?hren sich nach den verschiedensten Seiten hin als lebendige geistige Triebkr?fte. Ihr wahrhafter Bestand tritt erst in dieser Mannigfaltigkeit der Wirkungen, die sie auf ihre Zeit und auf die grossen Individuen ?ben, ganz hervor. Aber in dieser Breite der Wirkung liegt freilich zugleich f?r die Sch?rfe und Bestimmtheit ihres Begriffs eine unmittelbare Gefahr. Je m?chtiger der Strom anschwillt, um so schwerer wird es, in ihm und seinem Laufe die Reinheit der urspr?nglichen Quelle wieder zu erkennen. So sieht sich hier der Historiker der Philosophie und der allgemeinen Geistesgeschichte h?ufig vor ein eigent?mliches methodisches Dilemma gestellt. Er kann nicht darauf verzichten, einen philosophischen Grundgedanken von systematischer Kraft und Bedeutung in seine geschichtlichen Verzweigungen und Weiterbildungen zu verfolgen: denn erst in dieser Form des Wirkens erf?llt sich sein konkret geschichtliches Sein. Aber auf der anderen Seite scheint damit die charakteristische Bestimmtheit, die Einheit und Geschlossenheit, die der Gedanke im Geiste seines ersten Urhebers besass, mehr und mehr verloren zu gehen. Indem der Gedanke fortzuschreiten scheint, r?ckt er damit leise von Ort zu Ort. Die F?lle der geschichtlichen Wirksamkeit scheint er nur auf Kosten seiner logischen Klarheit gewinnen zu k?nnen; der anf?nglich feste Umriss des Begriffs verwischt sich mehr und mehr, je weiter wir seinen mittelbaren und abgeleiteten historischen Folgen nachgehen.
Nirgends tritt dieser Sachverhalt und dieses Schicksal der grossen philosophischen Systeme deutlicher als in der Entwicklung der Kantischen Philosophie zutage. Die Kantische Lehre hat von ihrem ersten Auftreten an ihre innere Lebendigkeit dadurch erwiesen, dass sie die verschiedenartigsten geistigen Elemente und Kr?fte an sich zog und mit ihnen und aus ihnen eine neue eigent?mliche Atmosph?re um sich herum schuf. Aber immer unkenntlicher scheint durch diesen Dunstkreis, der sich um ihn lagert, der eigentliche gedankliche Kern des Kantischen Systems zu werden. Die Philosophiegeschichte wie die allgemeine Geistesgeschichte zeigen hier die gleiche typische Entwicklung. Ebenso heterogen und widerstreitend wie die theoretisch-spekulative Auslegung der Kantischen Grundlehren bei Fichte und Schelling, bei Schopenhauer, Fries und Herbart gewesen ist, ist auch der Eindruck gewesen, den Geister wie Herder und Goethe, Schiller und Kleist von ihr empfangen haben. Sie alle suchten in ihr nicht in erster Linie eine abstrakt-begriffliche Doktrin, sondern sie empfanden sie als unmittelbare Lebensmacht. Aber indem sie sie in dieser Weise aufnahmen, teilten sie ihr zugleich das eigene charakteristische Lebensgef?hl mit. Im positiven und im negativen Sinne, in dem Widerstand, den sie der Kantischen Lehre leisten und in der Gewalt, mit der sie sich durch sie ergreifen und bestimmen lassen, sprechen alle diese M?nner zugleich die eigene Gesamtanschauung vom Inhalt und Sinn des Daseins aus und bringen sich die Grundrichtung ihres Strebens zu subjektiver Bewusstheit und Klarheit.
Keiner hat diese Bedeutung der Kantischen Lehre tiefer und innerlicher erfahren, als Heinrich von Kleist -- und sie tritt gerade deshalb bei ihm um so eindringlicher hervor, als er sich ihr mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, mit der ganzen pers?nlichen Energie seines Wesens widersetzt hat. Wenn Goethe der Kantischen Philosophie von Anfang an mit einer gewissen heiteren Gelassenheit und Sicherheit gegen?bersteht, um dann doch durch Motive, die in seiner eigenen Entwicklung lagen, mehr und mehr in ihren Bannkreis zu geraten, wenn Schiller sich ihr, nach der ersten genaueren Kenntnis, mit unbedingtem Eifer hingibt und nicht eher ruht, als bis er sie in eindringendem methodischen Studium ganz durchdrungen und bew?ltigt hat; -- so scheint Kleist weder zu dem einen noch zum andern die Kraft zu besitzen. Er str?ubt sich gegen den Gedanken, dass auch er eines von den >>Opfern der Torheit<< werden solle, deren die Kantische Philosophie schon so viele auf dem Gewissen habe, aber er f?hlt sich andererseits ohnm?chtig, das dialektische Netz, das sich dichter und dichter um ihn legt, mit einem raschen Entschluss zu zerreissen. Er unterliegt einer geistigen Gewalt, die er sich nicht zu deuten weiss, -- die er seinem eigenen Wesen und seiner Natur als fremd empfindet. Und damit ist f?r ihn das Ganze seines geistigen Seins vernichtet. >>Mein einziges und h?chstes Ziel -- so klagt er -- ist gesunken; ich habe keines mehr.<< Denn es ist nicht dieses oder jenes ~Resultat~ der Weltbetrachtung, das ihm durch Kant geraubt ist, sondern das Ganze dessen, was er bisher an rein inneren Forderungen, an logischen und ethischen ~Postulaten~ in sich trug. Der Wahrheitsbegriff selbst hat seinen Sinn und Gehalt verloren. >>Ich hatte schon als Knabe<< -- so schreibt Kleist in jenem bekannten Brief an Wilhelmine -- >>mir den Gedanken angeeignet, dass die Vervollkommnung der Zweck der Sch?pfung w?re. Ich glaubte, dass wir einst nach dem Tode von der Stufe der Vervollkommnung, die wir auf diesem Sterne erreichten, auf einem andern weiter fortschreiten w?rden, und dass wir den Schatz von Wahrheiten, den wir hier sammelten, auch dort einst brauchen k?nnten. Aus diesem Gedanken bildete sich so nach und nach eine eigene Religion und das Bestreben, nie auf einen Augenblick hienieden still zu stehen, und immer unaufh?rlich einem h?hern Grade von Bildung entgegenzuschreiten, ward bald das einzige Prinzip meiner T?tigkeit. ~Bildung~ schien mir das einzige Ziel, das des Bestrebens, ~Wahrheit~ der einzige Reichtum, der des Besitzes w?rdig ist.<< Nun aber zeigt ihm die Kantische Philosophie, wie er sie begreift, wie in diesem Ziele sich eine blosse Illusion des Verstandes verbirgt. >>Wir k?nnen nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr -- und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich ... Seit diese Ueberzeugung, n?mlich, dass hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch anger?hrt. Ich bin unt?tig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich an das offene Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie, eine innerliche Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Kaffeeh?user, ich habe Schauspiele und Konzerte besucht, um mich zu zerstreuen -- -- -- und dennoch war der einzige Gedanke, den meine Seele in diesem ?usseren Tumulte mit gl?hender Angst bearbeitete, immer nur dieser: dein ~einziges~, dein ~h?chstes~ Ziel ist gesunken.<<
Mit der Gegenst?ndlichkeit und Bestimmtheit, die schon den grossen Dichter kennzeichnet, ist hier der innere Kampf dargestellt, den die Kantische Lehre in Kleist erregt hat. Und doch: wenn man die Briefe Kleists an die Braut und an die Schwester aus dieser Zeit wieder und wieder liest, wenn man sie fr?heren brieflichen Aeusserungen gegen?berstellt und sie mit der Gesamtheit dessen vergleicht, was uns ?ber seine Jugend und Bildungsgeschichte bekannt ist, so kn?pfen sich hier immer neue R?tsel und Probleme. Zun?chst n?mlich besteht kein Zweifel daran, dass es nicht der ?berhaupt ~erste~ Eindruck der Kantischen Philosophie ist, der in diesen Kleistischen Briefen zum Ausdruck kommt. Die Briefe an Wilhelmine und Ulrike sind am 22. und 23. M?rz 1801 geschrieben; aber schon im August 1800 hatte ein Brief an die Schwester eine eigene Schrift Kleists ?ber die Kantische Philosophie, die noch in Frankfurt abgefasst sein muss, erw?hnt und um ihre Zusendung gebeten. Und er hatte um diese Zeit Kants Lehre nicht nur fl?chtig kennen gelernt, sondern er hatte ihr bereits in seinem eigenen >>Lebensplan<< -- man weiss, welches Gewicht dieses Wort f?r dem jungen Kleist besitzt, -- eine bestimmte Stelle zugewiesen. Im November 1800 spricht er zu Wilhelmine von dem Plan, nach Paris zu gehen, um die neueste Philosophie nach Frankreich, wo man bisher von ihr noch gar keine Kenntnis habe, zu verpflanzen. Konnte Kleist einen solchen Plan fassen, noch ehe er selbst mit den Grundz?gen der Kantischen Lehre vertraut war? Und in der Tat hatte er sich, wie eine genauere Betrachtung des Briefwechsels zeigt, damals mit der Kantischen Lehre wenigstens insoweit vertraut gemacht, dass ihm die Kantische Begriffssprache und Terminologie in den Hauptz?gen gel?ufig geworden war. Eine Stelle in einem Schreiben an Wilhelmine vom Mai 1800 ordnet eine Frage, die er ihr vorlegt und die er in der bekannten pedantischen Umst?ndlichkeit dieser Jugendbriefe entwickelt, den drei Gesichtspunkten unter, was der ~Verstand~, was die ~Urteilskraft~ und was die ~Vernunft~ an ihr zu erfassen verm?ge; wobei diese drei Funktionen genau nach der Weisung, die eine Stelle der Kantischen Anthropologie gibt, gegen einander abgegrenzt und einander gegen?bergestellt werden. Noch bedeutsamer und charakteristischer aber ist es, dass Kleist um diese Zeit in seinen religionsphilosophischen Ueberzeugungen v?llig auf Kantischem Boden steht. Mit Recht hat man auf die vielfachen w?rtlichen Ankl?nge verwiesen, die seine Briefe an einzelne Stellen der Kantischen >>Religion innerhalb der Grenze der blossen Vernunft<< enthalten. Der Gedanke des reinen moralischen Vernunftglaubens, wie Kant ihn entwickelt und wie er ihn allem religi?sen Afterdienst entgegengesetzt hatte, war in Kleist v?llig lebendig geworden. Auf Grund dieses Gedankens schiebt er auch die Frage nach der individuellen Fortdauer des Individuums als blosse spekulative Gr?belei beiseite. Weder in transzendenten Glaubensvorstellungen ?ber einen Gott und ein Jenseits, noch in der Erf?llung ?usserlicher religi?ser Gebr?uche -- so erkl?rt er -- kann der eigentliche Kern der Religion bestehen; denn sonst w?rde die Religion selbst zu einem zweideutigen und wandelbaren Dinge, das in jedem Augenblick und an allen Orten der Erde verschieden w?re. >>Aber in uns flammt eine Vorschrift -- und die muss g?ttlich sein, weil sie ewig und allgemein ist, sie heisst: ~erf?lle Deine Pflicht~; und dieser Satz enth?lt die Lehren aller Religionen. Alle anderen S?tze folgen aus diesem und sind in ihm gegr?ndet, oder sie sind nicht darin begriffen, und dann sind sie unfruchtbar und unn?tz. Dass ein Gott sei, dass es ein ewiges Leben, einen Lohn f?r die Tugend, eine Strafe f?r das Laster gebe, das alles sind S?tze, die in jenem nicht gegr?ndet sind, und die wir also entbehren k?nnen. Denn gewiss sollen wir sie nach dem Willen der Gottheit selbst entbehren k?nnen, weil sie es uns selbst unm?glich gemacht hat, es einzusehen und zu begreifen. W?rdest Du nicht mehr tun, was recht ist, wenn der Gedanke an Gott und Unsterblichkeit nur ein Traum w?re? Ich nicht. Daher ~bedarf~ ich zwar zu meiner Rechtschaffenheit dieser S?tze nicht; aber zuweilen, wenn ich meine Pflicht erf?llt habe, erlaube ich mir, mit stiller Hoffnung an einen Gott zu denken, der mich sieht und an eine frohe Ewigkeit, die meiner wartet ... Aber dieser Glaube sei irrig oder nicht -- gleichviel! Es warte auf mich eine Zukunft oder nicht -- gleichviel! Ich erf?lle f?r dieses Leben meine Pflicht, und wenn Du mich fragst, ~warum?~, so ist die Antwort leicht: eben ~weil~ es meine Pflicht ist. Ich schr?nke mich daher mit meiner T?tigkeit ganz f?r dies Erdenleben ein. Ich will mich nicht um meine Bestimmung nach dem Tode k?mmern, aus Furcht dar?ber meine Bestimmung f?r dieses Leben zu vernachl?ssigen ... Dabei bin ich ?berzeugt, gewiss in den grossen ewigen Plan der Natur einzugreifen, wenn ich nur den Platz ganz erf?lle, auf den sie mich in dieser Erde setzte. Nicht umsonst hat sie mir diesen ~gegenw?rtigen~ Wirkungskreis angewiesen und gesetzt, ich vertr?umte diesen und forschte dem zuk?nftigen nach -- ist denn nicht die ~Zukunft~ eine ~kommende Gegenwart~ und will ich denn auch ~diese~ Gegenwart wieder vertr?umen?<<
S. Wilh. Herzog, H. v. Kleist 1911, S. 65.
Wir mussten diese beiden Briefstellen -- die eine aus einem Brief vom 19. September 1800, die andere aus einem Brief vom 22. M?rz 1801 -- bestimmt und ausf?hrlich einander gegen?berstellen: denn in dieser Entgegensetzung tritt mit voller Sch?rfe das ~Problem~ hervor, das Kleists inneres Verh?ltnis zur Kantischen Lehre in sich schliesst. Was vermochte den Sch?ler Kants, der Kleist schon im September 1800 gewesen ist, an der Kantischen Lehre so zu ergreifen, dass er jetzt seine gesamte Vergangenheit und all sein bisheriges Streben pl?tzlich vor sich versinken sah? Welches neue Moment ist es gewesen, das in ihm diese Ersch?tterung aller seiner fr?heren Grund?berzeugungen bewirkte? War es der Fortgang von Kants ethischen und religionsphilosophischen Schriften zu seinen theoretischen Hauptwerken, war es das intensive Studium der >>Kritik der reinen Vernunft<<, wodurch dieser pl?tzliche Umschwung sich in Kleist vollzog? Man hat es allgemein behauptet, ohne dass doch hierf?r, soviel ich sehe, ein wirklich b?ndiger Beweis erbracht worden w?re. Denn das traditionelle Schlagwort von dem >>Alleszermalmer<< Kant, dessen Gewalt nun auch Kleist an sich erfahren h?tte -- ein Schlagwort, das in diesem Zusammenhang regelm?ssig wiederzukehren pflegt -- besagt und erkl?rt im Grunde nicht das mindeste. Als der >>Alleszermalmer<< mochte Kant der ?lteren Generation, der Generation Mendelssohns erscheinen, die sich nach und nach daran gew?hnt hatte, in den Lehrs?tzen des herrschenden Wolffischen Schulsystems und in den Dogmen der rationalistischen Metaphysik, nicht nur Wahrheit, sondern ~die~ Wahrheit schlechthin zu sehen. Seither aber waren zwei Jahrzehnte vergangen, in denen die positive Kraft und der positive Gehalt der Kantischen Lehre nach allen Seiten hin unverkennbar hervorgetreten war. >>Was Kleist im besonderen an der Kantischen Lehre abstiess<< -- so schreibt Wilhelm Herzog, der das Verh?ltnis Kleists zu Kant von allen Biographen Kleists am eingehendsten behandelt hat -- >>war die fragw?rdige Relativit?t aller Dinge, war die eisige Skepsis, die ihm aus jener n?chternen Beschr?nkung angrinste. Er ersehnte das Absolute und Kant lehrte ihn, dass nichts feststeht.<< Aber wo und wann h?tte Kant, h?tte die >>Kritik der reinen Vernunft<< etwas derartiges gelehrt? Man mag allenfalls, obwohl ?usserst ungenau und irref?hrend, die kritische Philosophie als die Lehre von der Relativit?t aller ~Dinge~ bezeichnen: aber eine Relativierung des ~Wahrheitsbegriffs~ ist offenbar das genaue Gegenteil von dem, was sie geschichtlich und systematisch erstrebt hat. Hatte nicht Kant selbst mit wachsendem Nachdruck, mit leidenschaftlicher Heftigkeit seinen >>transzendentalen<< Idealismus dem psychologischen Idealismus Berkeleys gegen?bergestellt und hatte er den Unterschied beider Lehrbegriffe nicht darein gesetzt, dass Berkeleys Idealismus die Sinnenwelt und die Erfahrung in lauter Schein verwandle, w?hrend seine Absicht umgekehrt darauf gehe, die ~Wahrheit der Erfahrung~ zu begreifen und zu begr?nden? Oder war es eine Wahrheit von anderer Form und Herkunft, als die empirische Wahrheit, die Kleist durch Kants Lehre vernichtet fand? Was die sogenannte >>metaphysische<< Wahrheit, was den Versuch betrifft, aus reiner theoretischer Vernunft ?ber transzendente Probleme und Gegenst?nde zu urteilen, so war ihm freilich durch Kants Kritik der Boden entzogen. Aber auf sie hatte auch Kleist selbst, wie seine Beurteilung der religi?sen Fragen im Brief vom September 1800 beweist, innerlich bereits Verzicht geleistet. Und wie immer er ?ber sie urteilen mochte: das eine stand f?r ihn jedenfalls fest, dass unser Urteil ?ber den Sinn und Wert des Lebens selbst von der Entscheidung dieser Frage in keiner Weise abh?ngig sein k?nne und d?rfe. Denn dieser Wert -- das hatte Kleist noch eben in echt Kantischen Wendungen betont -- kann nicht auf die Annahme dieses oder jenes Lehrsatzes, nicht auf ein Wissen gegr?ndet sein, das zu erreichen nicht in unserer Macht steht, sondern er muss sich auf den Wert gr?nden, den die Pers?nlichkeit sich selbst gibt und den nur sie allein, unabh?ngig von allen fremden St?tzen und Hilfen, sich zu geben vermag. Und was diesen ethischen Selbstwert als solchen und seine Gewissheit betrifft, so war nicht der geringste Zweifel daran m?glich, dass Kant ihn immer und ?berall, in seinen theoretischen wie in seinen ethischen und religionsphilosophischen Schriften, mit der gleichen unersch?tterlichen Sicherheit behaupet hatte -- dass er ihn als allgemeing?ltig und notwendig, dass er ihn in jedem Sinne als schlechthin >>unbedingt<<, ja als den eigentlichen Ausdruck des Unbedingten ?berhaupt, ansah. So blieb hier nur die Wahrheit der Wissenschaft: die Wahrheit der Mathematik und Physik ?brig, die Kleist durch die kritische Lehre als bedroht und als vernichtet h?tte ansehen k?nnen. Aber konnte er ?bersehen, dass die Mathematik in der >>Kritik der reinen Vernunft<< ?berall als der >>Stolz der Vernunft<< bezeichnet und ger?hmt war, und dass gerade der Anteil an ihr es ist, der im kritischen System auch den Wahrheits- und Wissenschaftswert aller anderen theoretischen Disziplinen begr?ndet? Musste Kleist, der sich selber damals um die Physik und ihr wissenschaftliches Verst?ndnis bem?hte, nicht die gewaltige theoretische Arbeit begreifen und w?rdigen, die Kant daran gesetzt hatte, die ersten >>apriorischen<< Gr?nde dieser Wissenschaft zu finden und ihr erst dadurch die Festigkeit eines geschlossenen Systems zu geben? Wies nicht eben die Grundfrage der >>Kritik der reinen Vernunft<<: die Frage, wie synthetische Urteile apriori m?glich seien, immer wieder auf dieses Ziel, auf das Ziel der objektiven Begr?ndung des physikalischen Wissens in allgemeinen und notwendigen Vernunfts?tzen hin? Aber auch wenn man annimmt, dass Kleist, der Kant nicht mit k?hler sachlicher Kritik, sondern mit der h?chsten subjektiven Leidenschaft und mit subjektiver Befangenheit las, ?ber alle diese feinen methodischen Unterschiede hinwegging und dass er sich lediglich dem Gesamteindruck des Lehrbegriffs des transzendentalen Idealismus ?berliess, so sind damit keineswegs alle Schwierigkeiten beseitigt. Denn eben dieser Lehrbegriff musste Kleist seinen allgemeinen Grundz?gen nach schon vor dem entscheidenden Brief an Wilhelmine bekannt sein. Er wird in Kants ethischen und religionsphilosophischen Schriften ?berall vorausgesetzt und er bildet den latenten Mittelpunkt, auf den alles andere immer wieder zur?ckf?hrt. Man kann in Kants Schriften, welches Thema sie immer behandeln m?gen, keinen Schritt vorw?rts tun, ohne dieser, die gesamte Gedankenwelt Kants beherrschenden Voraussetzung allenthalben zu begegnen. Die Lehre Kants vom Intelligiblen, vom >>Noumenon<< der Freiheit bleibt unverst?ndlich, ohne ihr notwendiges, methodisches Korrelat -- ohne die Lehre von der Ph?nomenalit?t der sinnlich-empirischen Wirklichkeit. Wenn also Kleist jetzt durch diese Lehre in einem ganz neuen Sinne ergriffen und wenn er durch sie ?berw?ltigt wurde, so muss es ein neues gedankliches ~Motiv~ gewesen sein, das ihm aus ihr entgegentrat; -- so muss es eine v?llig neue ~Beleuchtung~ gewesen sein, in der er nunmehr das Ganze der kritisch-idealistischen Lehren erblickte.
Wir sehen somit: je weniger wir uns mit blossen allgemeinen Schlagworten begn?gen, je tiefer wir in den geistigen Prozess einzudringen suchen, der sich in Kleist vollzogen hat, und je konkreter wir die Anschauung dieses Prozesses in uns zu gestalten suchen, um so mehr h?ufen sich die R?tsel und Schwierigkeiten. Wie aber, wenn sich ein anderes Werk, als die >>Kritik der reinen Vernunft<< namhaft machen liesse, aus welchem Kleist seine neue Ansicht vom Wesen des transzendentalen Idealismus gesch?pft haben k?nnte, und aus dem auch die neue Stellungnahme, die er jetzt zu ihm einnimmt, unmittelbar verst?ndlich w?rde? Kleist spricht in seinem Bericht an Wilhelmine von >>der neueren ~sogenannten~ Kantischen Philosophie<<, mit der er seit kurzem bekannt geworden sei. Ein Ausdruck, der gewiss auffallen muss, denn von Kant und seiner Lehre wusste damals in Deutschland -- wie ein oft zitierter Vers besagt -- >>jedes Kind<< oder glaubte davon etwas zu wissen. Was bedeutete also diese merkw?rdige Umschreibung? Man w?rde sie sofort verstehen, wenn das Werk, auf das Kleist sich hier bezieht, sich selbst zwar als getreuen Ausdruck der Kantischen Lehre bezeichnete und ausgab -- wenn aber die Frage, ob dieser Anspruch zu Recht bestand, noch unentschieden und strittig war. Nun war im Jahre 1800 -- kaum ein Jahr vor dem Briefe Kleists an Wilhelmine -- eine Schrift erschienen, die schon in ihrer Vorrede aussprach, dass sie all das, was ausserhalb der Schule von der >>neueren Philosophie<< brauchbar sei, vollst?ndig darstellen wolle: -- >>vorgetragen in derjenigen Ordnung, in der es sich dem kunstlosen Nachdenken entwickeln m?sste<<. >>Die tieferen Zur?stungen, welche gegen Einw?rfe und Ausschweifungen des verk?nstelten Verstandes gemacht werden, das, was nur Grundlage f?r andere positive Wissenschaften ist, endlich, was bloss f?r die P?dagogik in weitestem Sinne, d. h. f?r die bedachte und willk?rliche Erziehung des Menschengeschlechtes geh?rt, sollte von dem Umfange derselben ausgeschlossen bleiben ..... Das Buch ist sonach nicht f?r Philosophen von Profession bestimmt .. Es sollte verst?ndlich sein f?r alle Leser, die ?berhaupt ein Buch zu verstehen verm?chten .. Es sollte anziehen und erw?rmen und den Leser kr?ftig von der Sinnlichkeit zum Uebersinnlichen fortreissen ..<< Wer mit der Denkweise, mit den Bildungsidealen und der inneren Bildungsgeschichte des jungen Kleist vertraut ist, der wird sich sagen m?ssen, wie sehr ihn schon die ~Ank?ndigung~ eines derartigen Zieles ergreifen musste. Und dass sein Interesse auf das Buch, dem sie angeh?rte, gelenkt wurde, daf?r musste, wenn nichts anderes, so schon der blosse ~Titel~ sorgen, der ?ber dem Buch stand. Die >>~Bestimmung des Menschen~<< sollte in ihm gelehrt werden. Das aber war das grosse Thema, das in Kleists Jugendbriefen fort und fort wiederkehrte, das ihn selbst unabl?ssig besch?ftigte und das er mit erm?dender Hartn?ckigkeit immer von neuem mit den Freunden, mit der Schwester, mit der Braut er?rterte. >>Lass uns beide, liebe Wilhelmine, -- so schrieb er z. B. im Jahre 1800 aus W?rzburg -- unsere Bestimmung ganz ins Auge fassen, um sie k?nftig einst ganz zu erf?llen. Dahin ~allein~ wollen wir unsere ganze T?tigkeit richten. Wir wollen alle unsere F?higkeiten ausbilden, eben nur um diese Bestimmung zu erf?llen .. Urteile selbst, wie k?nnen wir beschr?nkte Wesen, die wir von der Ewigkeit nur ein so unendlich kleines St?ck, unser spannenlanges Erdenleben ?bersehen, wie k?nnen wir uns getrauen, den Plan, den die Natur f?r die Ewigkeit entwarf, zu ergr?nden. Und wenn dies nicht m?glich ist, wie kann irgend eine gerechte Gottheit von uns verlangen, in diesen ihren ewigen Plan einzugreifen, von uns, die wir nicht einmal imstande sind, ihn zu denken. Aber die Bestimmung unseres ~irdischen~ Daseins, die k?nnen wir allerdings unzweifelhaft herausfinden, und diese zu erf?llen, das kann daher die Gottheit auch wohl mit Recht von uns fordern.<< Nehmen wir an, dass Kleist in der intellektuellen Stimmung, die aus diesem Brief spricht, einen Monat sp?ter in Berlin wieder eintraf: musste er in ihr nicht fast notwendig und mit lebendigstem Anteil nach einem Buche greifen, das damals soeben erschienen war und das die Bestimmung des Menschen zum Thema und ~Fichte~ zum Verfasser hatte? Fichte stand damals -- von allem andern abgesehen -- im Mittelpunkt des allgemeinen, des ?ffentlich-politischen und des ?ffentlich-literarischen Interesses. Der Atheismusstreit, der ihn gezwungen hatte, sein Lehramt in Jena aufzugeben, war ?berall noch in frischer Erinnerung. Berlin war das erste Asyl gewesen, das er gegen?ber der fortdauernden Verfolgung der kurs?chsischen Regierung gefunden hatte und das Haus Friedrich Schlegels und Dorothea Veits bot ihm die erste gastliche Aufnahme. Erw?gt man weiterhin, dass Kleist, als er von seiner W?rzburger Reise nach Berlin zur?ckkehrte, bereits die erste F?hlung mit den dortigen literarischen Zirkeln gewann -- ein Brief an Ulrike aus dieser Zeit berichtet, dass er wenig in Gesellschaften komme, dass aber von allen Kreisen die j?dischen ihm die liebsten sein w?rden, wenn sie nicht so preti?s mit ihrer Bildung t?ten -- so muss man es von vornherein f?r sehr unwahrscheinlich halten, dass er an einer Erscheinung wie Fichte und an einem Werk, auf das er sich so vielf?ltig hingewiesen sah und das sich ihm zudem durch die versprochene popul?re Form der Darstellung empfahl, achtlos vor?bergegangen sein sollte.
Aber freilich besitzen alle diese ?usseren Momente f?r sich allein keine Beweiskraft. Zu einer Entscheidung k?nnen wir nur aus dem sachlichen Inhalt des Fichteschen Werks heraus und aus dem Vergleich dieses Inhalts mit den Kleistischen Briefen gelangen. Die >>Bestimmung des Menschen<< ist f?r Fichtes eigene literarische und philosophische Entwicklung von entscheidender Bedeutung: sie bezeichnet genau und scharf den Wendepunkt, an welchem die >>Wissenschaftslehre<< jene neue Richtung nimmt, durch welche sie schliesslich in die sp?tere ~religionsphilosophische~ Fassung des Systems ?bergeht. Fichte steht in dieser Wendung unter dem bestimmenden Einfluss von Fr. Heinr. ~Jacobis~ Glaubenslehre. Der gesamte dritte positiv-aufbauende Teil des Fichteschen Werkes ist der Entwicklung des Glaubensbegriffs und dem Nachweis gewidmet, dass alle wahrhafte Realit?t, die uns zug?nglich sei, uns nur im Glauben gegeben und durch ihn allein vermittelt werde. Jacobis Wort, dass wir alle im Glauben geboren werden, wird hierbei ausdr?cklich zitiert und verst?rkt. Welche Gestalt aber nimmt nun, von diesem Punkte aus gesehen, der theoretische Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus an? Er bildet von jetzt ab nicht mehr das endg?ltige, schlechthin abschliessende ~Resultat~, sondern nur einen ~Durchgangspunkt~ der Betrachtung, der freilich als solcher unentbehrlich ist. Aus dem Standpunkt des ~Zweifels~, wie ihn der erste Teil der Schrift, und aus dem Standpunkt des ~Wissens~, wie ihn der zweite Teil der Schrift entwickelt, leuchtet erst die Notwendigkeit jenes Glaubens hervor, zu dem sie uns als letztes Ergebnis der philosophischen Reflexion hinf?hren will. Der ~Zweifel~ entsteht und er versch?rft sich mehr und mehr, indem wir unsern Begriff der >>Natur<<, mit welchem unsere unbefangene Betrachtung notwendig beginnt, mit den sittlichen Postulaten, mit dem Gedanken der Freiheit und Selbstverantwortung vergleichen, die wir gleichfalls als unabweisliche Forderung in uns tragen. Die Natur kann, sofern sie ?berhaupt gedacht wird, nur als schlechthin l?ckenloser Zusammenhang von Dingen und Kr?ften, nur als eine in sich geschlossene Abfolge von Ereignissen gedacht werden, in der jeder sp?tere Zustand durch den voraufgehenden vollst?ndig und eindeutig bedingt ist. Auch alle Erscheinungen des menschlichen Bewusstseins, auch all das, was wir Willensentscheidung und Willens?usserung nennen, m?ssen wir diesem Zusammenhang eingeordnet und untergeordnet denken. Der Wille ist selbst nur eine spezielle Form der wirkenden Naturkr?fte, die mit der Gesamtheit ihrer ?brigen Formen in genauester Verkn?pfung steht und von ihnen im strengsten Sinne abh?ngig bleibt. Nicht ~ich~ wirke, sondern jene allgemeine Potenz, jenes System von Kr?ften, das wir mit dem Namen >>Natur<< bezeichnen, wirkt in mir: und dem Ich bleibt nur das Zusehen, nur das abbildliche Bewusstsein dieser Wirksamkeit. Alles was da ist, ist durchg?ngig bestimmt; es ist, was es ist, und schlechthin nichts anderes. >>In jedem Teil des Seins lebt und wirkt das Ganze, weil jeder Teil nur durch das Ganze ist, was er ist; durch dieses aber notwendig ~das~ ist.<< >>Gib der Natur den Lauf eines Muskels, die Biegung eines Haares an einem bestimmten Individuum, und sie wird dir, wenn sie im Ganzen denken und dir antworten k?nnte, daraus alle guten Taten und alle Untaten seines Lebens von Anbeginn bis an sein Ende angeben. Der Tugendhafte ist eine edle, der Lasterhafte eine unedle und verwerfliche, jedoch aus dem Zusammenhange des Universums notwendig erfolgende Natur.<<
Umsonst erhebt gegen dieses festgef?gte System des Determinismus das sittliche Gef?hl und der sittliche Wunsch in uns Einspruch: der Determinismus, der nichts anderes als der Ausdruck des Denkens selbst und seines obersten Prinzips: des >>Satzes vom Grunde<< ist, >>erkl?rt<< zuletzt auch diese ihm scheinbar widerstreitenden W?nsche und vermag auch ihre Notwendigkeit einzusehen und zu deduzieren. Auf dem Boden des Naturbegriffs ist somit schlechterdings keine andere L?sung m?glich; hier gibt es kein Ausweichen vor der letzten entscheidenden Konsequenz. Wie aber, wenn wir uns gerade ?ber dieses Fundament in unserer Reflexion zu erheben verm?chten, wenn wir einsehen, dass es keine absolute, sondern nur eine relative Geltung besitzt? Ist denn das, was wir Natur, was wir das Sein und die Wirklichkeit der Dinge nennen, ein feststehendes, f?r uns nicht weiter aufl?sbares undurchdringliches ~Faktum~ -- oder ist es nicht vielmehr ein ~Begriff~, den wir selbst, den unser Intellekt und unser Wissen an die Betrachtung der Ph?nomene heranbringt? Und wenn dem so w?re: -- so w?ren wir freilich mit einem Schlage von dem unentrinnbaren Zwange, mit dem die Dinge uns bisher bedrohten, befreit. Man setze an die Stelle der Dinge an sich ~die Vorstellung~ von den Dingen, man entwickle die Regeln, nach denen diese Welt der Vorstellung aus urspr?nglichen Elementen, aus den ersten Anfangsdaten der Empfindung sich entwickelt und aufbaut: und die ganze Frage nimmt sofort eine andere Gestalt an. Der Zwang des Seins zerrinnt und l?st sich auf, in dem Masse, als wir das Sein selbst als ein blosses ~Bild~ begreifen, das der Gedanke vor sich hinstellt. Und eben in der Vermittlung dieser Einsicht besteht die charakteristische Aufgabe des Wissens. Das Wissen ist keine Wiedergabe und Repr?sentation eines f?r sich bestehenden absoluten Seins: sondern es zeigt umgekehrt, dass dieses angeblich absolute Sein ein Trugbild ist, das unsere Reflexion und unsere Einbildungskraft vor uns hinstellen. Der Trug ist bew?ltigt, sobald er einmal durchschaut ist; -- sobald wir eingesehen haben, wie er entsteht und nach den Gesetzen des denkenden Bewusstseins entstehen muss. Jetzt f?hlen wir uns der fatalistischen Notwendigkeit der Welt und des Weltzusammenhangs entr?ckt: denn wir begreifen, dass es nur die selbst?ndigen und dennoch unwillk?rlichen und insofern notwendigen Akte der Intelligenz, dass es ihre urspr?nglichen Setzungen und Tathandlungen sind, auf denen die M?glichkeit jeder Vorstellung von einem Dasein der Dinge beruht. Die Freiheit wird uns zur?ckgegeben, indem gleichzeitig die absolute, die dogmatische Substantialit?t der Welt versinkt. --
Kehren wir nunmehr, ehe wir der weiteren Ausf?hrung dieses Grundgedankens bei Fichte nachgehen, wieder zu Kleist und zu seinem Brief zur?ck. Es ist bekannt, dass Kleist, um Wilhelmine die Grundlehren des transzendentalen Idealismus zu verdeutlichen, von einem popul?ren Vergleich und Beispiel ausgeht. >>Wenn alle Menschen statt der Augen gr?ne Gl?ser h?tten, so w?rden sie urteilen m?ssen, die Gegenst?nde, welche sie dadurch erblicken, ~sind~ gr?n -- und nie w?rden sie entscheiden k?nnen; ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge geh?rt. So ist es mit dem Verstande.<< Wenn dieser Vergleich die Summe der Lehren der >>Kritik der reinen Vernunft<< ziehen wollte, so w?re er seltsam genug; denn gerade Kant hatte immer von neuem davor gewarnt, das, was er die >>Subjektivit?t<< der Anschauungsformen und der Kategorien nannte, durch >>ganz unzul?ngliche Beispiele<<, die dem Gebiet der Subjektivit?t der Sinnesqualit?ten entnommen sind, belegen und verdeutlichen zu wollen. F?r ihn, als Kritiker der Erkenntnis, besteht hier eine schlechthin nicht zu verwischende methodische Grunddifferenz; denn von Farben und T?nen lassen sich, wie er pr?gnant und nachdr?cklich betont, keine synthetischen Urteile apriori, keine wahrhaft allgemeing?ltigen und notwendigen Erkenntnisse und Wahrheiten gewinnen. So steht insbesondere die Raumanschauung f?r Kant mit der Farbenempfindung niemals auf der gleichen Linie, sondern bleibt ihrem Wahrheitscharakter nach von ihr durchaus verschieden. Anders aber war das Verh?ltnis, wie es sich nunmehr bei Fichte darstellte. Zwar den Vergleich mit dem Sehen durch gr?ne Gl?ser werden wir bei ihm nicht anzutreffen glauben; denn hier handelt es sich, wie Kleist selbst in einem sp?teren Briefe an Wilhelmine erkl?rt, um eine eigene Zutat Kleists, die er nur vor?bergehend zur popul?ren Verdeutlichung des Gedankens benutzte. >>Ich habe mich<< -- So schreibt er -- >>nur des Auges in meinem Briefe als eines ~erkl?renden~ Beispiels bedient, weil ich Dir selbst die trockene Sprache der Philosophie nicht vortragen konnte.<< Aber was nun in dieser Sprache bei Fichte wirklich vorgetragen wurde: das war nicht nur die Lehre von der Subjektivit?t der Farben und T?ne, sondern von der ebenso unbedingten und ausschliesslichen Subjektivit?t unserer gesamten Wahrnehmungs- und Anschauungswelt. >>In aller Wahrnehmung<< -- so belehrt in der >>Bestimmung des Menschen<< der Fichtesche >>Geist<< das >>Ich<<, mit dem er seine Zwiesprache h?lt -- >>nimmst du zun?chst nur dich selbst und deinen eigenen Zustand wahr; und was nicht in dieser Wahrnehmung liegt, wird ?berhaupt nicht wahrgenommen. Ich w?rde nicht m?de werden, es in allen Wendungen zu wiederholen, wenn ich bef?rchten m?sste, dass du es noch nicht begriffen, dir noch nicht unvertilgbar eingepr?gt h?ttest. -- Kannst du sagen: ich bin mir ?usserer Gegenst?nde bewusst? -- Keineswegs -- erwidert das Ich -- wenn ich es genau nehme; denn das Sehen und F?hlen usw., womit ich die Dinge umfasse, ist nicht das Bewusstsein selbst, sondern nur dasjenige, dessen ich mir am ersten und unmittelbarsten bewusst bin. Der Strenge nach k?nnte ich nur sagen: ich bin mir ~meines Sehens oder F?hlens der Dinge bewusst~ .... Nun so vergiss denn nie wieder, was du jetzt klar eingesehen hast. ~In aller Wahrnehmung nimmst du lediglich deinen eigenen Zustand wahr.~<<
Und an dieser prinzipiellen Entscheidung wird nicht das mindeste ge?ndert, wenn wir nun von den sinnlichen Qualit?ten zu den Gegenst?nden des mathematisch-physikalischen Wissens, wenn wir von der Welt der Tastempfindungen, des Geruchs und des Geschmacks, der Gesichts- und Geh?rsempfindungen zu der Welt des ~Raumes~ und der K?rper im Raume ?bergehen. Der Raum ist freilich kein Empfindungsinhalt; denn jeder Empfindungsinhalt ist als solcher ein schlechthin Unausgedehntes, auf einen blossen unfehlbaren Punkt Bez?gliches. Aber dass wir nun ?ber diesen blossen Punkt hinausgehen -- dass wir ihn zur Linie und Fl?che und dass wir schliesslich die Fl?che zum K?rper erweitern, das ist ebenfalls eine Notwendigkeit, die lediglich in den Gesetzen des Bewusstseins, in den Gesetzen unserer anschauenden Intelligenz und in nichts anderem gegr?ndet ist. Nicht die absolute Existenz einer >>?usseren<< Sache ergreifen wir hierin, sondern nur die Notwendigkeit unserer eigenen Anschauung, der aber kraft ihrer Natur diese Kraft des >>Hinausgehens<< ?ber den blossen punktuellen Empfindungsinhalt innewohnt. Was wir die Gewissheit der >>Aussenwelt<< zu nennen pflegen, das ist also auch hier nichts anderes als die Gewissheit jener objektivierenden Bedeutung, die der Anschauung selber eigen ist. Wir erfassen den Raum und die K?rperwelt nicht dadurch, dass wir sie passiv in unser Bewusstsein aufnehmen und sie als ein f?r sich Vorhandenes in ihm nur abspiegeln; sondern wir schauen in beiden nur unsere eigene Funktion der ~Verkn?pfung~ von Punkten, Linien und Fl?chen an. Es handelt sich nicht um eine Abbildung des >>Aeussern<< durch das >>Innere<<, sondern um eine Projektion des Innern zum Aeussern. So gilt es auch hier ohne jede Einschr?nkung: >>das Bewusstsein des ~Gegenstandes~ ist nur ein nicht daf?r erkanntes ~Bewusstsein meiner Erzeugung einer Vorstellung vom Gegenstande~<<. >>Du siehst sonach ein, dass alles Wissen lediglich ein Wissen von dir selbst ist, dass dein Bewusstsein nie ?ber dich selbst hinausgeht, und dass dasjenige, was du f?r ein Bewusstsein des Gegenstandes h?ltst, nichts ist als ein Bewusstsein deines ~Setzens eines Gegenstandes~, welches du nach einem inneren Gesetze deines Denkens mit der Empfindung zugleich notwendig vollziehst.<< >>Und nun<< -- so f?hrt wiederum der >>Geist<< in seiner Belehrung des >>Ich<< fort -- >>nun wird dir vollkommen klar sein, wie etwas, das doch aus dir selbst hervorgeht, dir als ein Sein ausser dir erscheinen k?nne, ja notwendig erscheinen m?sse. Du bist zur wahren Quelle der Vorstellungen von Dingen ausser dir hindurchgedrungen ... Du selbst bist das Ding; du selbst bist durch den innersten Grund deines Wesens, deine Endlichkeit vor dich selbst hingestellt, und aus dir selbst hinausgeworfen; und alles, was du ausser dir erblickst, bist immer du selbst. Man hat dieses Bewusstsein sehr passend ~Anschauung~ genannt ... ein t?tiges ~Hin~schauen dessen, was ich anschaue, ein Herausschauen meiner selbst aus mir selbst -- -- --. Darum ist auch dieses Ding dem Auge deines Geistes durchaus durchsichtig, weil es dein Geist selbst ist. Du teilst, du begrenzest, du bestimmst die m?glichen Formen der Dinge und die Verh?ltnisse dieser Formen vor aller Wahrnehmung vorher .... Es gibt keinen ?usseren Sinn, denn es gibt keine ?ussere Wahrnehmung. Wohl aber gibt es eine ?ussere Anschauung -- nicht ~des Dinges~ -- sondern diese ?ussere Anschauung -- dieses, ausserhalb des subjektiven und ihm als vorschwebend erscheinende ~Wissen~ -- ist selbst das Ding, und es gibt kein anderes.<<
Das also ist der Kreis, in welchen nach Fichte das Ich und sein Wissen gebannt ist; -- und in welchem freilich beide zugleich als unumschr?nkte Herrscher walten. Denn der Gedanke von einem blinden Zwange der Natur, der das Ich gefangen hielte, ist jetzt zugleich mit dem Gedanken von dem absoluten Dasein einer solchen Natur beseitigt. Das Ich ist frei geworden; denn wenn es in der realistischen Grundansicht als ein blosser Teil und als ein Produkt der Natur erschien, so erscheint jetzt vielmehr die Natur als sein Werk, als das Werk seines Wissens und seines Verstandes. Die Bedingung freilich, an welche diese Selbstbefreiung gekn?pft bleibt, ist, dass der neu errungene Welt- und Wissensbegriff nicht ver?ndert; dass also das Wissen nicht als ein Wissen von der Realit?t selbst, sondern als ein Wissen von Vorstellungen, ein Wissen von ~Bildern~ erkannt wird. Abermals wird dieses Resultat in Fichtes >>Bestimmung des Menschen<< in unerbittlicher Schroffheit hingestellt. Vergebens lehnt sich das Ich noch einmal gegen alle Konsequenzen, die in diesem Gedanken liegen, auf: es muss sie hinnehmen und anerkennen. >>Es gibt ?berall kein Dauerndes, weder ausser mir, noch in mir, sondern nur einen unaufh?rlichen Wechsel. Ich weiss ?berall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein ... Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich nach Weise der Bilder: -- Bilder, die vor?berschweben, ohne dass etwas sei, dem sie vor?berschweben, die durch Bilder von den Bildern zusammenh?ngen, Bilder ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck .... Alle Realit?t verwandelt sich in einen wunderbaren Traum.<< Verzweifelnd sucht das Ich bei dem Geiste, von dem es diese Lehre empfangen, irgend eine Hilfe und Rettung gegen dieses v?llige Versinken ins Nichts: es wird nur um so tiefer und erbarmungsloser in dieses Nichts zur?ckgestossen. >>Du wolltest wissen von deinem Wissen. Wunderst du dich, dass du auf deinem Wege auch nichts weiter erfuhrst, als -- wovon du wissen wolltest, von deinem Wissen selbst; und m?chtest du, dass es anders sei? .. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. ~Deine Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden, und ein System des Wissens ist notwendig ein System blosser Bilder, ohne alle Realit?t, Bedeutung und Zweck~ .... Und das ist denn das einzige Verdienst, das ich an dem Systeme, das wir soeben mit einander gefunden, r?hme: es zerst?rt und vernichtet den Irrtum. Wahrheit geben kann es nicht; denn es ist in sich selbst absolut leer. Nun suchst du denn doch etwas ausser dem blossen Bilde liegendes Reelles -- mit deinem guten Rechte, wie ich wohl weiss -- und eine andere Realit?t, als die soeben vernichtete .... Aber du w?rdest dich vergebens bem?hen, sie durch dein Wissen und aus deinem Wissen zu erschaffen, und mit deiner Erkenntnis zu umfassen. Hast du kein anderes Organ, sie zu ergreifen, so wirst du sie nimmer finden.<<
Denken wir uns Kleist als Leser dieser S?tze -- welchen Eindruck musste er von ihnen empfangen! Sein Schmerz, seine Verzweiflung und Vernichtung w?ren jetzt v?llig erkl?rt. In der Vorrede zur >>Bestimmung des Menschen<< hatte sich Fichte einen Leser gew?nscht, der alles, was in der Schrift gesagt werde, nicht nur historisch fasse, sondern der wirklich und in der Tat w?hrend des Lesens mit sich selbst rede, hin und her ?berlege, Resultate ziehe, Entschliessungen fasse und durch eigene Arbeit und Nachdenken, wie aus sich selbst, diejenige Denkart entwickle und sie in sich aufbaue, deren blosses Bild ihm im Buche vorgelegt werde. Wenn es irgend einen Leser gab, der dazu bestimmt war, diese Forderungen bedingungslos zu erf?llen, so war es Heinrich von Kleist. Er hat niemals einen Gedanken, der ihm nahe trat, bloss historisch aufgenommen; er lebte in den grossen gedanklichen Entscheidungen, in die er die ganze Glut und die ganze Kraft seiner Seele hineinlegte. Und er drang ?berall auf unbedingte Wahrhaftigkeit: auf ein r?cksichtsloses Entweder -- Oder. Wenn wirklich das Wissen als solches absolut leer, wenn es ein >>System blosser Bilder ohne alle Realit?t, Bedeutung und Zweck<< war, so hatte es f?r ihn jeglichen, auch nur relativen und mittelbaren Wert, mit dem sich ein weniger aufs Unbedingte gestellter Geist h?tte begn?gen und tr?sten k?nnen, verloren. >>Ich habe mich zwingen wollen zur Arbeit<< -- so schreibt er an die Schwester -- -- >>aber mich ekelt vor allem, was Wissen heisst. Ich kann nicht einen Schritt tun, ohne mir deutlich bewusst zu sein, wohin ich will?<< -- Zwar war die Vernichtung des Wissens bei Fichte selbst nicht das letzte Ergebnis, mit dem er seine Schrift beschloss; zwar war hier, wie wir gesehen haben, auf ein anderes geistiges >>Organ<< hingedeutet, kraft dessen die Welt des Seins, die soeben durch die philosophische Reflexion zerst?rt worden war, auf einer neuen Grundlage und mit neuen Mitteln wieder aufgebaut werden sollte. Aber selbst wenn wir annehmen, dass Kleist diesen weiteren Entwicklungen noch mit der gleichen gedanklichen Intensit?t und Energie gefolgt ist, so begreifen wir doch, dass sie ihm keine wahrhafte Beruhigung und Befriedigung zu geben imstande waren. Die besondere Form und Eigenart von Fichtes ~Glaubensbegriff~, der hier als die letzte L?sung erschien, vermochte er zweifellos nicht v?llig zu durchschauen. Dieser Begriff ist in den Darlegungen des Schlussteils der >>Bestimmung des Menschen<< noch nicht zu wahrhafter Sch?rfe und Klarheit entwickelt: -- auch der moderne Leser w?rde M?he haben, ihn nach seiner Eigent?mlichkeit zu w?rdigen, wenn er nicht Fichtes sp?tere religionsphilosophischen Werke zum Vergleich und zur Erl?uterung heranziehen k?nnte. So mochte Kleist in Fichtes Entscheidung, die die Frage dem Wissen entzog, um sie dem >>Glauben<< zuzuweisen, nur eine Flucht in das religi?se Gef?hl sehen, die er als blosses Kompromiss verschm?hte und von sich wies. Gewiss: sein Wunsch und seine Sehnsucht weisen auch ihn, nachdem er einmal den Zusammenbruch des Wissens in sich erfahren hatte, oft genug auf einen solchen Ausweg hin. >>Ach, Wilhelmine,<< so schreibt er kurz darauf aus Dresden, indem er von seiner Teilnahme an einem katholischen Gottesdienst erz?hlt -- >>~unser~ Gottesdienst ist keiner. Er spricht nur zu dem kalten Verstande, aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest. Mitten vor dem Altar, an seiner untersten Stufe, kniete jedesmal, ganz isoliert von den andern, ein gemeiner Mensch, das Haupt auf die h?heren Stufen geb?ckt, betend mit Inbrunst. Ihn qu?lte kein Zweifel, er ~glaubt~. -- Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht mich neben ihm niederzuwerfen und zu weinen. -- Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust wollte ich katholisch werden.<< Aber der unbedingte Wahrheitssinn und der unbedingte Wahrheitsmut, den Kleist bis zur inneren Selbstvernichtung festh?lt, siegt immer wieder ?ber jede derartige Stimmung und Anwandlung. Auch als Wilhelmine ihn auf seinen ersten Brief hin mit Gef?hlsgr?nden zu tr?sten versuchte, weist er dies ruhig und bestimmt von sich. Er weiss, dass der Konflikt, der auf dem Boden des Denkens entstanden ist, auch auf eben diesem Boden gel?st und zum Austrag gebracht werden muss. >>Ich ehre dein Herz und deine Bem?hung mich zu beruhigen<< -- so erwidert er -- >>aber der Irrtum liegt nicht im Herzen, er liegt im Verstande und nur der Verstand kann ihn heben. -- -- Liebe Wilhelmine, ich bin durch mich selbst in einen Irrtum verfallen, ich kann mich auch nur ~durch mich selbst~ wieder heben.<< Und in der Tat: welche innere Beruhigung h?tte es Kleist gew?hren k?nnen, wenn die L?sung des Problems einfach vom Gebiet des Wissens ins Gebiet des Glaubens verschoben wurde? Das Verdikt ?ber die Nichtigkeit des Wissens selbst blieb dem ungeachtet in aller Sch?rfe bestehen. Auf das Wissen aber, auf die rein theoretische Erkenntnis war der >>Lebensplan<< Kleists, wie er ihn damals begriff, ausschliesslich gestellt. Wenn dieses Wissen f?r das h?chste Ziel der menschlichen Bestimmung als unzul?nglich erkannt war, so hatte, so bedurfte er kein anderes Ziel mehr. Er warf es von sich, da ihm sein wesentlicher Gehalt verloren war. Wir stehen hier vor einem Prozess, der nicht nur als ein ?usserliches Schicksal Kleists zu begreifen und zu beurteilen ist, sondern der tief in seinem Charakter und seiner ganzen seelischen Grundrichtung wurzelt. Wir finden hier die gleiche typische Form wieder, die allen grossen innerlichen Krisen im Leben Kleists eigent?mlich ist. Wie hier vor dem Wissen, so stand er sp?ter, als er nach jahrelangem Ringen den >>Guiscard<< endg?ltig verworfen hatte, vor seinem dichterischen Beruf. Und wie sp?ter, so kannte er hier keine Schranke, kein Begn?gen mit einem Mehr oder Weniger. >>Ich habe in Paris -- so schreibt er -- mein Werk, so weit es fertig war, durchlesen, verworfen und verbrannt; und nun ist es aus. Der Himmel versagt mir den Ruhm, das gr?sste der G?ter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle ?brigen hin.<< F?r eine Natur wie diese gab es im Denken so wenig wie im Leben ein blosses Kompromiss, gab es, wenn er ?ber eine bestimmte Grenze des Begreifens vorgedrungen war, kein Zur?ck mehr, wie zerst?rend auch die Folgen sein mochten, die er f?r sich selbst voraussah. --
Noch auf ein ?usseres Moment kann hier zuletzt hingewiesen werden, das immerhin im Ganzen unserer Betrachtung nicht ohne Bedeutung ist. In dem ersten Brief an Wilhelmine berichtet Kleist, dass er sich in seiner Verzweiflung ?ber das Ergebnis, zu welchem er sich durch die >>Kantische Philosophie<< hingef?hrt sah, zuerst seinem Freunde ~R?hle~ mitgeteilt und anvertraut und dass dieser ihn auf einen vor kurzem erschienenen Roman >>Der Kettentr?ger<< verwiesen habe. >>Es herrscht in diesem Buche -- so sagte er ihm -- eine sanfte freundliche Philosophie, die Dich gewiss auss?hnen wird mit allem, wor?ber Du z?rnst<<. >>Es ist wahr -- so f?hrt Kleist in seiner Erz?hlung fort -- er selbst hatte aus diesem Buche einige Gedanken gesch?pft, die ihn sichtbar ruhiger und weiser gemacht hatten. Ich fasste den Mut, diesen Roman zu lesen. Die Rede war von Dingen, die meine Seele schon l?ngst selber bearbeitet hatte. Was darin gesagt ward, war von mir schon l?ngst im voraus widerlegt ... Und das soll die Nahrung sein f?r meinen brennenden Durst?<< Der sehr seltene >>Kettentr?ger<< ist mir bisher leider nicht zug?nglich gewesen: aber nach einem Referat, das ~Minde-Pouet~ in seiner Ausgabe von Kleists Briefen von ihm gegeben hat, handelt es sich in ihm um einen >>krausen, mit unm?glichen Geister-, Zauber- und Liebesgeschichten durchsetzten Roman, der dartun will, dass jedes Menschen Bestreben, sein Schicksal zu lenken, fruchtlos sei, da wir unfrei und gebunden sind.<< Und eine solche Schrift konnte R?hle Kleist als Heilung gegen die Wirkung der Lekt?re der >>Kritik der reinen Vernunft<< empfehlen? Was in aller Welt hatte die >>freundliche Philosophie<< dieses >>Kettentr?gers<< mit der Kantischen Erkenntniskritik, mit der transzendentalen Aesthetik und der transzendentalen Analytik zu tun? Nimmt man dagegen an, dass Kleist von Fichtes >>Bestimmung des Menschen<< herkam und dass er den Inhalt und Gedankengang dieses Buches in grossen Z?gen vor R?hle entwickelte -- so w?rde auch dieser Umstand sich kl?ren. Denn wir erinnern uns, dass alle Deduktionen Fichtes ?ber Wert und Unwert der Erkenntnis vom Problem der Willensfreiheit ihren Ausgang genommen hatten. Um die M?glichkeit der menschlichen Freiheit zu retten, musste die Welt der Dinge in eine Welt der Bilder aufgel?st werden, die der Verstand nach eigenen Gesetzen selbstt?tig entwirft. Wie aber, wenn man auf dieses Ziel verzichtete; -- wenn es einen Weg gab, sich mit den Gedanken der Willensunfreiheit zu vers?hnen und ihn in einem milderen und freundlicheren Lichte erscheinen zu lassen? Dann fiel -- so schien es -- mit dem Ziel auch das Mittel fort; dann konnte die realistische Ansicht behauptet und mit ihr auch dem Wissen die Rolle, ein Ausdruck der absoluten Wirklichkeit zu sein, erhalten werden. Kleist freilich war bereits zu tief in den Kern des Problems eingedrungen, als dass er sich mit einer derartigen Scheinl?sung h?tte begn?gen k?nnen. Immer tiefer gr?belte er gerade in dieser Zeit nicht nur der M?glichkeit des Wissens, sondern auch der M?glichkeit des Wollens, der freien sittlichen Entscheidung nach. Und auch hier sah er sich alsbald vor eine Grenze des Begreifens gef?hrt. Wir glauben frei zu sein -- aber ist nicht auch dieser Glaube eine leere Illusion? Werden wir nicht hin- und hergetrieben von dem unberechenbarsten Zufall, der t?glich und st?ndlich in unser Geschick eingreifen und ihm eine v?llig neue Wendung geben kann? Als Kleist, weil Ulrike ihm halb wider seinen Willen ihre Begleitung nach Paris angeboten hat, gezwungen ist, P?sse f?r sich und die Schwester zu fordern; als er, um diese P?sse zu erhalten, wissenschaftliche Studien als Zweck der Reise angeben und sie zum Teil wirklich auf sich nehmen muss, w?hrend er entschlossen war, der Wissenschaft auf dieser Reise f?r immer zu entfliehen, da wird in ihm wieder die Empfindung m?chtig, wie das blinde Verh?ngnis mit dem Menschen spielt. >>Ach Wilhelmine -- so schreibt er -- wir d?nken uns frei und der Zufall f?hrt uns allgewaltig an tausend feingesponnenen F?den fort. --<< Auch in den Briefen von der Reise kehrt fort und fort diese Reflexion und die Stimmung, die sie in ihm weckt, wieder. Mit Recht hat man hier einen der fr?hesten wesentlichen Keime zu der ersten tragischen Dichtung Kleists, zu der Konzeption der >>Familie Schroffenstein<< gesehen. Und auch weiterhin wurzelt die Tragik bei Kleist in diesem seinen Grundgef?hl. Was Goethe in seiner Strassburger Rede von Shakespeare gesagt hat, dass alle seine Dichtungen sich um den >>geheimen Punkt<< drehen, an dem die Eigent?mlichkeit unseres Ich, die pr?tendierte Freiheit unseres Willens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenst?sst: das gilt auch f?r die Dichtung Kleists. Von diesem >>geheimen Punkt<< aus lassen sich die Kleistschen Gestalten, lassen sich Alkmene und Robert Guiscard, Penthesilea und K?thchen, Kohlhaas und die Marquise von O ... erst wahrhaft deuten. Wenn wirklich Fichtes Schrift es gewesen ist, die das Problem der Willensfreiheit zuerst in seiner ganzen Sch?rfe und Klarheit vor Kleist hingestellt hat, so liesse sich begreifen, dass sie f?r Kleist von Anfang an mehr als eine abstrakte theoretische Spekulation bedeuten musste: denn die abstrakte begriffliche Er?rterung ber?hrte hier in ihm selbst ein seelisches Motiv, das f?r seine gesamte dichterische Gef?hlsauffassung des Welt- und Lebenszusammenhangs entscheidend war. --
S. ~Otto Brahm~, Heinrich v. Kleist, Berlin, 1885, S. 75 f.
Wichtiger jedoch als die Frage, aus welcher ~Quelle~ Kleist seine Kenntnis vom Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus gesch?pft hat, ist die andere Frage, welche innere Wendung sich, unter dem Einfluss dieses Lehrbegriffs, nunmehr in Kleist vollzieht und welche Bedeutung die intellektuelle Krise, die er hier durchlebt hat, f?r das Ganze seiner ~K?nstlerschaft~ gewinnt. Und hier l?sst sich -- so paradox es zun?chst erscheinen mag -- in der Tat behaupten, dass Kleist in dieser Krise nicht nur zu einer neuen theoretischen Weltansicht gelangt ist, sondern dass er erst in ihr und durch sie seine k?nstlerische Grundrichtung wahrhaft begriffen hat. Das ist das Eigent?mliche in Kleists Entwicklung, was in dieser Form vielleicht in der Lebensgeschichte keines anderen grossen Dichters wiederkehrt, dass es ein gedankliches Erlebnis ist, das gleichzeitig die produktiven dichterischen Kr?fte in ihm gel?st und befreit und das ihm selbst erst zum vollen Bewusstsein dieser Kr?fte verholfen hat.
Die theoretische und ethische Lebensansicht des jungen Kleist ist vor der entscheidenden Einwirkung des transzendentalen Idealismus durch die Grundanschauungen des achtzehnten Jahrhunderts, durch die Philosophie der deutschen Aufkl?rung bestimmt. Mit altkluger Weisheit entwickelt der erste philosophische Aufsatz, den wir von Kleist besitzen, seine Anweisung >>den sicheren Weg des Gl?cks zu finden und ungest?rt, auch unter den gr?ssten Drangsalen des Lebens, ihn zu geniessen,<< diese Auffassung. Man hat schon in dieser Abhandlung und in den Spekulationen ?ber das Verh?ltnis von Gl?ck und Tugend, die sie enth?lt, Ankl?nge an Kant und Spuren einer ersten Lekt?re Kantischer Schriften zu finden geglaubt: -- aber im Ganzen ist die unbedingte und unmittelbare Identit?t von Gl?ck und Tugend, von Gl?ckseligkeit und Gl?ckw?rdigkeit, die hier gelehrt wird, den ethischen Grundlehren Kants weit eher entgegengesetzt als verwandt. Will man hier nach irgend einer literarischen Quelle und Anregung suchen, so k?nnte sie nur in der durch Kant bek?mpften und verdr?ngten Popularphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts oder aber in antiken, insbesondere in stoischen Lehren gefunden werden. Reminiszenzen an solche Lehren, an Ciceros oder Senecas moralphilosophische Schriften sind in dem Aufsatz unverkennbar -- und auch sein Gesamtergebnis f?llt mit dem klassischen Resultat der stoischen Ethik, mit dem Gemeinspruch, dass das wahre Gl?ck keine ~Folge~ der Tugend, sondern dass es vielmehr die Tugend ~selbst~ sei, zusammen. In jedem Fall bedeutet dieser Aufsatz des Zweiundzwanzigj?hrigen kaum mehr als eine versp?tete Schul?bung, die aber noch keinerlei Hinweis auf die sp?tere originale Grundanschauung enth?lt. Auch die p?dagogischen Bildungsideale, die Kleist in den ~Briefen~ dieser Zeit entwickelt, greifen ?ber diesen Kreis nicht hinaus. Dass auch alle sittliche, alle Pers?nlichkeits- und Charakterbildung im wesentlichen durch die Aufkl?rung des Verstandes bedingt sei, gilt hier ?berall als feststehend. Nur von einer derartigen Ansicht aus erkl?rt sich die Pedanterie, der trockene Ernst und die abstrakte Gr?ndlichkeit, mit denen Kleist in seinen Briefen die >>Fragen zu Denk?bungen<< f?r die Schwester und f?r die Braut formuliert und sie unerbittlich bis zur vollst?ndigen befriedigenden L?sung durchnimmt. Ueberall herrscht die Ueberzeugung, dass nur durch solche bewusste Arbeit des abstrakten Denkens der Mensch zu seinem eigent?mlichen, ihm wahrhaft zukommenden Wert emporgehoben werden kann. >>Welcher andern Herrschaft<< -- so apostrophiert Kleist die Schwester -- >>bist du unterworfen, als allein der Herrschaft der Vernunft? Aber dieser sollst du dich auch vollkommen unterwerfen. ~Etwas~ muss dem Menschen heilig sein. Uns beiden, denen es die Zeremonien der Religion und die Vorschriften des konventionellen Wohlstandes nicht sind, m?ssen um so mehr die Gesetze der Vernunft heilig sein ... Wer sichert uns .. unser inneres Gl?ck zu, wenn die Vernunft es nicht tut?<< Nur kraft der fortschreitenden Aufkl?rung des Verstandes und der immer weitergehenden >>Verdeutlichung<< der Begriffe vermag das Ich die Stelle, die ihm im grossen Plan der Welt zugewiesen ist, zu erkennen und zu erf?llen, -- vermag es weiterhin, sich ?ber sich selber zu einer h?heren Stufe der Geistigkeit zu erheben. >>~Dich~, mein geliebtes M?dchen ~ausbilden~<< -- so schreibt Kleist an Wilhelmine, indem er ihr seinen Entschluss mitteilt, frei von jeder ?usseren amtlichen oder gesellschaftlichen Bindung zu leben, -- >>ist das nicht etwas Vortreffliches? Und dann, ~mich selbst~ auf eine Stufe ~n?her~ der Gottheit zu stellen -- -- o lass mich, lass mich! Das Ziel ist gewiss hoch genug und erhaben, da gibt es gewiss Stoff genug zum handeln -- und wenn ich auch auf dieser Erde nirgends meinen Platz finden sollte, so finde ich vielleicht auf einem anderen Sterne einen um so besseren.<<
In alledem ist nichts enthalten, was nicht Gemeingut der deutschen Geistesbildung des achtzehnten Jahrhunderts gewesen w?re. Ueberall klingt jene metaphysische Ansicht von der Stellung des Ich zur Welt und zur Gottheit hindurch, die ihren vollendeten systematischen Ausdruck in der Leibnizischen Monadologie gefunden hatte. Weit ?ber den Kreis der philosophischen Schulen hinaus hatte diese Ansicht sich als wirksam erwiesen. Sie bildet f?r Lessings >>Erziehung des Menschengeschlechts<< das eigentliche gedankliche Fundament, wie sie andererseits in der dithyrambischen Jugendphilosophie Schillers, in den Gedichten der >>Anthologie<< und in der >>Theosophie des Julius<< fortwirkt. Alles, was wir das Sein, was wir die Wirklichkeit der Dinge nennen, l?st sich f?r die Betrachtung der Vernunft in ein einziges Geisterreich auf, das nach Stufen intellektueller Klarheit und Vollkommenheit geordnet ist. Aus dem Kelch dieses Geisterreiches sch?umt auch dem h?chsten g?ttlichen Wesen erst seine wahrhafte Unendlichkeit: es erkennt und weiss sich selbst, indem es sich in der F?lle und Mannigfaltigkeit der >>geschaffenen Geister<< als ebensoviel lebendigen Spiegeln seiner selbst beschaut. Das Universum bildet einen einzigen grossen ~Zweckzusammenhang~, der sich der menschlichen, sinnlich-eingeschr?nkten und sinnlich->>verworrenen<< Ansicht zwar nur fragmentarisch und unvollkommen darstellt, der sich aber der fortschreitenden Einsicht des Verstandes immer reiner und bestimmter offenbart. Was wir von unserem beschr?nkten Standpunkt aus M?ngel der ~Welt~ zu nennen pflegen, das sind daher in Wahrheit nur M?ngel unserer ~Einsicht~ in die Welt und ihre teleologische Gesamteinheit. Sie w?rden verschwinden, wenn wir es verm?chten, unser Auge -- ebenso wie es Copernicus f?r seine Umbildung der gew?hnlichen kosmologischen Ansicht gefordert hatte -- ganz in die Sonne, in das Licht der reinen Vernunfterkenntnis zu stellen. ~Leibniz~ stellt es einmal als Grundsatz dieses intellektualistischen Optimismus auf: dass die Dinge, je mehr sie in ihre wahrhaften Grundelemente zerlegt werden, dem Verstand um so mehr Gen?ge bieten. Die gleiche Grund?berzeugung gibt auch der fr?hesten Philosophie des jungen Kleist ihr Gepr?ge. Die wahre F?higkeit des >>Weisen<< -- so f?hrt der Aufsatz den sicheren Weg des Gl?cks zu finden aus -- besteht darin, >>Honig aus jeder Blume zu saugen<<; >>er kennt den grossen Kreislauf der Dinge, und freut sich daher der Vernichtung, wie des Segens, weil er weiss, dass in ihr wieder der Keim zu neueren und sch?neren Bildungen liegt.<<
Der transzendentale Idealismus bildet auch an diesem Punkte die Grenzscheide der Zeiten und die Grenzscheide der Geister. Wie er in theoretischer Hinsicht eine >>Revolution der Denkart<< in sich schliesst, so entzieht er auch dem praktisch-metaphysischen Begriff der >>Vollkommenheit<<, der bisher die gemeinsame Grundlage der philosophischen Systeme gebildet hatte, den Boden. Beide Leistungen geh?ren in ihrer allgemeinen geistesgeschichtlichen Tendenz zusammen. Der Kritik der theoretischen Erkenntnis entspricht die Kritik der theoretischen Gottesbeweise, insbesondere des bekanntesten und popul?rsten unter ihnen: des teleologischen Beweises. Das >>Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee<< ist damit ein f?r allemal festgestellt. Die theoretische Vernunft kann sich mit ihren Begriffen nicht mehr vermessen, ein Bild der >>besten Welt<< zu entwerfen und dem Ich seine Stelle in dieser Welt anzuweisen. Diese Konsequenz der kritischen Lehre ist Kleist freilich, als er mit den Schriften Kants zuerst bekannt wurde, nicht sogleich zu deutlichem Bewusstsein gekommen. Er entnimmt aus diesen Schriften -- aus der >>Anthropologie<< und der >>Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft<< -- bezeichnender Weise zun?chst diejenigen Lehrst?cke, in denen Kant eher als der Vollender, wie als der Zerst?rer der Aufkl?rungsphilosophie erscheinen konnte. Kants Lehre vom >>praktischen Vernunftglauben<< und seine Abweisung aller transzendenten Begr?ndung der sittlichen Gebote schienen in dieser Richtung zu liegen. Aber in dem Masse, als Kleist nun weiterhin -- gleichviel von welcher Seite her und auf wessen Anregung hin -- zu dem eigentlichen originalen Sinn und Gehalt des kritischen Idealismus vordrang, musste auch die Kluft zwischen dieser Lehre und seiner bisherigen Welt- und Lebensansicht ihm deutlich werden. Was jetzt von ihm gefordert wurde, war der Verzicht auf jene unmittelbare Einheit des Theoretischen und Praktischen, des Denkzusammenhangs und des sittlichen Weltzusammenhangs, die bisher die naive Voraussetzung all seines Denkens gebildet hatte. Man begreift, wie diese Forderung, nachdem er sie einmal in ihrer vollen Sch?rfe erfasst hatte, Kleist aufs tiefste ersch?ttern musste. Denn nun war f?r ihn die moralische Begreiflichkeit der Welt ?berhaupt aufgehoben. Die >>Wahrheit<<, die wir mit unserem Verstande theoretisch einzusehen verm?gen, hatte zum mindesten ihren universellen, ihren ~kosmischen Sinn~ eingeb?sst. Die Struktur des Alls, der >>Plan der Vorsehung<< bleibt f?r uns in undurchdringliches Dunkel geh?llt. Der Geist, der ?ber die Welt herrscht -- so schreibt Kleist sp?ter einmal an R?hle -- kann im tiefsten Grunde seines Wesens kein b?ser Geist sein; aber er ist und bleibt ein unbegriffener Geist. Die Last dieser Unbegreiflichkeit hat Kleist von nun ab tiefer und tiefer empfunden. Der traditionelle Optimismus seiner Jugendphilosophie wandelt sich jetzt in die ihm eigene dichterische, in die eigentlich ~tragische~ Weltanschauung. In allen seinen Dichtungen, in den Schroffensteinern und im Kohlhaas, in der Penthesilea, in der Marquise von O ..., im Erdbeben von Chili ist dieser neue Ton vernehmbar. Die Menschen bei Kleist, die dichterischen Gestalten, in denen er sein eigenes Wesen am tiefsten ausgepr?gt hat, streben alle leidenschaftlich nach Klarheit; -- sie ~fordern~ diese Klarheit als ihr sittliches Grundrecht. >>Gott der Gerechtigkeit<< -- so ruft Sylvester in den >>Schroffensteinern<< aus -- >>Sprich deutlich mit dem Menschen, dass er 's weiss auch, was er soll!<< Aber dieser Ruf bleibt ungeh?rt, Sylvester muss erfahren, dass ein grausiger Zufall, ein sinnlos-t?ckisches Geschick mit ihm gespielt hat: >>'s ist abgetan, wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen!<< ... Die Welt wird dem Menschen, der Mensch wird sich selbst zum R?tsel, weil Gott es ihm geworden ist. Keine Anstrengung des Denkens vermag dieses R?tsel zu entwirren: wir k?nnen nur versuchen, ins Unbewusste hinabzugleiten und in ihm Vergessenheit zu finden, >>Sonst waren die Augenblicke<< -- so schreibt Kleist in der Zeit der intellektuellen Krise, im Mai 1801 -- >>wo ich mich meiner selbst bewusst ward, meine sch?nsten -- jetzt muss ich sie vermeiden, weil ich mich und meine Lage fast nicht ohne Schaudern denken kann.<< Aber dieses Bestreben, ins Unbewusste unterzutauchen und in ihm vor den unl?slichen Widerspr?chen des Seins und des Denkens Rettung zu finden, bleibt bei Kleist von den eigentlich ~romantischen~ Tendenzen nichtsdestoweniger klar geschieden. Auch die Romantik verk?ndet die Lehre von der Irrationalit?t des Seins, von der Ohnmacht des Denkens, die Wirklichkeit zu erfassen. Aber was Kleist als einen harten Verzicht empfand, der ihn im Innersten ersch?tterte: -- das bedeutet f?r sie nur die Gelegenheit, sich in freier Ironie ?ber die Welt der Dinge und ihre angebliche Notwendigkeit zu erheben. Sie schwelgt in dem Gef?hl der Unbegreiflichkeit des Seins, sie sucht es auf und steigert es, -- weil sie darin erst der ganzen Macht der k?nstlerischen Phantasie bewusst zu werden glaubt. Von solchem ?sthetischen Illusionismus ist Kleist weit entfernt. Was den Romantikern nur die willkommene Handhabe zu einem ?berlegenen Spiel der Einbildungskraft war: -- das f?hrt ihn zu einem tragischen Zusammenbruch seiner selbst und seiner inneren Welt. Es ist bezeichnend, dass die Romantik, trotz aller theoretischen Bem?hungen und Spekulationen ?ber die Trag?die, kein wahrhaft grosses tragisches Kunstwerk geschaffen hat. Sie liebte es auf die unergr?ndliche Dialektik des Seins, auf die >>Lehre vom Gegensatz<< hinzuweisen; aber sie hat eben durch diese ihre ironisch-skeptische Gesamthaltung dem Gegensatz selbst seine Sch?rfe und seinen tragischen Ernst genommen. Kleist hingegen ist ganz erf?llt von diesem Ernst. Er sucht nicht die mystischen Schauer des Unbegreiflichen, nicht das Ineinanderspielen und das Verschwimmen aller Formen der ?usseren und inneren Welt: sondern er stellt beide Welten in klarem und scharfen Umriss gegeneinander, um darin freilich ihre Unvereinbarkeit und Unvers?hnlichkeit um so tiefer und leidvoller zu empfinden. In diesem Verh?ltnis des Innern und Aeussern, in dieser Stellung von >>Seele<< und >>Welt<<, liegt erst der abschliessende Zug von Kleists gedanklicher und dichterischer Gesamtansicht. Die romantische Phantasie dr?ngt dahin, nicht nur das objektive, sondern auch das subjektive Sein aufzul?sen; nicht nur die reale Bestimmtheit der Welt, sondern auch die Bestimmtheit des Ich preiszugeben. Wie in einer schwebenden und traumhaften D?mmerung gehen hier die Gestalten des Aussen und Innen, die Bilder des Seins und die Bilder des seelischen Geschehens ineinander ?ber. Die Bestimmtheit des Tragischen aber fordert die volle Bestimmtheit des Ich, fordert die Einheit und Geschlossenheit des Charakters und der Pers?nlichkeit. Diese Geschlossenheit ist es, die der Dichtung Kleists ihre Eigenheit gibt. Gegen?ber aller Verwirrung des Weltlaufs, gegen?ber aller unbegriffenen und im letzten Grunde unbegreiflichen Gewalt des Schicksals behauptet sich hier die ~innere~ Welt in ihrer Klarheit, ihrer Reinheit und Sicherheit. In dieser Hinsicht stellen alle dichterischen Gestalten Kleists den Kampf dar, den er selbst unabl?ssig gegen Welt und Schicksal gef?hrt hat. Von ihnen allen gilt, was er einmal von der Penthesilea gesagt hat: dass in ihr sein innerstes Wesen, der ganze Schmerz zugleich und der ganze Glanz seiner Seele liege. Die unbedingte und unbeirrbare Gewissheit des Gef?hls, das sich niemals v?llig im Wirrsal des ?usseren Geschehens verliert, sondern sich aus diesem Chaos immer wieder in seinem eigenen unverbr?chlichen Gesetz herstellt, gibt die durchg?ngige und einheitliche Richtung des tragischen Grundprozesses bei Kleist. Auch der Erz?hler Kleist verweilt mit Vorliebe bei dieser Dialektik; bei diesem Gegensatz zwischen der Verwirrung der ?usseren und der unaufheblichen und unzerst?rbaren Ordnung der inneren Welt. Als ~Kohlhaas~ die letzte Best?tigung des Unrechts, das ihm widerfahren ist, erhalten hat, da zuckt in ihm >>mitten durch den Schmerz die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigene Brust nunmehr in Ordnung zu sehen<<. Die tragische R?ckwendung aber liegt darin, dass er in dem Augenblick, da er dieser inneren Ordnung ?ussere Geltung zu verschaffen sucht, wieder der Gewalt, dem Unrecht und der unbegreiflichen Verkettung des Aeusseren verf?llt. Statt die Welt zu retten und einzurenken, verwirrt und vernichtet er das eigene innere Sein. Sein Rechtgef?hl, >>das einer Goldwage glich<< wird jetzt zu einer >>Schw?rmerei krankhaftester und missgeschaffener Art<<, die ihn und die Welt um ihn her zerst?rt.
Von einer anderen Seite her erblicken wir den gleichen tragischen Prozess dort, wo er sich uns nicht im Tun, sondern im Leiden darstellt -- wo die innere Welt, statt zu versuchen, ihre Regel dem ?usseren Sein und Geschehen aufzupr?gen, sich rein in sich selbst zur?ckzieht und sich damit in sich selbst herstellt. Wir legen diesen Gegensatz nicht bloss durch eine ?usserliche begriffliche Reflexion in die dichterischen Gestalten Kleists hinein: sondern er selbst hat ihn empfunden und mit ?berraschender Sch?rfe ausgesprochen. Vom K?thchen von Heilbronn sagt er einmal, dass es die >>Kehrseite der Penthesilea<< sei: ein Wesen, das eben so m?chtig sei durch g?nzliche Hingebung, als jene durch Handeln. Und er wiederholt diese Aeusserung und gibt ihr eine noch bestimmtere begrifflich-epigrammatische Zuspitzung in einem Briefe an Collin: >>wer das K?thchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein; sie geh?ren ja wie das + und - der Algebra zusammen und sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Bezeichnungen gedacht<<. Diese Entgegensetzung ist keine einmalige und zuf?llige, sondern sie geht durch die gesamte Kleistische Dichtung hindurch. So gewinnt die Marquise von O ... bei allem Unbegreiflichen, das sie umgibt, die innere Ruhe und Sicherheit wieder, indem ihr Verstand, >>stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reissen, sich ganz unter der grossen, heiligen und unerkl?rlichen Einrichtung der Welt gefangen gibt<<. Hierin erst offenbart sich ihr wahrhaftes, rein innerlich gerichtetes Heldentum. Und derselbe Zug ist es, der offenbar ein Grundmotiv f?r Kleists Konzeption der Erz?hlung >>der Zweikampf<< gebildet hat. Den Stoff f?r diese Novelle hat Kleist aus der Chronik Froissards gesch?pft -- und er hat ihn in der >>Geschichte eines merkw?rdigen Zweikampfs<<, in den >>Berliner Abendbl?ttern<< in wesentlich unver?nderter Gestalt nacherz?hlt. Aber eigentliche dichterische Form gewann f?r ihn dieser Stoff erst durch das neue Moment, das die Kleistische Erz?hlung hinzubringt: durch die Kraft, mit der Littegarde das Gef?hl, das in ihrer Brust lebt, >>wie einen Felsen emport?rmt<< und es gegen Himmel und Erde, gegen den vernichtenden Schuldbeweis des g?ttlichen Urteils selbst behauptet. Auch das Gottesurteil gew?hrt keine zweifellose und sichere Antwort; sondern es wird, als Rekurs auf ein ?usseres Beweismittel, selbst in die Fragw?rdigkeit und Zweideutigkeit alles Aeusseren verstrickt. Aber indem, auch dieser h?chsten Macht und Autorit?t gegen?ber, die innere Welt nicht an sich selber irre wird, entdeckt sich ihr damit der wahrhafte Mittelpunkt von dem aus sich nun die Klarheit ?ber Inhalt und Sinn des Geschehens wiederherstellt. Nicht dem Verstande, nicht der Abw?gung der >>Beweisgr?nde<<, gibt sich der unbegriffene Geist, der in der Welt waltet, zu erkennen. >>Wo liegt die Verpflichtung der h?chsten g?ttlichen Weisheit<< -- so sagt Friedrich im >Zweikampf< zu Littegarde -- >>die Wahrheit, im Augenblick der glaubensvollen Anrufung selbst, anzuzeigen und auszusprechen?<< Die geheimnisvolle innere Ordnung l?sst sich durch kein zudringliches Fragen und Forschen entr?tseln; -- dem Menschen muss es gen?gen, wenn er, indem er sich unter sie gefangen gibt, die Sicherheit des eigenen Selbst bewahrt. Auch Alkmenes Gestalt und Alkmenes Geschick stellt sich f?r Kleist im Lichte dieser Gesamtanschauung dar: -- und von ihr aus empf?ngt seine Behandlung des Amphitryon-Stoffes erst ihr unverkennbar eigenes Gepr?ge, gewinnt sie dasjenige, was Kleist von Moli?re scheidet und was den Kleist'schen >>Amphitryon<< zum Werk eines grossen ~tragischen~ Dichters macht.
Wir betrachten indes hier diese Grundform der Kleistschen Dichtung nur insoweit, als sich in ihr zugleich der fundamentale Wandel in seiner theoretischen Grundanschauung widerspiegelt. Man begreift jetzt, was die Ersch?tterung, die Kleist durch die Kantische Philosophie erfahren hat, auch f?r seine dichterische Entwicklung bedeuten musste. Hier erst war er an dem einheitlichen Telos der Welt, das seine erste jugendliche Philosophie noch unbek?mmert vorausgesetzt hatte, irre geworden: hier erst sah er sich, auch von der Seite der theoretischen Reflexion her, zu jenem durchg?ngigen Dualismus gef?hrt, der bei ihm das tragische Grundmotiv bildet. Seine Gedankenwelt wird erst jetzt zum ad?quaten Ausdruck seiner urspr?nglichen seelischen Stimmungswelt. Auch seine Sprache und sein Stil gewinnen von nun ab eine neue Pr?gung. Noch verwertet er in seinen Briefen, in den Bildern, die er braucht, die Aufzeichnungen seines >>Ideenmagazins<<; aber die bewusste verstandesm?ssige Absichtlichkeit, mit der er zuvor versucht hatte, wissenschaftlich-theoretisches Material in Material der Anschauung und der bildenden Phantasie umzum?nzen, tritt von jetzt ab mehr und mehr zur?ck. In dem Masse, als das Gef?hl sich des eigenen Gesetzes und der eigenen Unergr?ndlichkeit bewusst wird, gewinnt es auch seine eigene Sprache und Ausdrucksform. Was Kleist erfahren hatte, schien den v?lligen Zusammenbruch seiner intellektuellen Welt zu bedeuten: aber aus ihm rang sich nun seine Gef?hls- und Phantasiewelt erst wahrhaft durch und stellte sich in ihrer Bestimmtheit und individuellen Eigent?mlichkeit in objektiven k?nstlerischen Gestalten dar.
Ist Kleist nach der Epoche, in der er entt?uscht und verzweifelt alles Wissen von sich warf, nochmals zu Kant und seinen Schriften zur?ckgekehrt? Es gibt daf?r, soviel ich sehe, keinen unmittelbaren und zweifellosen Beweis; aber eine Reihe ?usserer und innerer Anzeichen deutet in der Tat darauf hin. Die Briefe Kleists werden freilich in bezug auf allgemeine theoretische Fragen immer schweigsamer und bieten immer geringeren Ertrag. Die breite Diskussion theoretischer Einzelprobleme, die den ersten Jugendbriefen Kleists eigent?mlich ist, verschwindet in dem Masse, als Kleist sich mehr und mehr als Dichter erkennt und die neuen k?nstlerischen Pl?ne und Aufgaben von ihm Besitz nehmen. Immerhin zeigen seine kleineren Prosa-Aufs?tze -- von denen insbesondere die in K?nigsberg verfasste Abhandlung >>Ueber die allm?hliche Verfertigung der Gedanken beim Reden<< auch ein wahrhaft theoretisches Meister- und Kabinettst?ck ist, -- dass allgemein-psychologische und philosophische Fragen ihn noch vielfach besch?ftigen. Eine Stelle des letzteren Aufsatzes, in der, unter Berufung auf Kant, auf die Sokratische >>maieutische<< Kunst, auf die >>Hebeammenkunst der Gedanken<< hingewiesen wird, zeigt, dass Kleist damals die kurz zuvor erschienenen, von ~Rink~ herausgegebenen Kantischen Vorlesungen ?ber P?dagogik gelesen haben muss. Sp?ter wird in einer Rezension der >>Berliner Abendbl?tter<< eine Kantische, angeblich der >>Kritik der Urteilskraft<< entnommene Aeusserung erw?hnt, dass der menschliche Verstand und die Hand des Menschen zwei auf notwendige Weise zueinander geh?rige und aufeinander berechnete Dinge seien. Reinhold ~Steig~ hat in seiner Ausgabe von Kleists kleinen Schriften, dieser Stelle, die in der >>Kritik der Urteilskraft<< tats?chlich nicht aufzufinden ist, die Kantische Herkunft ?berhaupt absprechen wollen: -- in Wahrheit handelt es sich jedoch um eine bekannte Aeusserung Kants in der Anthropologie, die Kleist hier in freier Weise wiedergibt. Das Zitat ist daher als solches freilich irrig; aber schon dieser Irrtum spricht daf?r, dass Kleist die >>Kritik der Urteilskraft<< wirklich gekannt haben muss. Auch aus seinem ?usseren Lebensgang wird man es f?r sehr wahrscheinlich halten m?ssen, dass er zur Kantischen Lehre im einzelnen und im ganzen, noch oft zur?ckgef?hrt wurde. Der Kreis, in den er, im Jahre 1805, in K?nigsberg eintrat, musste f?r ihn eine solche R?ckkehr fast unvermeidlich machen. Kant selbst war im Jahre zuvor gestorben; aber noch lebten diejenigen, die bis in sein h?chstes Alter hinein, mit ihm in vertrautem Verkehr gestanden und die seine Pers?nlichkeit und Lehre noch aus unmittelbarer eigener Anschauung kannten. Mit dem Kriegsrat ~Scheffner~ trat Kleist, wie in Scheffners Selbstbiographie berichtet wird, kurz nach seiner Ankunft in K?nigsberg in n?heren Verkehr; -- und sein Studium der Staats- und Kommunalwissenschaften f?hrte ihn dem Manne zu, der von allen Freunden Kants das tiefste Verst?ndnis f?r sein geistiges Wesen und f?r das Ganze seiner Lehre besass. Christian Jakob ~Kraus~ war von Kant selbst stets als eines der ersten spekulativen Genies gesch?tzt worden; Kants Biographen berichten, dass er ihn an Sch?rfe und Tiefe des Geistes mit Kepler zu vergleichen liebte. Nur Kraus' peinliche Gr?ndlichkeit und die bis zum Hypochondrischen gesteigerte Gewissenhaftigkeit, mit der er alle seine Arbeiten immer von neuem nachpr?fte und umformte, ehe er sich zu ihrer Herausgabe entschloss, haben ihn an der Abfassung gr?sserer theoretischer Werke gehindert und ihn schliesslich ganz ins praktische Feld gedr?ngt. Gewohnt auf intellektuellem Gebiet stets mit den h?chsten Massst?ben zu messen, war er f?r sich selbst mehr und mehr jener >>Misologie<< verfallen, die Kant schon fr?hzeitig an ihm bemerkt und beklagt hatte. Immerhin wird man annehmen d?rfen, dass Kleist aus den Vorlesungen eines solchen Lehrers auch manche tiefere und allgemeinere intellektuelle Anregung empfangen hat. Auch zu dem Manne, der jetzt in K?nigsberg den philosophischen Lehrstuhl Kants inne hatte, war Kleist, kurz nachdem er dort eingetroffen, in nahe Beziehungen getreten. Durch eine eigent?mliche Verkettung der Umst?nde fand er in ~Traugott Wilh. Krug~ den Gatten seiner fr?heren Verlobten, Wilhelminens v. Zenge; -- und nach Ueberwindung der ersten Befangenheit kam es zwischen ihm und dem Krug'schen Hause bald zu einem t?glichen vertrauten Verkehr. Dass hierbei zwischen Kleist und Krug auch philosophische Fragen zur Sprache kamen und dass Kleist dadurch mehr als bisher in die Einzelheiten der Kantischen Lehre eingef?hrt wurde, darf man vielleicht vermuten. Denn Krug war zwar in keiner Hinsicht ein selbst?ndiger und sch?pferischer Denker; aber er war immerhin ein getreuer H?ter des Kantischen geistigen Erbguts, das er festzuhalten und als Ganzes gegen?ber den Spekulationen der Nachfolger zu behaupten suchte.
Vgl. die Bemerk. von ~Reinhold Steig~ in seiner Ausgabe der Kleistschen Prosaschriften: Kleists Werke, hg. v. Erich Schmidt, Bd. IV, 80 u. 249.
Kant an Marcus Herz, 4. Februar 1779.
Bedeutsamer freilich als alle diese Erw?gungen, die sich nur auf ?ussere Beziehungen st?tzen und die daher lediglich hypothetischen Wert besitzen, sind alle jene Momente, die in Kleists ~Schriften~ auf ein n?heres Verh?ltnis zur Philosophie und insbesondere zur idealistischen Lehre hinweisen. Dass er der Entwicklung dieser Lehre gefolgt ist, ja dass er in sie mit einer eigenen und originalen gedanklichen Wendung eingegriffen hat: daf?r enthalten namentlich Kleists sp?tere Abhandlungen aus den >>Berliner Abendbl?ttern<< mancherlei Belege. >>Du schreibst mir<< -- so heisst es z. B. in dem bekannten >>Brief eines Malers an seinen Sohn<< -- >>dass du eine Madonna malst und dass dein Gef?hl dir, f?r die Vollendung dieses Werkes, so unrein und k?rperlich d?nkt, dass du jedesmal, bevor du zum Pinsel greifst, das Abendmahl nehmen m?chtest, um es zu heiligen. Lass dir von deinem alten Vater sagen, dass dies eine falsche, dir von der Schule, aus der du herstammst anklebende Begeisterung ist ... Der Mensch, um dir ein Beispiel zu geben, das in die Augen springt, gewiss, er ist ein erhabenes Gesch?pf; und gleichwohl in dem Augenblick, da man ihn macht, ist es nicht n?tig, dass man dies mit vieler Heiligkeit bedenke. Ja derjenige, der das Abendmahl darauf n?hme, und mit dem blossen Vorsatz ans Werk ginge, ~seinen Begriff davon in der Sinnenwelt zu konstruieren~, w?rde unfehlbar ein ?usserliches und gebrechliches Wesen hervorbringen; dagegen derjenige, der in einer heitern Sommernacht ein M?dchen ohne weitere Gedanken k?sst, zweifelsohne einen Jungen zur Welt bringt, der nachher auf r?stige Weise zwischen Erde und Himmel herumklettert und den Philosophen zu schaffen gibt.<< Hier ist neben dem Spott ?ber eine verfehlte Tendenz in der bildenden Kunst die ironische Wendung gegen ~Fichtes~ Philosophie unverkennbar; wie denn in der Abwehr des Versuchs >>den Begriff vom Menschen in der Sinnenwelt konstruieren<< zu wollen, sogar die Fichte'sche ~Terminologie~, in parodistischer Nachahmung, sich vernehmen l?sst. Bestimmter und in einem weit positiveren Sinne tritt sodann der Zusammenhang mit der gleichzeitigen Philosophie zutage, wenn Kleist, in der gedanklich-tiefsten und originellsten Abhandlung, die er geschaffen, in dem Aufsatz >>Ueber das Marionettentheater<< seine eigene ?sthetische Grundansicht entwickelt. Es sind Motive und Grundz?ge der Kantischen und der Fichte-Schellingschen Philosophie, die hier ?berall die latente Voraussetzung bilden und denen Kleist freilich in der Anwendung auf das ?sthetische Sonderproblem, das ihn besch?ftigt, eine neue Bedeutung und eine ?berraschende Konsequenz abgewinnt. Kants >>Analytik des Sch?nen<<, wie sie sich in der >>Kritik der Urteilskraft<< darstellt, findet ihren letzten Abschluss in der Lehre vom Genie. Das >>Genie<< ist f?r die transzendentale Kritik der Ausdruck der ?sthetischen Gesetzlichkeit selbst. In ihm herrscht nicht Willk?r, sondern die h?chste Regel; aber eine Regel, die nicht in der Reflexion und im abgezogenen Wissen, sondern nur im Schaffen selbst hervortritt. Es waltet unbewusst gleich der Natur selbst -- w?hrend das, was es hervorbringt, doch ein in jedem kleinsten Teile zweckvolles Ganze ist und daher als Werk der h?chsten k?nstlerischen >>Absicht<< erscheint. Es herrscht in ihm eine eigene ~Notwendigkeit~ -- aber diese Notwendigkeit wird sofort zerst?rt, sobald wir versuchen, sie in die Form des ~Begriffs~ zu bringen und sie in abstrakt-allgemeinen Vorschriften auszusprechen. So treten in ihm Individualit?t und Allgemeing?ltigkeit, Freiheit und Notwendigkeit, Bewusstes und Unbewusstes in ein durchaus neues Verh?ltnis. Die Lehre, die Kant hier in methodischer Absicht aufstellt, um die transzendentale Eigengesetzlichkeit des Sch?nen und der Kunst von der Gesetzlichkeit der Erkenntnis und des Willens kritisch abzugrenzen, wird f?r Schelling sodann zum eigentlichen Anfangs- und Endpunkt, zum A und O der idealistischen Spekulation. Er verkn?pft sie mit dem Gedanken der >>produktiven Einbildungskraft<<, aus dem heraus Fichte den Gegensatz von >>Ich<< und >>Nicht-Ich<< zu deduzieren und in all seiner Bestimmtheit genetisch zu entwickeln versucht hatte. Auch das, was wir das Sein, was wir die Welt der Dinge nennen, entsteht uns nach Fichte nur in einer unbewussten Sch?pfert?tigkeit. Diese T?tigkeit ist notwendig, sofern sie in unbedingten Gesetzen der Intelligenz gegr?ndet ist und jegliche Einmischung der Willk?r, die nur im eingeschr?nkten empirischen Ich ihre Stelle hat, schlechterdings ausschliesst: -- aber sie ist zugleich im h?chsten Sinne als frei zu bezeichnen, da es nur das eigene urspr?ngliche Wesen der Intelligenz ist, das sich in ihr auspr?gt. In einer gesetzlichen Stufenfolge entsteht auf diese Weise f?r das Ich der Inhalt seiner Empfindungswelt, entstehen die Formen von Raum und Zeit, entsteht die Welt der K?rper, als der materiellen Objekte und die Mannigfaltigkeit der empirisch-psychologischen Subjekte. Fichte selbst hatte bereits -- wenngleich nur in einem gelegentlichen Aper?u -- von diesem Punkte aus eine Br?cke zur ?sthetischen Spekulation zu schlagen versucht. Die Eigenart der Kunst -- so spricht es eine Bemerkung im >>System der Sittenlehre<< aus -- besteht darin, dass sie >>den transzendentalen Standpunkt zum gemeinen<< macht. In der Kunst ist das, was auf dem Gebiete der Theorie und der begrifflichen Erkenntnis, auf dem Gebiet der eigentlichen Wissenschaftslehre, das eigentliche ~Problem~ bildet, unmittelbar aufgedeckt und aufgel?st. Die Eigent?mlichkeit des ~theoretischen~ Ich, die die Wissenschaftslehre als solche zu begreifen und die sie als notwendig einzusehen sucht, besteht darin, dass sich ihm sein unbewusstes ~Produzieren~ in das fertige ~Produkt~ einer Welt verwandelt: in ein Produkt, das uns, so lange die transzendentale Reflexion uns noch nicht ?ber seinen Ursprung aufgekl?rt hat, als ein absolut selbst?ndiges und fremdartiges Sein erscheinen muss. In der Kunst hingegen stellen wir zwar gleichfalls eine Welt der Anschauung objektiv vor uns hin: aber dies geschieht derart, dass wir sie dabei zugleich als die unsere, als ein Werk der produktiven Einbildungskraft wissen. Und von hier f?hrt nun unmittelbar der Weg zu jener spekulativen Umgestaltung des Geniebegriffs weiter, die wir in Schellings >>System des transzendentalen Idealismus<< vollzogen sehen. Die genetische Methode des Schellingschen Idealismus zeigt uns, wie die >>Natur<< sich stufenweise zum >>Geist<< entfaltet, wie das >>Unbewusste<< zum >>Bewusstsein<< sich emporringt. Aber nachdem nun dieser Gesamtprozess durchlaufen ist, stellt sich auf der obersten Stufe des Geistes selbst wieder eine eigent?mliche R?ckwendung ein. Die h?chste geistige T?tigkeit erhebt sich ebenso hoch ?ber das bloss reflektierende Bewusstsein, wie dieses reflektierende Bewusstsein sich ?ber die bewusstlose Natur erhob. Das Ende des Prozesses kehrt zum Anfang zur?ck: das Schaffen des Genies steht, als unbewusstes, wieder der Natur gleich, w?hrend es sich als vollendeter Ausdruck des spezifisch-geistigen Tuns von ihr zugleich charakteristisch unterscheidet. --
Die nahen Beziehungen, die zwischen dem spekulativen Grundgedanken des Aufsatzes ?ber das Marionettentheater und der romantisch-idealistischen Philosophie bestehen, sind in der interessanten und gehaltvollen Schrift von ~Hanna Hellmann~ ?ber Kleist eingehend dargelegt worden. Als Vertreter dieser romantischen Philosophie wird jedoch hier im wesentlichen nur ~Schelling~, ~Novalis~ und ~Friedrich Schlegel~ genannt, w?hrend ~Fichte~, auf dessen Wissenschaftslehre doch auch Novalis' und Schlegels Spekulationen durchweg basieren, fast v?llig ?bergangen wird. Was den Versuch betrifft, den Grundgedanken des Aufsatzes ?ber das Marionettentheater als das Symbol zu erweisen, aus dem auch die ~Dichtung~ Kleists durchg?ngig zu verstehen und zu deuten sei, und die >>drei Stufen vom Schema des Marionettentheaters<< im Amphitryon, in der Penthesilea, im K?thchen und im Prinzen von Homburg wiederzufinden, so gestehe ich freilich, dass ich von ihm nicht ?berzeugt worden bin. Dass Kleist >>Metaphysiker<< gewesen ist, wie es nur je ein Dichter war, scheint mir durch Hanna Hellmanns Darstellung nicht erwiesen: zum mindesten handelt es sich hier um eine >>Metaphysik<<, die selbst so rein k?nstlerischer Art ist, dass sie sich in die Grundbegriffe und Grundgegens?tze der romantischen Philosophie nicht ohne Zwang einf?gen l?sst.
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