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Read Ebook: Der Mensch ist gut by Frank Leonhard

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Ebook has 749 lines and 28704 words, and 15 pages

r. Machtlos.

Diese entsetzlich kalte, mitleidlose Eisenkonstruktion der Bahnhofshalle. Stumme und weinende M?tter und Frauen. Trockene Gaumen. Zerrissenes L?cheln der jungen Soldaten. Wie Leichen mit Blumen geschm?ckt. Wilde, mit Blumen geschm?ckte Machtlosigkeit.

Der Zug f?hrt ab. Er f?hrt. F?hrt. Verschwindet.

Einsames, furchtbares Nachhausegehen.

Zwischen der Mutter Hand und den Deckel des Kochtopfes schiebt sich die graue Gestalt des Sohnes. Die ?berlegung, ob das Gem?se noch etwas Salz brauche, wird zerschnitten vom Sohne, der in den Sch?tzengraben springt. Immer wieder rasend schnell in den Sch?tzengraben springt, aus dem heraus die Bajonette nach ihm stossen.

Jeder Gedanke wurde vom Denken an ihren Sohn durchschnitten.

W?hrend der B?cker das Brot f?r sie einwickelte, entdeckte sie in einer von weissen Schussw?lkchen b?sartig still belebten, ?den Flachlandschaft, die sie nie gesehen hatte, den Sohn, wie er mit der ihm eigenen Handbewegung sich ?ber das rechte Auge streicht.

Und in dem Moment, da sie sagte: >>Frisches Brot w?re mir lieber gewesen<<, streckt der Sohn den Kopf zu weit aus dem Sch?tzengraben heraus.

Entsetzt liess sie das Brot auf den Ladentisch zur?ckfallen, presste beide F?uste an die Wangen und starrte; sieht, wie der feindliche Soldat auf den Kopf des Sohnes zielt.

>>Jesus! Kind, wie kannst du mir . . .<<

Sohn beugt sich zum Kameraden hinab.

>>. . . das antun.<<

Der feindliche Soldat senkt das Gewehr.

>>Morgen gibt es wieder frisches Brot.<<

Die Mutter verliess die B?ckerei, den Blick stier auf der Szene: der gegnerische Soldat lugt, das Gewehr wieder schussbereit an der Backe, zum hinabgebeugten Sohn hin?ber.

>>Wenn er sich jetzt aufrichtet. Mein Gott, wenn er sich aufrichtet . . . Allm?chtiger Gott, lasse den Kameraden eine Geschichte erz?hlen, damit mein Sohn zuh?rt, sich nicht aufrichtet. Lasse den Kameraden eine Bitte aussprechen, die mein guter Sohn erf?llen wird, so dass er sich nicht aufrichtet.<<

Das feindliche Gewehr sinkt.

Da steigt des Sohnes Kopf: das feindliche Gewehr hebt sich zur entsetzlichen Wagrechten.

Ein Schrei der Mutter.

Sie glotzte auf die zwei langhaarigen Hunde, die knapp vor ihr aufeinander losfuhren. Gefletschte Z?hne. Ineinander verbissene M?uler.

Die Mutter st?rzte sich zwischen die zwei k?mpfenden Hunde, die der Sohn und der gegnerische Soldat sind. Mit ihren alten, von der Lebensarbeit stumpf gewordenen H?nden riss sie die Hunde auseinander, die knurrend in entgegengesetzten Richtungen forttrabten.

Die Mutter lehnt atmend an der Hausmauer und vernimmt das lautlose St?hnen, das aufsteigt vom tiefsten Urgrund des Weiblichen, vom mystischen Punkt: Mutterliebe.

Die Mutter hat w?hrend der drei Kriegsjahre gelernt, vollkommen lautlos zu st?hnen. Denn w?rde ihr und aller M?tter St?hnen Ton, ganz Europa w?rde Tag und Nacht ununterbrochen klingen von wildklagendem, dumpfem St?hnen, f?r das noch keine Sprache Worte gefunden hat.

?ber Europa lastet Stille, das qualvollste Leid: das >Leid Machtlosigkeit<. Furchtbarste Stille, unter der Menschenherzen sich kr?mmen. Lebendem Wurme am Angelhaken ist kein Ton gegeben.

Und an den Fronten zucken, in geistsch?nderischem Kreise aufgestellt, die Rohrl?ufe der Gesch?tze vor, gleiten zur?ck, zucken, vor, zur?ck, werden heiss: ein Donnerkreis. Kreis von Blut. Zerfetzten Menschenleibern. Losgetrennten Armen, Beinen. Ein Riesen-Kreis-Grab umspannt das stille Europa. Grab-Blut-Gesch?tzdiagonalen durchschneiden es, grenzen stille Leidbezirke ab, in denen die Mutter Europas bebend kniet, nicht atmen kann. Denn sie h?rt den Schuss krachen, sieht die Kugel fliegen, auf den Sohn zu, sieht Milliarden Kugeln fliegen. Denn sie sieht best?ndig eine Kugel fliegen. Auf den Sohn zu.

Das Herz tut ihr weh. Tag und Nacht. Schon drei Jahre lang. Drei Ewigkeiten.

Die Mutter -- ein wandelndes, verzerrtes Herz, das Antlitz, Gehirn und Augen bekommen hatte, die kopflose Mutter, die nur noch mit dem Herzen dachte und sah, deren Gef?hl die Last, die Angst, die Schmerzen, das Leid, den Jammer ganz Europas trug, die europ?ische Mutter eilte, das Brot gegen die schlaffen Hauts?cke ihrer Brust gedr?ckt, nach Hause, den Feldpostbrief zu erwarten, der den krachenden, blutigen Kreis des Menschenmordens -- >>vielleicht, vielleicht doch nicht, vielleicht doch<< -- verlassen haben und mit der n?chsten Post in der verd?sterten Vorstadtwohnung eintreffen konnte.

Sie eilte. Ihre Gedanken, alle vom Herzen gedacht, eilen voraus: sehen den Brieftr?ger.

Der winkt. >Ich habe etwas f?r Sie<, sucht, reicht ihr einen Brief. >Halt, noch etwas.< Reicht ihr noch zwei. Noch f?nf. Reicht ihr eine Hand voll Briefe. Alle sind vom Sohne. Sie rennt mit den Briefen die Treppe hinauf.

Und biegt in die leere Gasse ein. Blickt: >Kein Brieftr?ger.<

W?hrend sie die Treppe hinaufsteigt, sieht sie den Sohn, wie er vor dem Leutnant steht.

Der sagt: >Wenn ich noch einmal bemerke, dass Sie absichtlich nicht schiessen, melde ich Sie. Dann werden Sie erschossen.<

Von wilder Angst befallen, bleibt die Mutter auf dem Treppenabsatze stehen und fleht: >>Schiesse!<<

Der Sohn hebt das Gewehr, zielt auf den Franzosen.

Die Mutter sieht die franz?sische Mutter, die in Paris am Fenster sitzt und an ihren Sohn denkt, auf den in diesem Augenblicke gezielt wird vom Sohne.

Die Mutter schreit: >>Schiesse nicht!<<

Der Leutnant: >Schiessen! Oder Sie werden erschossen.<

Fleht die Mutter: >>Schiesse! O Gott, schiesse!<< Sieht die franz?sische Mutter. >>Nicht! Schiesse nicht!<<

L?sst das Gewehr sinken. >Ich schiesse nicht, Herr Leutnant.<

>Ihn sofort abf?hren<, befiehlt der Leutnant.

Und die Mutter br?llt: >>Um Gotteswillen! Schiesse! Schiesse!<<

Da reisst der Sohn das Gewehr an die Backe, zielt: der Franzose wirft die H?nde hoch, kr?mmt sich und st?rzt aufs Gesicht.

Die Mutter presst die Hand aufs Herz, deutet entsetzt mit der Rechten nach Paris zum Fenster, wo die franz?sische Mutter sitzt, eben den amtlichen Brief ?ffnet und liest: >>Ist gefallen.<< Sieht, wie die franz?sische Mutter aufschreit, gl?sern glotzt.

Langsam, wie mit einer furchtbaren Mordtat belastet, steigt die Mutter die zweite Treppe hinauf, und ihr sehendes Herz verfolgt den m?rderischen Lauf der Kugel, die durch den Franzosen durch und weiter fliegt, nach Paris, der franz?sischen Mutter ins Herz.

Aber der Sohn lebt, wird nicht erschossen, weil er erschossen hat, auf das Flehen der Mutter hin.

Immerzu sieht das Herz der Mutter, wie die Kugel ihres Sohnes den Franzosen durchschl?gt, weitersaust, bis nach Paris: der franz?sischen Mutter ins Herz.

Schritte klingen auf der Gasse. Blitzschnell f?hrt ihr Oberk?rper durchs Fenster: >Nicht der Brieftr?ger.<

Ungedacht, ungewollt, dunkel steigt vom Urgrund des Seins schicksalhaft das Gesetz >>Schuld und S?hne<< auf und stellt die Mutter vor die t?dliche Gewissheit: der zum M?rder gewordene Sohn wird ermordet werden.

Ihr Oberk?rper f?hrt durchs Fenster. Der Blick blitzt die Gasse hinunter, die Gasse hinauf. Kein Brieftr?ger.

Und wie sie den Blick zur?ckzieht: -- Landschaft mit k?nstlich aufgeworfenen H?geln. Schutzwehre, D?mme, Hecken. Ausgetretene, lehmige Pfade.

>Wir schleppen die mit Munition gef?llten Bastk?rbe an die vorderste Linie. ?ber uns zeichnen Granaten drohende Bogen an den Himmel. Weisse Explosionen. Links und rechts, vor und hinter uns. Erdwolken. Leichen. Menschenteile. Unermesslich furchtbar<, hatte der Sohn geschrieben.

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