Read Ebook: Der Mensch ist gut by Frank Leonhard
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Ebook has 749 lines and 28704 words, and 15 pages
>Wir schleppen die mit Munition gef?llten Bastk?rbe an die vorderste Linie. ?ber uns zeichnen Granaten drohende Bogen an den Himmel. Weisse Explosionen. Links und rechts, vor und hinter uns. Erdwolken. Leichen. Menschenteile. Unermesslich furchtbar<, hatte der Sohn geschrieben.
Die Mutter sieht, wie weiter r?ckw?rts, noch in Sicherheit vor den einschlagenden Granaten, der Sohn und der Kamerad den Munitionskorb hochheben, ihn vorschleppen in die rote Feuerwolke.
Und kann den Sohn nicht zur?ckhalten, ihn nicht zur?ckreissen, ist machtlos.
>Hat es gel?utet?< Sie zerrt die T?r auf. Stiert in den leeren Hausflur.
Und als die Wohnungsglocke sp?ter wirklich l?utete und das Aufreissen der T?r den Brieftr?ger zeigte, griff die Hand der Mutter nach einer Postkarte, auf der stand: >Den verehrlichen Mitgliedern zur Kenntnis, dass der Gesangverein >Frohsinn< bis auf weiteres die Singproben ausfallen lassen muss, da immer mehr S?nger dem Rufe des Vaterlandes gefolgt sind und es keinen Zweck mehr hat. Der Schriftf?hrer<.
Sie legte die Karte auf den Tisch, neben den Suppenteller des Vaters. >>N?chste Post . . . Jetzt kann vor vier Stunden kein Brief kommen.<< Vom Sohne,
der in diesem selben Augenblicke, da seine Mutter das in Angst, Qual und Machtlosigkeit dachte, im Sch?tzengraben auf einer Munitionskiste sass.
Seine lehmgelbe Hand hielt einen Brief, den er selbst vor l?nger als einem Jahre in einem Sch?tzengraben in Russland an eine imagin?re Person geschrieben, abgesandt und jetzt, machtlos eingemauert in einen Sch?tzengraben der Westfront, zur?ckbekommen hatte, mit der Aufschrift: Adressat unbekannt.
Als er beginnen wollte, zu lesen, br?llte das tausendfache Br?llen der Gesch?tze ihm zu, er brauche nicht den Brief zu lesen, er k?nne die Wirklichkeit ablesen, die entsetzlich genau der an der Ostfront gleiche.
Er hob den Blick: eine weite, ?de, gelbliche, leere Fl?che, stellenweise dicht bedeckt mit alten und frischen Leichen, langsam sich bewegenden Verwundeten, die nicht geholt werden konnten und langsam starben.
>Alles geschieht nahe der Erde. Niedrig, t?ckisch, gef?hrlich, fl?chig, farblos, grau . . . Frischfr?hliche Reiterattacken, nach denen wir uns auch vor dem Kriege nicht gesehnt hatten, gibt es nicht mehr<, las er. Und sah hinaus: der Brief aus gelber Erde lag flach aufgeschlagen vor ihm.
Zwischen dem feindlichen Graben und dem des Sohnes lagen sie: flach, schon halb in die Erde versunken. Tote. Eigentlich nur Uniformfetzen; Gesichter und H?nde waren schon der Erde gleich geworden. Eine zweite Erdschicht, die aus Toten bestand. Ganz nahe beim Sohn lag ein Toter und glotzte blau. Auch der konnte, obwohl er kaum zwei Meter entfernt lag, nicht geholt werden. Denn hob sich nur ein Kopf, so hoben sich zehn feindliche Gewehre. Der Tote lag schon sechs Wochen vor dem Graben, glotzte und stank. Das Wimmern des Verwundeten, der neben dem Toten lag, h?rte nie auf. Horte seit drei Tagen und seit drei langen N?chten nie auf.
>Brand- und Leichengestank ist unsere Luft. Seit drei Jahren<, las der Sohn.
Und betrachtete seinen links neben ihm hockenden Kameraden, der gesund-rote, dicke, feste Backen hatte und, vollkommen gleichgiltig gegen?ber all dem Entsetzlichen, das um ihn herum geschah, vor sich hin glotzte. Apathisch. Stumpf. Entseelt.
>So weit bin ich noch nicht. Ich schreibe noch Briefe. An die Mutter. An die Mutter. Schreibe alles Elend, alle Schmach, alles Grauen aus mir heraus, um atmen zu k?nnen. An die Mutter . . . Und dann kann die Mutter nicht atmen.<
Ein qualvolles L?cheln der Selbstverachtung zog seinen linken Mundwinkel herunter, bei der Erinnerung, dass er, damit seine seit drei Jahren im Zeichen von Blut-, Brandstiftungs- und Morddunst stehenden Gef?hle nicht ganz unkontrolliert bleiben, ihm die Seele nicht auf Lebenszeit verh?rten sollten, immer wieder Briefe geschrieben hatte. Viele Briefe. An die Mutter. Beichten. Anklagen. Selbstanklagen. Schreie. An fingierte Adressaten. Nicht mehr an die Mutter. Um die Mutter zu schonen. Briefe. Briefe. Um sich mitzuteilen. Um nicht zu vergessen. Um sich der Furchtbarkeiten bewusst zu bleiben. Um nicht ein ebenso vollkommen fatalistischer, vollkommen abgestumpfter, gegen alle Entsetzlichkeiten gleichgiltig gewordener, maschinierter M?rder zu werden, wie sein neben ihm hockender armer Kamerad, der sich die Seele aus dem Leibe hinausgemordet hatte. Der auf Befehl geschossen hatte. Geschossen hatte. Weiter schoss, schoss, schoss. Automatisch wie ein automatisches Gewehr.
>Hinter uns, m?rderisch genau eingestellt, kracht die Gesch?tzkette, schleudert Granaten ?ber uns weg in die feindlichen Stellungen. Ununterbrochen. Ununterbrochen Mord! Tag und Nacht. Zahllose Granaten, die den ununterbrochen her?berfliegenden Granaten begegnen. An der ganzen Front entlang. Laut meckerndes Maschinengewehrfeuer. Menschen fallen und sind still. Menschen fallen, st?hnen, br?llen, wimmern, bellen. Fernes Maschinengewehrfeuer. Gegnerisches Maschinengewehrfeuer. Bomben und Minen platzen. Schussw?lkchen. Zahllose Schussw?lkchen, soweit ich sehen kann . . . Alles flach, grau, farblos, t?ckisch.<
Der Sohn sah auf: sah alles, was er gelesen hatte. Und sein vor Entsetzen kranker Blick traf heute zum tausendsten Male den Soldaten, der schwer verwundet und lebendig seit f?nf Tagen und f?nf langen N?chten im Stacheldrahte hing, grauenhaft langsam die Glieder bewegte. Ganz lautlos. Immer matter. Manchmal schrie er. Immer den gleichen Ton, f?r den noch keine Sprache das Wort gefunden hat.
>>Ein Mensch schreit<<, f?hlte des Sohnes ganzes Wesen. >>Ein Mensch schreit.<<
>Menschen, Millionen Menschen, Menschen schiessen aufeinander, ermorden, erschlagen, erw?rgen, zerfetzen einander. Seit drei Jahren. Warum?<
Interesse und gleichzeitig Staunen dar?ber, dass er sich f?r einen Gedanken noch interessierte, ber?hrte den Sohn, als er las:
>Aber nicht gegen das, was hier im Felde geschieht, muss gek?mpft werden. Denn diese paradoxe Menschenschl?chterei ist nur vordergr?ndlich, ist nur die Oberfl?chenwirkung des gemeinen Geistes im Lande. Wenn dieser r?uberische Geist, der als das l?genhafte Ideal >>Nationalismus<< gepredigt und gefeiert wird, ?berwunden ist, verrosten die Gesch?tze von selbst.
Wir wollen uns opfern, wollen lieben, denkend die Gef?hle sieben, dass der Pr?sident der Erde Pr?sident der Liebe werde.<
Der Leutnant, den Revolver in der Knabenfaust, schritt gebeugt durch den Graben, vorbei am Sohne, vorbei am Kameraden, der zielte und schoss.
Lautlos, ununterbrochen und qualvoll langsam bewegte der im Stacheldraht h?ngende Soldat die Glieder.
Der Sohn suchte die S?tze, die er vor einem halben Jahre geschrieben hatte. >Gestern ist ein Kamerad neben mir Mensch geworden. Er legte das Gewehr weg, sah uns an, l?chelte beseligt. Und als der Vorgesetzte befahl: >>Nicht lachen! Schiessen!<< l?chelte der Mensch ihn an und sch?ttelte den Kopf. Mit welch kindlicher, grenzenloser Liebe l?chelte er uns an. Er hatte durch eine mystische Kraftkurve den Geist der Disziplin, der Knechtschaft, den Geist des Militarismus ?berwunden, war wieder Mensch: war wahnsinnig geworden. Er wurde ins Irrenhaus gebracht. Es hiess, er w?rde wieder gesund werden, wieder schiessen k?nnen. Vielleicht schiesst er jetzt auf dem Balkan.<
Das Gesch?tzfeuer war immer wilder geworden, hatte sich vervielfacht, stieg rasend an. Die einschlagenden Granaten rissen Unterst?nde, Ballen und Menschen auseinander. Trotzdem verliessen, vom Befehle vorgestossen, lange, dichte Reihen lehmiger Gestalten die gegnerischen Gr?ben, wurden vom flankierenden Maschinengewehrfeuer glatt auf die Erde gestrichen.
Heulen. Schreie. Wimmern, zuckende K?rper. Augen glotzten tot. Ungez?hlte frische Leichen lagen auf den alten Leichen.
Und nach dem abschliessenden wilden Grabenkampfe las der Sohn: >Hunderttausende ?berwinden den Militarismus durch den Wahnsinn. Zehn Millionen verwesen. Zehn Millionen sind Kr?ppel. Und von den ?brigen werden die meisten als pr?zis funktionierende Mordmaschinen heimkehren. Wie den Kindern das ABC, hat man ihnen den Geist der Gewalt eingepflanzt. Der sitzt. Muss weiter wirken. Mein neben mir hockender einfacher Mordkamerad, der reine Repr?sentant seiner Millionen einfacher Mordkameraden, wird in der Heimat automatisch jeden niederstechen wollen, der Recht vor Gewalt zu setzen versucht. Auch der wildeste Schmerzensschrei ber?hrt die im t?glich gleichen Laufe von drei Jahren gegen alle Entsetzlichkeiten abgestumpften reinen Tr?ger der Gewalt nicht mehr. Wie auch euch in der Heimat das Leid der Menschen nicht mehr trifft, da ihr, ohne den Verstand zu verlieren, in der Zeitung lesen k?nnt: dreissigtausend sind gefallen.<
Da erlebte der Sohn etwas, dem er sich nicht entziehen konnte: er f?hlte, wie seine rechte K?rperh?lfte dagegen war, diesen Brief doch noch an die Mutter zu senden; und f?hlte gleichzeitig, wie die Herzseite ihn zwang, den Brief abzuschicken an die Mutter: das einzige europ?ische Wesen, das niemals abgestumpft und gleichgiltig werden konnte gegen?ber dem Leide der Menschen, die alle von M?ttern geboren wurden.
Vergebens versuchte er, das immer noch von Sekunde zu Sekunde rasend ansteigende Artilleriefeuer nicht zu h?ren. Die Erde knallte. Seine Ohren knallten. Sein Gehirn knallte. Er sah, wie der Hammer des neben ihm h?ngenden Telephons trommelte, las von des Leutnants Lippen das auf die Membrane gebr?llte Wort >>Jawohl<< ab. Und wusste, dass die Todesstunde gekommen war f?r die Grabenbesatzung, die zum Sturmangriffe vorgeschickt wurde.
F?uste packten die Gewehre. Bajonette starrten. Graue Gestalten, im Graben eng zusammengedr?ngt. Das waren keine Menschengesichter mehr. Gesichter aus Glas. Augen aus Glas. Das Denken, jede ?berlegung war aus dem Sein der Soldaten hinausgefallen.
Auch der Sohn steckt das Bajonett auf den Rohrlauf, denkt noch: >Und dann kann die Mutter nicht atmen, wenn sie den Brief bekommt.< Denkt: >Falle ich?< Und wurde vom Befehle vorgestossen,
w?hrend die Mutter machtlos am Esstische stand und des Vaters Suppenteller f?llte.
Ihr abwesender Blick traf die farbige Photographie des beliebtesten Heerf?hrers, die der Vater gekauft und an die Wand geh?ngt hatte. Der lange Perpendikel der h?her h?ngenden Schwarzw?lderuhr schwang ?ber dem Gesichte des Heerf?hrers hin und her.
Genau senkrecht unter dem best?ndig ?berquerten Heerf?hrergesicht sass der Vater und las zur Suppe >Ein k?hnes Patrouillenst?ckchen< in der Zeitung.
Die Mutter wusste nicht, ob sie sich den Sohn hinter der Front oder in der vorderen Linie denken sollte,
w?hrend in dieser Sekunde der Sohn, von geschwungenen Gewehrkolben und wildglotzenden Menschengesichtern ?berdacht, im feindlichen Graben ins Knie glitschte.
>. . . und machte ihn kurzerhand nieder<, las der Vater zu Ende. >>. . . Was gibts denn?<<
>>Es ist wieder kein Brief gekommen.<<
>>Nein, was du zu essen hast . . . Wird schon kommen. Ist ja noch immer gekommen.<<
Dann las er den Leitartikel, in dem geschrieben stand, dass das Volk, in unersch?tterlichem Vertrauen zu seiner bew?hrten Regierung, ausharren und infolge seiner Einigkeit neugest?rkt aus diesem blutigen Ringen hervorgehen werde. Angefangen bei den geistigen Spitzen und durch alle Volksschichten durch, wisse jeder Soldat, jeder Heim-Krieger, jedes Schulkind, dass dieser Krieg, ein uns aufgezwungener Krieg sei, und dass das Vaterland in Gefahr war.
Das las er der Mutter vor. Und sagte: >>Da ist wieder einmal alles ganz klar auseinandergesetzt . . . Diese ausl?ndischen Sakramentslumpen!<<
Die Mutter h?tte nicht sagen k?nnen, weshalb sie unter die Uhr trat und den Perpendikel anhielt, so dass er das Gesicht des beliebten Heerf?hrers in zwei Teile schnitt. Sie sagte m?de: >>Woher soll denn ein Schulkind wissen, ob uns der Krieg aufgezwungen worden ist . . . Und auch wir gew?hnlichen Leute, was wissen denn wir davon.<<
>>Das weiss doch jeder Mensch. Und die Kinder . . ., f?r was sind denn die Schullehrer da. Und wir, wir k?nnens doch jeden Tag in der Zeitung lesen . . . Was gibts denn?<<
>>. . . Nur diese Karte ist gekommen . . . Iss halt noch einen Teller Suppe. Vor dem Metzgerladen sind zwei Polizisten und vielleicht dreihundert Frauen gestanden. Ich habe nichts mehr bekommen.<<
>>H?ttest eben fr?her dort sein m?ssen . . . Wenn nur dieser Saukrieg einmal ein Ende h?tte . . . Diese ausl?ndischen Sakramentslumpen!<<
Hungerschw?che und Angst um den Sohn, den sie pl?tzlich lautlos auf das Gesicht st?rzen sah, verdunkelte der Mutter den Blick. Und als sie wieder sehen konnte und den alten Vater betrachtete, der schwer arbeiten musste und stark abgemagert war, weil er oft nur eine Wassersuppe vorgestellt bekam, schob sie ihm ihren Teller hin. >>Das Vaterland war in Gefahr? Nun und jetzt? Eine gr?ssere Gefahr f?r das Vaterland ist ?berhaupt nicht m?glich. Jetzt ist das ganze Volk in Gefahr. Ich weiss ja nicht -- ich brauche aber nur in seinem Briefe nachzulesen --, wieviel schon gefallen sind, und wieviel Kr?ppel sind und wieviel im Lande krank werden und sterben, weil sie so wenig zu essen haben. Und die Kinder, die so aufwachsen! Schau sie nur einmal an. Und dass sie jahrelang nur von Mord reden h?ren. Was werden denn das f?r Menschen. Von uns alten Leuten will ich ganz schweigen. Und von den Soldaten draussen sollen ja so viele krank sein. Du weisst schon wie.<<
>>Was der dir immer schreibt.<<
>>Dass das Volk jetzt in allergr?sster Gefahr ist, das kann man leicht wissen. Das weiss jeder. Dazu braucht man nicht viel Verstand zu haben . . . Der Krieg w?re auch sicher gar nicht gekommen, wenn die vorher gewusst h?tten, was jetzt daraus geworden ist. Die haben sich einfach verrechnet. Und grauenhafter Weise nicht wie der Kaufmann nur um eine Geldsumme, sondern um das Blut von Millionen. Um das Blut unserer S?hne. Jetzt w?rden sie nicht mehr anfangen . . . In seinem letzten Briefe schreibt er: >Der Schuss, der den Einzelnen trifft, hat das ganze Volk in die Brust getroffen.< Und so ist es.<<
>>Brust getroffen! Wenn wir doch siegen!<<
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