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Read Ebook: Hermann Lauscher by Hesse Hermann

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Ebook has 741 lines and 48471 words, and 15 pages

Hermann Lauscher von Hermann Hesse

Zweites Tausend.

Verlag der Rheinlande D?sseldorf 1908.

Druck von August Bagel, D?sseldorf.

Inhalt:

Vorrede zu dieser Ausgabe 1 Vorwort der ersten Ausgabe 7 Meine Kindheit 11 Die Novembernacht 43 Lulu 61 Schlaflose N?chte 115 Tagebuch 1900 145 Letzte Gedichte 179

Vorrede zu dieser Ausgabe.

Auf den Wunsch einiger Freunde, namentlich aber auf die Aufforderung Wilhelm Sch?fers hin, soll der verstorbene Hermann Lauscher wieder ausgegraben und noch einmal unter die Leute geschickt werden. Da bin ich denn eine Erkl?rung und Rechenschaft schuldig, zumindest eine bibliographische.

>>Hinterlassene Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher<< war der Titel einer kleinen Schrift, die ich Ende 1900 in Basel erscheinen liess und in der ich pseudonym ?ber meine damals zu einer Krise gediehenen J?nglingstr?ume abrechnete. Ich dachte damals, mit dem von mir erfundenen und totgesagten Lauscher meine eigenen Tr?ume, soweit sie mir abgetan schienen, einzusargen und zu begraben. Das B?chlein erschien, in kleinster Auflage, beinahe mit Ausschluss der ?ffentlichkeit, und ist kaum ?ber meinen Freundeskreis hinaus bekannt geworden. Wenige andere griffen, da sie meine sp?teren B?cher kannten, nachtr?glich zu dem Schriftchen und sahen darin eine Art von literarischem Kuriosum.

Der Gedanke eines Neudrucks ist mir nie gekommen, bis in der letzten Zeit Freunde ihn lebhaft aussprachen und schliesslich Wilhelm Sch?fers Vorschlag kam. Da ich keinen Grund sehe, ein St?ck meines Jugendlebens wegzuleugnen, und da ich stilistisch den Lauscher noch heute zu verantworten bereit bin, gab ich nach.

Nun war die Frage, in welcher Form die Jugends?nde wieder aufleben sollte. Ich dachte an eine ?berarbeitung, sah aber sofort, dass die Gedanken und Stimmungen eines Zwanzigj?hrigen nicht nach zehn Jahren von ihm selber neu redigiert werden k?nnen, da ihr einziger, relativer Wert im Ausdruck, im Rhythmus, in der Geberde liegt. Und Einzelnes zu streichen oder zu besch?nigen, schien mir wieder unerlaubt.

Der Text blieb also, auch wo er mir heute fremd, ja zuwider ist, w?rtlich derselbe. Dagegen schien mir eine Rundung des fragmentarischen und allzu umfanglosen B?chleins w?nschenswert. Etwas Neues hinzuzuf?gen h?tte keinen Sinn gehabt und dem Ganzen geschadet. Doch besass ich noch zwei kleine Dichtungen aus jener Zeit. Die erste ist bisher nur in einer schweizerischen Zeitschrift, die zweite ?berhaupt nicht ver?ffentlicht worden. Beide stehen zum >>Lauscher<< in engster Beziehung und sind in der selben Zeit wie er entstanden. Diese beiden St?cke f?gte ich ein.

Und nun liegt das Ganze da und schaut mich nicht eben gl?cklich an: Dokumente einer sch?nen und innigen, doch nicht leichten Jugendzeit. Was ich damals wollte, habe ich nicht erreicht; was ich seither erreichte, kam beinahe ungewollt und wiegt mir nicht schwer. Dagegen finde ich jetzt betroffen und erstaunt in diesen fr?hen Dichterversuchen T?ne klingen und Wege angedeutet, die mich heute wieder frisch und ernsthaft anmuten und von denen ich nicht weiss, wie sie mir jahrelang fremd werden und beinahe verloren gehen konnten. Da ist Vieles, was meine seitherigen Wege mir selbst zweifelhaft macht und mich zu bitteren Erkenntnissen n?tigt.

Aber bittere Erkenntnisse sind besser als keine, und wer einmal den gef?hrlichen Pfad der Selbstbeobachtung und der Bekenntnisse betreten hat, der muss billig die Folgen tragen, auch wenn es unerwartete und peinliche sind.

Dass nun Manche kommen werden, die mir S?nden von damals vorhalten, als w?ren es heutige, und dass Andere finden werden, ich h?tte besser getan, Neues zu arbeiten statt Jugendversuche wieder auszugraben, das ficht mich nicht an. Diese wissen und f?hlen nicht, wie peinlich mir diese Neuherausgabe wurde, und begreifen auch nicht, dass ich sie eben darum doch ausf?hrte und damit mein Gewissen erleichtert habe. Im ?brigen soll der Lauscher, der jetzige wie der alte, eben nichts als ein Bekenntnisbuch f?r mich und meine Freunde sein.

Dezember 1907.

Vorwort der ersten Ausgabe. .

Der Name Hermann Lauscher tritt mit der vorliegenden Publikation zum ersten Mal in die ?ffentlichkeit. Lauschers Dichtungen, unter fremdem Namen im Druck erschienen, sind einem bestimmten engeren Leserkreise wohlbekannt.

Leider hat der verstorbene Dichter mir verboten, sein Geheimnis preiszugeben und seine fr?her gedruckten Schriften ihm zu vindizieren. Es war ein Abend in der Weinstube des >>Storchen<<; Lauscher war von seiner gew?hnlichen traurig bitteren Stimmung befallen, vielleicht warf auch sein bald darauf erfolgter Tod den Schatten einer ?ngstigenden Ahnung voraus. Er bat mich f?rmlich zu schw?ren, seine Anonymit?t aufs treueste wahren zu helfen. Vor mir, als dem einzigen Literaten seiner Freundschaft, schien er in diesem Punkte besonders ?ngstlich zu sein. Ich schwor lachend ewiges Stillschweigen, das Gespr?ch wendete sich zu literarischen Fragen, wobei Lauscher alle Quellen seiner fast feindseligen Ironie springen liess. Dann versank er in Schweigen, trank hastig mehrere Becher Wein und nahm pl?tzlich kurzen Abschied. Ich sah ihn seither nicht wieder -- zehn Tage darauf starb er pl?tzlich auf einer Reise.

Lauschers literarischer Nachlass enthielt fast nichts als die hier mitgeteilten St?cke. N?chst dem rein pers?nlichen Wert, den diese f?r seine Freunde haben, d?rften sie als Dokumente der eigent?mlichen Seele eines modernen ?stheten und Sonderlings das Interesse aufmerksamer Leser verdienen, namentlich durch die herbe, selbstqu?lerische Wahrheitsliebe des >>Tagebuchs<<. Sie entbehren fast ganz die fleissig geschliffene, prezi?se Form, welche Lauschers Dichtungen eigen ist, und d?rften so, ganz im Sinn ihres Verfassers, auch gewandten literarischen Sp?rern keinerlei Schl?sse auf dessen anderw?rts existierende Autorschaft zulassen.

Durch weitere Notizen ?ber den Dahingegangenen oder durch eine vielleicht zuweilen erw?nscht scheinende abrundende Redaktion den pers?nlich lebendigen Duft der nachstehenden Bl?tter zu beeintr?chtigen, schien mir unerlaubt.

M?gest du mir verzeihen, mein armer, toter Freund, wenn diese Ver?ffentlichung deiner letzten, einsamen Gedanken und Leiden nicht deinem stumm gebliebenen, letzten Wunsche entspricht!

Meine Kindheit.

Zu allen Zeiten meines sp?teren Lebens ist meine Kindheit oft in vielfachen Bildern zu mir getreten, lockig, fremd und unerl?st wie ein blasses M?rchenkind. Am meisten suchte mich diese Erinnerung in schlaflosen N?chten heim, mit einem Blumenduft oder einer Liedweise beginnend, bis zu Trauer, Ungemach und Todesbitterkeit, oder zu einer z?rtlichen Sehnsucht nach Streichelh?nden und einer milden Neigung zu Gebet und Tr?nen.

Wenn jetzt noch die Kindheit zuweilen an mein Herz r?hrt, so ist es als ein goldgerahmtes, tieft?niges Bild, an welchem vornehmlich eine F?lle laubiger Kastanien und Erlen, ein unbeschreiblich k?stliches Vormittagssonnenlicht und ein Hintergrund herrlicher Berge mir deutlich wird. Alle Stunden meines Lebens, in welchen ein kurzes, weltvergessenes Ruhen mir verg?nnt war, alle einsamen Wanderungen, die ich ?ber sch?ne Gebirge gemacht habe, alle Augenblicke, in welchen ein unvermutetes kleines Gl?ck oder eine begierdelose Liebe mir das Gestern und Morgen entr?ckte, weiss ich nicht k?stlicher zu benennen, als wenn ich sie mit diesem gr?nen Bilde meines fr?hesten Lebens vergleiche. So ist es mir auch mit allem, was ich als Erholung und h?chsten Genuss mein Leben lang liebte und w?nschte, alles Schreiten durch fremde D?rfer, alles Sternez?hlen, alles Liegen im gr?nen Schatten, alles Reden mit B?umen, Wolken und Kindern.

Der fr?heste Tag meines Lebens, an den ich mich mit einiger Deutlichkeit erinnern kann, mag etwa in den letzten Teil meines dritten Jahres fallen. Meine Eltern hatten mich auf einen Berg mitgenommen, der durch eine weitl?ufige Ruine von betr?chtlicher H?he t?glich viele St?dter anlockte. Ein junger Onkel hob mich ?ber die Br?stung einer hohen Mauer und liess mich in die ansehnliche Tiefe hinuntersehen. Davon ergriff mich die Angst des Schwindels, ich war aufgeregt und zitterte am ganzen Leibe, bis ich zu Hause wieder in meinem Bette lag. Von da an trat in schweren Angsttr?umen, denen ich damals oft zur Beute fiel, h?ufig diese Tiefe herzbeklemmend vor meine Seele, dass ich im Traum st?hnte und weinend erwachte. Was f?r ein reiches und geheimnisvolles Leben muss vor jenem Tage liegen, von dem mir keine einzige Stunde bewusst ist! So sehr ich mich plagte, vermochte mein Ged?chtnis niemals weiter als bis zu jenem Tage vorzudringen. Wenn ich mich aber streng auf meine fr?heste Zeit und ihre Stimmungen besinne, habe ich den Eindruck, es m?sse n?chst dem Sinn f?r Wohlwollen kein Gef?hl so fr?h und stark in mir wach gewesen sein, wie das der Schamhaftigkeit. Ich fand bei Kindern von f?nf und mehr Jahren manchmal ?usserungen der Schamfreiheit, von denen ich weiss, dass ich ihrer in meinem dritten oder vierten Jahre unf?hig gewesen w?re.

Eine genauere Erinnerung an Erlebnisse und an fortdauernde Zust?nde kann ich nicht weiter als bis in mein f?nftes Jahr zur?ck verfolgen. Hier finde ich zuerst ein Bild meiner Umgebung, meiner Eltern und unseres Hauses, sowie der Stadt und der Landschaft, in welcher ich aufwuchs. In dieser Zeit hat sich die freie, sonnige Strasse mit nur einer H?userreihe vor der Stadt mir eingepr?gt, in der wir wohnten, ferner die auffallenderen Geb?ude der Stadt, das Rathaus, das M?nster und die Rheinbr?cken, und am meisten ein weites Wiesenland, hinter unserem Hause beginnend und f?r meine Kinderschritte ohne Grenzen. Alle tiefen Gem?tserlebnisse, alle Menschen, selbst die Portr?ts meiner Eltern, scheinen mir nicht so fr?h deutlich geworden, wie diese Wiese mit unz?hligen Einzelheiten. Meine Erinnerung an sie scheint mir ?lter zu sein als diejenige an Menschengesichter und erlittene eigene Schicksale. Mit meiner Schamhaftigkeit, welche schon fr?h von einem Widerwillen gegen eigenm?chtige Ber?hrung meines Leibes durch fremde H?nde des Arztes oder der Dienstboten begleitet war, h?ngt vielleicht meine fr?hzeitige Lust am Alleinsein im Freien zusammen. Die vielen stundenlangen Spazierg?nge jener Zeit hatten immer die unbetretensten gr?nen Wildnisse jener grossen Wiese zum Ziel. Diese Zeiten der Einsamkeit im Grase sind es auch, die beim Erinnern mich besonders stark mit dem wehen Gl?cksgef?hl erf?llen, das unsere G?nge auf Kindheitswegen meist begleitet. Auch jetzt steigt mir der Grasduft jener Ebene in feinen Wolken zu Haupt, mit der sonderbaren ?berzeugung, dass keine andere Zeit und keine andere Wiese solche wunderbaren Zittergr?ser und Schmetterlinge hervorbringen kann, so satte Wasserpflanzen, so goldene Butterblumen und so reichfarbene k?stliche Lichtnelken, Schl?sselblumen, Glockenblumen und Skabiosen. Ich fand nie wieder so herrlich schlanken Wegerich, so gelbbrennenden Mauerpfeffer, so verlockend schillernde Eidechsen und Schmetterlinge, und mein Verstand beharrt nur m?de und mit geringem Eifer auf der Erkenntnis, dass nicht die Blumen und Eidechsen sich seither so zum ?blen verwandelt haben, sondern nur mein Gem?t und mein Auge.

Beim Darandenken ist mir zu Mut, als w?re alles Kostbare, was ich sp?ter mit Augen sah und mit H?nden besass, und selber meine Kunst, gering gegen die Herrlichkeiten jener Wiese. Da waren helle Morgen, an denen ich ins Gras gestreckt, den Kopf auf den H?nden, ?ber das von Sonne flimmernde, gekr?uselte Meer der Gr?ser hinwegschaute, in welchem rote Inseln von Mohn, blaue von Glockenblumen und lilafarbene von Schaumkraut lagen. Dar?ber flatterten und reizten mich die blitzgelben Zitronenfalter, die zarten Bl?ulinge, die in einem kostbaren, gleichsam antiquarisch seltenen Schimmer aufleuchtenden Schiller- und Distelfalter, die schweren Fl?gel der Trauerm?ntel, das Edelwild der Segler und Schwalbenschw?nze, der schwarzrote Admiral, der seltene, mit Ehrfurcht genannte Apollo. Dieser, den ich aus Beschreibungen meiner Kameraden schon kannte, flog mich eines Tages an, setzte sich in meiner N?he an die Erde und regte langsam die wunderbaren, alabasternen Fl?gel, dass ich ihre feine Zeichnung und Rundung sehen konnte, und die blanken Diamantlinien, und auf den Fl?gelpaaren beide hellblutrote Augen. Weniges aus dieser fernen Zeit hat sich so stark und frisch in meinem Ged?chtnis erhalten, wie die atemlose, herzklopfende Wonne, welche mich bei diesem Anblick durchdrang. Aber nach der unberechenbaren und grausamen Art der Kinder beschlich ich bald das edle Tier und warf meinen Hut nach ihm. Er schaute um sich, stieg mit elegantem Schwunge auf und war allsogleich in der flirrend goldigen Sonnenluft verschwunden. Irgend eine Art von wi received the name of esse war in meinen Jagden und Sammlungen niemals. Die Raupen und die Namen der Schmetterlinge, dortlands Sommerv?glein, >>Summerv?gli<< genannt, waren mir nicht wichtig, und f?r viele erfand ich eigene Namen. Eine Art von r?tlichen Fliegen nannte ich >>Zitterlinge<<, eine Gattung brauner >>Schnabler<<, und f?r den gesamten P?bel der Weisslinge, Waldteufel und anderer wenig sch?ner und rarer Schmetterlinge hatte ich den ver?chtlichen Sammelnamen Tolpatsch. F?r die gesammelte tote Beute hatte ich wenig Sorgfalt und habe es nie zu einer sauberen Sammlung gebracht.

Von musikalischen Eindr?cken vermag ich in diesen Wiesensommern nichts zu finden, es sei denn meine ausserordentliche Empfindlichkeit und Furcht vor den Pfiffen der fern vor?berfahrenden Eisenbahn.

Dennoch muss schon damals die Musik mir nahe getreten sein, denn auch die fr?hesten, undeutlichsten D?mmerbilder des M?nsters, welche in mir sich unscharf spiegelten, scheinen mir unzertrennlich vom Schall der Orgel.

Dieses M?nster und die Stadt ?berhaupt lernte ich sp?ter und langsamer kennen als die gr?ne Natur. Denn w?hrend ich mich in dieser halbe Tage lang nach Lust allein umtreiben konnte, war mir von den Eltern nicht erlaubt, allein in die Stadt zu gehen, wovon mich auch die Furcht vor dem ungewohnten Gedr?ng der Menschen und Wagen abschreckte.

Obwohl die gr?nen Monate meiner Wiesenzeit mir wie ein sch?ner, gleichm?ssig heller, ununterbrochener Traum im Bewusstsein liegen, steigen doch einzelne Tage von besonderem Glanz mit weichen Umrissen daraus auf. Ich g?be Sch?tze daf?r, von solchen Tagen mich mehrerer erinnern zu k?nnen. So oft ich in Gedanken den Weg meines Lebens zur?ckgehe, so oft ?berf?llt mich eine milde Trauer um die tausend vergessenen Tage. Es lebt niemand mehr, mir von mir selber zu erz?hlen, und der gr?ssere Teil meiner Kinderjahre liegt unerschlossen in unbegreiflicher, goldener Gl?ckseligkeit wie ein Wunder vor meiner Sehnsucht. Es geh?rt zu den Unvollkommenheiten und Entbehrungen des menschlichen Lebens, dass unsere Kindheit uns fremd werden muss und in Vergessenheit f?llt wie ein Schatz, der spielenden H?nden entgleitet und ?ber den Rand eines tiefen Brunnens f?llt. Bis in die Knabenzeit kann ich den Faden meines Lebens zur?ckfinden, weiter zur?ck aber ragen zerstreut in Duft und D?mmerung nur wenige klare Tage, ihn daran zu kn?pfen. Von dem Ged?chtnis dieser Tage aus blicke ich oft wie von einem Turm r?ckw?rts in meine ersten Jahre und kann nichts als ein bewegtes Meer von R?tseln und Anf?ngen sehen, ohne Formen, aber mit einem heiligen Ferneduft, einem Schleier, der ?ber Wunder und Kostbarkeiten gelegt ist.

Unter jenen vereinzelten Silberblicken ist mir ein Spaziergang besonders teuer, da er das fr?heste Bild meines Vaters enth?lt. Der sass mit mir auf der von der Sonne durchw?rmten Mauerbr?stung des Bergkirchleins Sankt Margarethen, zum erstenmal mir von der H?he aus die dortige Rheinebene zeigend. Der erste Eindruck dieser anmutig hellgr?nen Landschaft vermischt sich in meiner Erinnerung mit dem klaren Bilde, das ich sp?ter durch den h?ufig wiederholten Anblick gewann. Aber dies ?lteste Bild von meinem Vater unterscheidet sich von allen sp?teren. Sein schwarzer Bart ber?hrte meine blonde Stirn und sein grosses, helles Auge ruhte freundlich auf mir. Ich glaube wieder sein Gesicht so von der Seite her zu sehen, wenn ich an jene Rast auf der Mauer denke, mit dem schwarzen Bart und Haar, mit der starken, edlen Nase und dem festen, roten Mund, mit den dunklen Locken im Nacken, dabei das grosse Auge nach mir gesenkt, der ganze Kopf fest und w?rdig auf dem blauen Hintergrunde des Sommerhimmels ruhend.

Demselben Sommer mag ein anderes Bild angeh?ren, das ohne Zusammenhang, aber erstaunlich klar und treu mir eingepr?gt ist. Ich sehe die ganze hohe, magere Gestalt meines Vaters aufrecht mit zur?ckgelegtem Haupt einer untergehenden Sonne entgegengehen, den Filzhut in der Linken tragend. An ihn ist meine Mutter sanft im langsamen Gehen gelehnt, kleiner und kr?ftiger, mit einem weissen Tuch auf den Schultern. Zwischen den kaum noch getrennten, dunklen H?uptern gl?ht die blutrote Sonne. Die Umrisse der Gestalten sind fest und goldleuchtend gezogen; zu beiden Seiten steht ein reiches, reifes Kornfeld. An welchem Tag ich so hinter meinen Eltern herwandelte, weiss ich nicht, der Anblick aber ist mir frisch und unverl?schlich geblieben. Ich weiss kein lebendiges oder gemaltes Bild, das mir in Linien und Farben pr?chtiger erscheint und das mir teurer ist, als diese edlen Gestalten auf dem Fusspfad zwischen den ?hren, der roten Glut entgegen wandelnd, schweigsam, vom jenseitigen Glanz ?bergossen. In ungez?hlten Tr?umen und wachen N?chten hing mein Auge an diesem liebsten Kleinod meiner Erinnerung, dem Verm?chtnis einer meiner goldensten Stunden. So ist mir nie wieder eine Sonne untergegangen hinter ?hrenmeeren, so rot, pr?chtig, friedsam, so voll Glut und Gen?ge. Und k?me sie mir wieder, es w?re doch nur ein Abend wie viele sind, und ich w?rde die vermissen, in deren Schatten ich damals ging, m?sste mich abwenden und trauern.

Die Erinnerung an Vater und Mutter beginnt von hier an klar zu werden. Neben meiner Wieseneinsamkeit ging unabh?ngig ein freundliches, h?usliches Leben her. Von diesem ist mein Bewusstsein, der vielerlei Menschen und Anregungen wegen, nicht so einheitlich und deutlich, wie von dem Leben im Grase. Wie fr?h die Neigung meines Vaters zum Genuss der bildenden und der Dichtkunst, und die meiner Mutter zur Musik auf mich einwirkten, ist mir unm?glich zu erkennen, denn einzelne Eindr?cke dieser Art sind mir erst aus etwas sp?terer Zeit erinnerlich und m?ssen notwendig schon viel fr?her dagewesen sein.

Ich wage nicht, von meinen Kinderspielen viel zu reden. Es gibt nichts Wunderbareres und Unbegreiflicheres und nichts, was uns fremder wird und gr?ndlicher verloren geht, als die Seele des spielenden Kindes. Bei dem leidlichen Wohlstand und der ?beraus freigebigen G?te meiner Eltern fehlte es mir an reichlichem Spielzeuge nicht. Ich besass Soldaten, Bilderb?cher, Legsteine, Schaukelpferd, Pfeife, Peitsche und Wagen, sp?ter auch Kaufladen, Wage, Spielgeld und Vorr?te, und zum Theaterspielen standen die Kasten der Mutter zur Verf?gung. Dennoch h?ngte sich meine Phantasie gerne an weniger kommode Gegenst?nde und schuf Pferde aus Schemeln, H?user aus Tischen, V?gel aus Tuchlappen und ungeheuerliche H?hlen aus Wand, Ofenschirm und Bettdecke.

Daneben war in den Erz?hlungen meiner Mutter ein ?berfluss von Welten und Br?cken f?r meine Tr?umerei. Ich habe Leser und Erz?hler und Plauderer von Weltruhm geh?rt und fand sie steif und geschmacklos, sobald ich sie mit den Erz?hlungen meiner Mutter verglich. O ihr wunderbar lichten, goldgr?ndigen Jesusgeschichten, du Betlehem, du Knabe im Tempel, du Gang nach Emmaus! Die ganze ?berschw?nglich reiche Welt des Kindeslebens hat kein s?sseres und heiligeres Bild als das der erz?hlenden Mutter, an deren Knie sich ein Blondkopf mit tiefen Staunaugen schmiegt. Woher haben die M?tter diese gewaltige und heitere Kunst, diese Bildnerseele, diesen unerm?dlichen Zauberborn der Lippen? Ich sehe dich noch, meine Mutter, mit dem sch?nen Haupt zu mir geneigt, schlank, schmiegsam und geduldig, mit den unvergleichlichen Braunaugen!

N?chst dem unerreichbaren Klang und Sinn der Bibelgeschichten sog ich tief aus dem Quell der M?rchen. Rotk?ppchen, der treue Johannes und Schneewittchen bei den sieben Zwergen ?ber den sieben Bergen nahmen mich in ihren geschw?tzigen Kreis. Mein begieriger Sinn erschuf bald aus freier Kraft Gebirge mit mondgl?nzenden Elfentanzwiesen, Pal?ste mit seidenen K?niginnen, fabelhaft tiefe und greuliche Bergh?hlen, von Geistern, Eremiten, K?hlern und R?ubern abwechselnd unheimlich bev?lkert. Ein schmaler Raum im Schlafzimmer, zwischen zwei Bettstellen, war vorz?glich der st?ndige Wohnort schlitz?ugiger Kobolde, russiger Bergm?nner, gek?pfter Umg?nger, traumwandelnder Totschl?ger und gr?nschielender Raubtiere, so dass ich eine Zeitlang nur in Begleitung Erwachsener und noch lange sp?ter nur mit ?usserster Aufbietung alles Knabenstolzes daran vor?bergehen konnte. Einmal befahl mir mein Vater, von dort seine Pantoffeln zu holen. Ich ging in das Schlafzimmer, wagte mich aber nicht an den Ort des Entsetzens und kehrte kleinlaut zur?ck, vorgebend, ich h?tte die Schuhe nicht gefunden. Mein Vater, der etwas Phantastisches ahnte und ein strenger Feind auch der Notl?ge war, schickte mich nochmals hin. Ich betrat wieder das Schlafzimmer, aber meine Angst war nur gr?sser geworden, so dass ich unverrichteter Dinge wiederkehrte, mit derselben Entschuldigung. Der Vater, der mich durch den T?rspalt beobachtet hatte, sagte sehr ernst: >>Du l?gst. Sie m?ssen dort stehen.<< Gleichzeitig ging er selber sie zu holen. Meine Beklemmung aber war so gesteigert, dass ich selbst den allm?chtigen Vater vor meinen Unholden nicht sicher glaubte und mich heulend an ihn h?ngte, wobei ich ihn unter heissen Tr?nen beschwor, sich dem Winkel nicht zu n?hern. Er ging aber doch, zwang mich mit, b?ckte sich und kehrte wohlbehalten aus der greulichen H?hle zur?ck, was ich lange Zeit, unter Dankgebeten, allein seinem unerh?rten Mut und einem ganz besonderen Schutz des lieben Gottes zuschrieb.

Ein anderes Mal wuchs mein Angstgef?hl vollends ins Krankhafte. Die Begebenheit hat sich mir scharf und genau mit allen peinlichen Z?gen eingegraben und h?ngt wie ein Medusenhaupt schauerlich sch?n, aber vorwiegend schauerlich, ?ber jener ganzen Zeit der Kinderromantik.

Bei Dunkelwerden kehrten wir, schon ein wenig gruselig gestimmt, einst aus der Stadt zur?ck, zwei etwa vierzehnj?hrige T?chter eines Nachbars, ihr Br?derlein und ich. Die hohen H?user und T?rme legten zackige Schatten auf die Strasse, Laternen wurden schon angez?ndet. Dazu kam im Vor?bergehen ein Blick in eine Schmiede, wo russige, halbnackte M?nner an der aus dem Dunkeln aufspr?henden Esse mit grossen Zangen wie Folterknechte standen, und das mir vorher unbekannte trunkene Gejohle einiger Wirtshausbr?der, das mir raubtierartig und verbrecherisch vorkam. Nun, schon fast im Finstern, erz?hlte eines der M?dchen, selber gruselnd, mir die Geschichte von der Glocke Barbara. Diese hing in der Kirche Barbara und war aus Zauberei und Verbrechen hervorgegangen. Sie rief immerfort den Namen einer ruchlos erschlagenen Barbara mit blutiger Stimme aus und wurde deshalb von den M?rdern gestohlen und vergraben. Da, als es Zeit zum Nachtl?uten wird, beginnt die Glocke aus der Erde laut und j?mmerlich zu t?nen:

Barbara bin ich genannt, In der Barbara bin ich gehangt, Barbara ist mein Vaterland.

Diese halbgefl?sterte Geschichte regte mich schrecklich auf. Mein Grausen wurde dadurch gesteigert, dass ich es in mir zu verbergen bem?ht war, denn der kleine Mitg?nger hatte nichts verstanden und steuerte sorglos in den Abend hinein, und vor den ?ltern Begleiterinnen, obwohl sie selber Angst hatten und nur fl?sternd noch redeten, sch?mte ich mich. So stieg mein Schaudergef?hl mit jedem Wort der Erz?hlung, bis mir die Z?hne klapperten. Als aber nach eben beendeter Geschichte auf Sankt Peter die Abendglocke zitternd anschlug, liess ich in rasender Angst die Hand des kleinen Jungen fahren und rannte, von der ganzen H?lle gehetzt, in die Nacht hinein, stolperte, st?rzte, und wurde keuchend und zitternd heimgebracht. Die ganze Nacht zitterte ich in schmerzhaften Angstschauern und eine Zeitlang ging mir, so oft ich das Wort Barbara h?rte, etwas Eiskaltes durch das innerste Mark. Von da an glaubte ich noch lebhafter an Kobolde, Vampyre und b?se Geister, denn sie waren mir mit allen unerh?rten Schrecken selber im Nacken gesessen.

Etwa um diese Zeit machte mein eben erwachender Verstand seine ersten Anspr?che und qu?lte mich so sehr, dass ich h?ufig tobende Anf?lle von machtloser Wut und Ungeduld gezeigt habe. Hier ist auch ein St?ck Kindheit, das, wie mir scheint, den meisten Menschen allzu gr?ndlich verloren geht, der Drang nach Wahrheit, das Verlangen nach ?bersicht der Dinge und ihrer Ursachen, die Sehnsucht nach Harmonie und sicherem geistigem Besitz. Ich litt unter zahllosen Fragen ohne Antwort, und fand allm?hlich heraus, dass den befragten Erwachsenen meine Fragen oft unwichtig und meine N?te unverst?ndlich waren. Eine Antwort, die ich als Ausflucht oder gar als Spott erkannte, sch?chterte gar oft meine Seele wieder in ihr allm?hlich wankendes Geb?u von Mythen zur?ck.

Wie viel ernster, reiner und ehrf?rchtiger w?rde das Leben vieler Menschen werden, wenn sie etwas von diesem Suchen und Nach-Namen-Fragen auch ?ber die Jugend hinaus in sich bewahrten! Was ist der Regenbogen? Warum winselt der Wind? Woher kommt das Verwelken der Wiesen, woher das Wiederbl?hen, woher Regen und Schnee? Warum sind wir reich und der Nachbar Spengler arm? Wohin geht am Abend die Sonne?

Auf diese Fragen ging mein Vater, wenn die Weisheit oder Geduld der Mutter zu Ende war, oft mit unvergleichlicher Liebe und Feinheit ein. Als die st?ndige Begr?ndung >>das hat der liebe Gott eben so gemacht<< nicht mehr zureichte, erkl?rte er mir in grossen K?nstlerz?gen die sichtbare Welt, die Oberfl?che der Erde mit Kraut und Getier, die Wiederkehr der Gestirne. Zugleich liess er neben meinem M?rchenwald die Edelgestalten der alten Geschichte aufsteigen, und griechische St?dte, und das alte Rom. Kinder sind weitherzig und verm?gen durch den Zauber der Phantasie Dinge in ihrer Seele nebeneinander zu beherbergen, deren Widerstreit in ?lteren K?pfen zum heftigsten Krieg und Entweder-Oder wird. Dennoch, da ich selber gerne erfand, und mit der kindlichen Sch?pferkraft spielte, entstanden vielerlei Zweifel. Davon war der lebhafteste gegen die Wahrhaftigkeit eines orbis pictus gerichtet, eines Lieblingsbilderbuches, das mich von der ersten Schaulust bis weit in das reifende Knabenalter begleitete und so in meiner Geschichte die umgekehrte Rolle des Robinson und Gulliver in der wirklichen spielte. Ich zweifelte eine Zeitlang sehr stark daran, dass diese Bilder Originale in der wirklichen Welt bes?ssen und nicht lediglich erg?tzliche Phantasien eines Malers seien. Beim Betrachten der Abbildungen von Rittern oder Bauten oder andern historischen Gegenst?nden erinnerte ich mich mit behaglicher Schlauheit, dass ich auch Achillesse und grosse Kirchen und ?hnliches gezeichnet oder gebaut und meinen Kameraden als die wahren Dinge oder als treue Abbilder ausgegeben hatte. Als mein Vater dahinterkam, schlug er auf einer der letzten Seiten des Buches das mir bisher entgangene Bild einer Kirche unsrer Stadt auf, welche ich sofort mit grosser Betroffenheit wiedererkannte. Von da an waren mir auf eine gute Weile wenigstens alle Worte meines Vaters wieder unzweifelhaft und beweiskr?ftig. Ein Nachbarsjunge teilte mir eines Tages geheimnisvoll und wichtig mit, der >>wilde Mann<<, eine Hauptfigur in unsern Geschichten und ausgetauschten Phantasieerlebnissen, wohne nicht weit vom Tor am Petersgraben in einem Kornspeicher, sein Vater h?tte es ihm gesagt. Der Trumpf war vergebens ausgespielt, denn mein Vater hatte mir bereits eine bessere, wenn schon nicht so deutliche Erkl?rung gegeben. Ich blieb daher nicht nur skeptisch und unger?hrt, sondern antwortete dem Freunde hohnl?chelnd und mit grosser Genugtuung, er m?ge nur wieder zu seinem Vater gehen und ihm sagen, er w?re ein Kamel. Diese Antwort trug mir erst von dem Beleidigten und dann von meinem Vater Pr?gel ein.

Solchen Z?chtigungen von der Hand des geliebten Vaters pflegte ich zwar meistens Trotz und Schweigen entgegenzusetzen, aber mein kleines Herz empfand sie uns?glich bitter, weh und beugend. Sie sind die fr?hesten Leiden, auf die ich mich besinnen kann und in der Vorstellung, die ich von meinen Kinderjahren habe, die einzigen Tr?bungen, die noch vor der Schulzeit eintraten. Auch war es mit dem Schlagen und Trotzbieten keineswegs getan, sondern der bittere Kern der Strafe war die N?tigung, mich zu dem?tigen und um Verzeihung zu bitten, ehe ich das Auge der Eltern wieder freundlich und ihr Ohr mir offen fand. Freilich wurde dadurch und durch die jedesmalige freundlich ernste Vers?hnung der Z?chtigung der Stachel abgebrochen, aber bis ich m?d und verst?ndig genug zum >>Verzeih<< sagen war, kostete es immer wieder einen bitteren, tr?nenreichen Kampf. Der erste Abend, an dem ich ohne Kuss und ohne Begleitung der Mutter stumm und scheu zu Bette ging, ist mir noch wohl erinnerlich. Vielleicht hat, so oft auch sp?ter mir das Wasser an die Kehle ging, doch das Gef?hl namenlosen Schmerzes und Zwiespaltes niemals mehr so uns?glich auf mir gelastet, wie an jenem traurigen Abend. Es war auch der erste Abend, an welchem ich nicht zu beten vermochte. Der Wortlaut meines Betverses stockte mir auf der Zunge, zeigte mir zum erstenmal seinen schweren Ernst und w?rgte mich wie einen Erstickenden. So diente diese dunkelste Stunde dazu, mir auf einmal das Beten ohne Gedanken unm?glich zu machen.

Indessen wuchs mein Verstand und begann, auf die ersten Belehrungen und Erfahrungen bauend, sich allm?hlich einer stiller werdenden eigenen T?tigkeit zu erfreuen. Meine Spiele nahmen, ohne Vorbilder zu haben, die verwickelteren, intelligenteren Formen der eigentlichen Knabenspiele an. Das A-B-C gab mir einen angenehm herben Vorschmack der Schule. Ich besao other inference can und gew?hnte mich, nachdem ein bestimmter Tag f?r meinen Schulbeginn mir angesagt war, an morgen und ?bermorgen zu denken.

Dieses wenige ist der ganze Schatz von Erinnerungen an die ersten Jahre, den ich noch besitze. Oder nicht der ganze, denn ich vermochte das Beste nicht auszusprechen, die Empfindungen durchtr?umter Fr?hlinge und begl?ckender Liebhabereien, das milde Nachgef?hl kindlicher Freuden und Wehen, herzlicher genossen und tiefer erlitten als viele gr?ssere Freuden und Wehen der sp?teren Zeiten. Ich vermochte nicht die feinen Erinnerungen niederzuschreiben, deren ich einen holden Strauss besitze, an Waldbesuche, an Nachbarfreundschaften, an belauschte Katzenjunge und gestreichelte L?mmer.

Komisch wehm?tig ber?hrt mich die letzte Zeit vor dem Besuch der Schule, das Erwachen des Knabenstolzes, das Unsichere des ?bergangs vom Tr?umen zum Denken, und das langsame Verblassen der farbigen Phantasie und des ganzen unbeschreiblichen Goldgrundes, auf welchen alle diese fr?hesten Bilder gemalt sind. Mein Ged?chtnis schliesst mein letztes freies Kinderjahr mit einem merkw?rdigen Abend ab. Es war kurz vor meinem Eintritt in die Schule, und der Geburtstag einer kleinen Schwester, der 27. November. Dieser Schwester war f?r den Augenblick alle Sorgfalt und Liebe des Hauses zugewendet, und ich sass beklommen und allein an einem dunkelnden Fenster. Draussen war Sp?therbst und eine fr?he, sternhelle Nacht. Neben dem Gedanken an den erwarteten ersten Eintritt ins wirkliche Leben war eine Abschiedsstimmung in mir lebendig, und ein halbbewusstes R?ckverlangen nach der Ungebundenheit und Traumtiefe der bisherigen Tage. Da wars, dass ich eine Bewegung unter den Sternen zu sehen glaubte. Ich blickte nun starr und unverwandt an den Himmel, und siehe, ein Stern begann seltsam zu flirren und schoss pl?tzlich in die Finsternis, ohne Spur verglimmend. Und da wieder einer, und dort zwei zugleich, und am Ende eine ganze bewegte Menge. Der Vater kam herein, und die Dienstboten, und so standen wir eine gute Weile still im Dunkeln, das seltene Schauspiel unz?hliger Sternschnuppen betrachtend und von der merkw?rdigen Stunde ber?hrt, jeder, wie ich glaube, mit dem Gedanken, dass dieser Blick aus dem dunklen Zimmer auf die gleitenden Sterne ihm unvergesslich bleiben w?rde.

Mit dem Besuch der Schule begann nun mein menschlich gesellschaftliches Leben. Hier wird das Dasein zuerst zum Bild der Welt im kleinen, hier treten die Gesetze und Massst?be des >>wirklichen<< Lebens in Kraft, hier beginnt Streben und Verzweifeln, Konflikt und Bewusstsein der Person, Ungen?gen und Zwiespalt, Kampf und R?cksichtnahme, und der ganze endlose Kreislauf der Tage. Zuerst die Teilung der Zeit in Alltag und Feiertag! Man muss nach Stunden leben und arbeiten, jeder Tag erh?lt sein Gewicht und seine feste Geltung und l?st sich aus der Zeit als ein besonderes St?ck heraus. Die Unergr?ndlichkeit der Monate und Jahreszeiten, das Leben aus dem Vollen hat ein Ende; Feste, Sonntage, Geburtstage treten nicht mehr als ?berraschungen vor uns hin, sondern ihre Zeit und Wiederkehr ist gleich den Stundenzahlen auf der Uhr fest angeschrieben und wir wissen, wie lange der Zeiger braucht, bis er sie erreicht.

Der Wunsch meines Vaters, mich selber zu unterrichten, hielt dem allgemeinen Brauch und dem Rat aller Freunde und Verwandten nicht stand. Ich wurde einer ?ffentlichen Schule ?bergeben, hatte mehrere Lehrer, die j?hrlich wechselten, und litt unter allen ?belst?nden dieser Anstalten. Schule und Haus waren zwei streng getrennte Dinge, mein Gehorsam hatte zwei Oberh?upter, von denen das eine mit meiner Liebe, das andere mit meiner Furcht rechnen musste. Das erste ?bel lag darin, dass ich, von einem strengen Lehrer an h?ufige Schl?ge und Arrest gew?hnt, die v?terlichen Strafen bald nicht mehr in der fr?heren Weise achtete, so dass h?usliche Z?chtigungen ihren Wert verloren und meinem Vater dieser einfachste Austrag moralischer Unebenheiten allm?hlich unm?glich gemacht wurde. Daraus folgte f?r ihn unendlich viel Sorge und M?he und f?r mich viel Elend, da nun alle Besserungen und Verzeihungen erschwert waren und lange Zeit erforderten. In solchen kritischen Zeiten war ich manchesmal verzweifelt, krank vor Sorge und Wut, und plagte mich mit Elend, Scham, ?rger und Stolz. In der Schule ?bel behandelt, zu Hause von irgend einer begangenen ?beltat schweigend bedr?ckt, warf ich mich oft in der grossen Wiese zu Boden und rang schluchzend gegen eine unbekannte, grausame ?bermacht. Diese Stunden am Mittagstisch, wenn kein Gespr?ch m?glich war, wenn ich mit Angst an die n?chste b?se Schulstunde dachte, w?hrend eine zur?ckgedr?ngte v?terliche Strafrede den Eltern, den j?ngeren Geschwistern und sogar den Dienstboten in allen Mienen zu lesen war, diese schweigsamen, trotzigen Spazierg?nge mit meinem Vater, auf denen ich die Bitte um Verzeihung oder sonst eine Aussprache, welche er erwartete, aus Trotz und Scham in mir niederhielt, liegen mir noch mit aller Schwere hart und widerlich im Ged?chtnis.

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