Read Ebook: Henriette Goldschmidt: Ihr Leben und ihr Schaffen by Pr Fer Johannes Siebe Josephine
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Ebook has 229 lines and 39308 words, and 5 pages
Ihr Leben und ihr Schaffen
Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H. in Leipzig 1922
Otto Wigand'sche Buchdruckerei G. m. b. H., Leipzig.
INHALT.
Inhalt Zur Einf?hrung Henriette Goldschmidts Leben 1. Jugend 2. Die Bewegung der vierziger Jahre 3. Die ersten Ehejahre in Warschau 4. Die ersten Jahre in Leipzig 5. Schaffensjahre 6. Ausklang Henriette Goldschmidts Schaffen 1. Die geistigen Grundlagen ihrer Arbeit a) Anf?nge der Frauenbewegung b) Friedrich Fr?bel 2. Ihr Wirken f?r die Kindergartensache a) Petition an die deutschen Regierungen b) Streitschrift gegen K. O. Beetz 3. Ihre Reform der Frauenbildung a) Kinderg?rtnerinnen-Ausbildung b) Allgemeine Frauenbildung Die Nachwirkung und Fortentwicklung ihrer Ideen an der Leipziger Hochschule f?r Frauen Anmerkungen Bemerkungen zur Textgestalt
ZUR EINF?HRUNG.
Es geh?rt heute weniger Mut dazu, rechts oder links den steilen Gipfel zu besteigen und Kampfrufe ?ber die Masse hinauszuschreien, als ihn vor mehr als einem halben Jahrhundert Henriette Goldschmidt aufbringen musste, die aus dem wohlumhegten Frieden des Hauses hinaustrat und zuerst die Frage stellte: ,,Wir haben V?ter der Stadt, wo bleiben die M?tter?"
Damals von der Gleichberechtigung der Frau im ?ffentlichen Leben zu sprechen war eine Tat; die Frauen aber, die zuerst diese Tat ausf?hrten, hatten im Grunde wohl viel weniger das stolze Bewusstsein auf einer hohen Lebenswarte zu stehen, wie es dann viele ihrer Nachfolgerinnen bei geringeren Leistungen aufgebracht haben. Sie begannen ihr Werk, weil ihr innerstes F?hlen und Erkennen sie dazu trieb, sie standen im Bann einer grossen, sie erf?llenden Idee, und so wurden sie Pionierinnen in jener unbewussten Sicherheit, die das Kind leicht auf einer lose schwankenden Br?cke ?ber den Abgrund schreiten l?sst.
Eine solche Pionierin, die bei aller Kraft des Wollens, unverr?ckt ein hohes Ziel vor Augen, doch immer jene Kindlichkeit des Wesens wahrte, die sie Abgr?nde nicht sehen liess, war Henriette Goldschmidt. Sie blieb bis ?ber das biblische Alter hinaus eine K?mpferin und wurde dann mehr und mehr die weise, g?tige Lebens?berwinderin, die noch mit zitternder Hand nach Lessing das Wort niederschrieb: ,,M?sste, so lange ich das leibliche Auge h?tte, die Sph?re desselben auch die Sph?re meines inneren Auges sein, so w?rde ich, um von dieser Einschr?nkung frei zu werden, einen grossen Wert auf den Verlust des ersten legen."
Die Schwere des hohen Alters machte sich auch ihr f?hlbar. Das Leben rauschte immer lauter, dr?ngender an ihr vorbei; fremde Melodien t?nten auf, die Menschen redeten nicht mehr die Sprache ihrer Jugend, und der Geist von Weimar wurde in Deutschland von anderen Stimmen ?bergellt, aber Henriette Goldschmidt fand doch immer in der anmutigen Beweglichkeit ihres Geistes die Kraft, Verbindungswege herzustellen, sie fand das weise L?cheln des ,,Alles verstehen heisst alles verzeihen." Bis zuletzt aber blieb ihr auch das ungeteilte Interesse an dem Werk ihres Lebens, dem Leipziger Verein f?r Familien- und Volkserziehung und seinen Anstalten. Und bis zur letzten Bewusstseinsstunde zehrte an ihr tief die trauernde Sorge um das Vaterland.
Das Leben dieser Frau ist von einer seltenen Geschlossenheit; es geht die ganz klare Linie folgerichtiger Entwicklung hindurch; es gibt keine Br?che, kein sprunghaftes Hinundher in ihren Anschauungen, keine Seitenpfade und Irrwege. Wir begegnen in diesem Leben nicht unbegreiflichen Verwirrungen des Gef?hlslebens, es quellen nicht pl?tzlich aus dunklem Unterbewusstsein seltsame Lebens?usserungen und Empfindungen auf, und schon das junge M?dchen findet ganz klar den Weg heraus aus der Verstrickung, in die es sein Familiensinn f?r kurze Zeit hineingetrieben hatte.
Wollte jemand diesen Lebensweg bildlich darstellen, er m?sste die lange gerade bergansteigende Landstrasse w?hlen, ohne Seitenwege und Biegungen, Baumschatten und Sonnenflecke dar?ber und in der Ferne das hohe, helle, klare Ziel: die geistige Befreiung der Frauen, die Erziehung der Frau zum t?tig bewussten Glied der Volksfamilie, die innerliche Vers?hnung dieser Volksfamilie und das ?berbr?cken sozialer Unterschiede durch den Einfluss und die Teilnahme der Frau am ?ffentlichen Leben.
Ehrenbezeigungen, wie Ordensverleihungen vermochten die ?berzeugte Demokratin, die alte Achtundvierzigerin nicht zu beeinflussen und den Weg des neuen Deutschland ging sie innerlich nicht mit, und vielleicht sah sie gerade darum von Anfang, von der Stunde an, da England in den Weltkrieg gegen Deutschland eintrat, so klar, dass Deutschland unterliegen w?rde. Bei allem Siegesjubel der ersten Zeit blieb immer ihr Wort: ,,Ach, ich will mich ja so gern irren!"
Bei der grossen Sch?rfe ihres Verstandes, ihrem philosophischen Erkennen des Lebens war Henriette Goldschmidt immer die Frau voll Anmut und Kindlichkeit, sie besass eine Grazie des Geistes, die immer ohne Sch?rfe das richtige Wort fand. Sie sah aber daher auch das Dunkle, Lauernde am Wege nicht; ein Ja war ihr ein Ja, ein Nein ein Nein, und sie hat es nie verstanden, dass im Handumdrehen aus Neinsagern Jasager werden konnten. Und wohl darum ist sie auch mitunter verkannt worden, auch von ihren Mitarbeiterinnen in der Frauenbewegung; ihr unverr?ckbares Zielsehen wurde nicht immer gew?rdigt. Sie suchte immer die Einheit in der Mannigfaltigkeit, nach der Lehre ihres Meisters Friedrich Fr?bel. Sie aber war selbst eine Einheit.
Leider sind die Aufzeichnungen, die Frau Henriette Goldschmidt hinterlassen hat, nur l?ckenhaft. Sie hatte nie das Gef?hl der Verpflichtung, ?ber jeden Lebensabschnitt der Nachwelt gewissermassen Rechenschaft abzulegen. Sie lebte dem Tag und seiner Arbeit, lebte mit grosser Leidenschaft ihrem Ziel, und die Vergangenheit war ihr goldenes Buch, das sie selbst, dank ihres gl?nzenden Ged?chtnisses, zu jeder Stunde aufschlagen konnte, sich heiter daran freuend oder nachdenklich dar?ber sinnend. Selbst schrieb sie dar?ber: ,,Ich bin h?ufig von ?lteren und j?ngeren Freunden, denen ich im geselligen Beisammensein Einzelheiten aus meinem Leben mitteilte, gebeten worden, meine Lebensgeschichte zu schreiben, doch konnte ich mich nicht dazu entschliessen. In den Jahren lebensvoller Bet?tigung war es nicht nur der Mangel an Zeit, es war vielmehr der Mangel an Selbstbewusstsein. Durch meine ?ffentliche Wirksamkeit sind biographische Notizen in Zeitungen und Zeitschriften gelangt, so dass ich es f?r ?berfl?ssig hielt, meine Pers?nlichkeit noch ?ffentlich vorzustellen."
?ber manche Zeit ihres Lebens, so ihre Anteilnahme an der deutschen Frauenbewegung, sind schon Niederschriften vorhanden, und es ist nicht der Zweck dieses kurzen Lebens- und Arbeitsbildes, zu schnell Festgelegtem vielleicht, eine neue Beleuchtung zu geben, vielmehr soll hier das ganz eigene pers?nliche Wirken Henriette Goldschmidts, besonders, wie sie neben ihrer Pionierarbeit in der deutschen Frauenbewegung sich ihren eigenen Wirkungskreis schuf, in den zwei Abschnitten ,,Leben" und ,,Schaffen" dargestellt werden.
Aus Niedergeschriebenem, Erz?hltem, Erinnerungen, gef?hrten Gespr?chen und fl?chtig hingeworfenen Worten ist dieses kurze Lebensbild gewoben. Es zeigt nicht die modernen grellen Linien derzeitiger Gewebe, der Hauch der vergangenen, der wirklich guten alten Zeit ruht ?ber diesem Leben, denn seine Wurzeln hingen noch in der klassischen Zeit. Der Geist von Weimar war es, der dieser Frau die Kraft und den Aufschwung gab, sich selbst zu einer Pers?nlichkeit von ganz eigenartigem Gepr?ge zu entwickeln. Dem Geist von Weimar blieb sie ihr Leben lang treu, von ihm wich sie nicht um eines Halmes Breite ab, und so lebte sie ihr inneres und in seiner Einfachheit auch ihr ?usseres Leben in dem Lichte, das uns von Weimar gekommen ist.
HENRIETTE GOLDSCHMIDTS LEBEN
Zwischen dem Weimar des Jahres 1825 und dem deutsch-polnischen St?dtchen Krotoschin von damals, welche ungeheure, geistige Entfernung! In der kleinen Provinzstadt sp?rten wohl nur wenige den Hauch des Geistes von Weimar; es war ein richtiges Philisternestchen, in dem am 23. November 1825 Henriette Benas als sechstes Kind eines j?dischen Kaufmanns geboren wurde. Das wohlhabende Haus, in dem sie aufwuchs, war durch die k?hle Strenge der unm?tterlichen zweiten Frau des Vaters der hellen W?rme einer echten Heimst?tte beraubt worden. Es ist bezeichnend f?r die geistige Wertung des Fraueneinflusses in damaliger Zeit, dass der geistig hochstehende Vater, von dem die Tochter sagte, er h?tte seinen Kindern ,,die Anregung f?r die Auffassung der Lebensverh?ltnisse ?ber das ewig Gestrige hinaus gegeben", die zweite Frau w?hlte, weil sie nicht lesen und schreiben konnte, seinen f?nf mutterlosen Kindern also eine f?rsorgliche Mutter sein w?rde, deren Geist nicht durch ?berfl?ssige Lekt?re abgelenkt werden w?rde. Trotz ihrer Unbildung besass die Frau aber eine gewisse W?rde des Wesens, sie war sich ihrer Stellung als Hausfrau bewusst, und der Haushalt mit allen seinen Verzweigungen nahm, nicht immer zur Freude der Kinder, ihr ganzes Denken in Anspruch, und sie verlangte dies gleichfalls von den heranwachsenden T?chtern. Henriette schrieb sp?ter von dem Einfluss der Stiefmutter: ,,Leider war unsere Stiefmutter keine m?tterliche Natur, und wie alle Vorurteile gen?hrt und gestaltet werden durch die Gedankenlosigkeit der Menschen, so wurde auch dies schwierige Verh?ltnis der Stiefmutter durch liebevolle Verwandte und Freunde f?r uns Kinder unn?tig bedr?ckend gemacht. Es entwickelten sich nach und nach alle die Unstimmigkeiten, die in solchem Verh?ltnis gang und g?be sind. Ich kann nicht behaupten, dass ich im Verkehr mit meiner Stiefmutter mich als pr?destiniert f?r eine Sch?lerin Fr?bels betrachten kann, doch hatte das Missverh?ltnis einen Kampf in mir erzeugt, der mein Wesen, vielleicht mein Leben h?tte vernichten k?nnen."
Von ihren Vorfahren wusste Henriette Goldschmidt-Benas nicht allzuviel; an ihre eigne Mutter erinnert sie sich nicht mehr, sie war etwas ?ber f?nf Jahre alt bei deren Tode. Den tiefsten Eindruck hat auf ihr Kindergem?t das Schicksal ihres Grossvaters gemacht. Sie schrieb von ihm: ,,Vor meinem geistigen Auge steht mein Grossvater so, wie er aus den Erz?hlungen seiner Frau und seiner Kinder hervortrat. Ich selbst lernte ihn infolge seines fr?hen Todes nicht kennen. Er war in Krotoschin geboren, wurde, wie es damals ?blich war, mit achtzehn Jahren verheiratet und entschloss sich, seine Heimat, Frau und Kind zu verlassen, um sich eine umfassendere Bildung zu verschaffen; seine einzigen Vorkenntnisse waren die des hebr?ischen Schrifttums. Er wandte sich zuerst nach Berlin an Moses Mendelssohn, den bekannten Philosophen ..... Mein Grossvater suchte ihn auf und erhielt durch seine g?tige Vermittlung die Stelle eines Hauslehrers in Fridericia in D?nemark. Im Hause eines beg?terten Glaubensgenossen, namens R?e, wurde er Lehrer des Hebr?ischen und blieb mehrere Jahre in dessen Hause. Er nahm teil an dem wissenschaftlichen Unterricht seiner Sch?ler und hatte somit Gelegenheit, sich ein gr?ndliches Wissen anzueignen. Ja, bei einem Besuche des K?nigs von D?nemark in Fridericia erhielt er den Auftrag von der dortigen j?dischen Gemeinde, den K?nig in franz?sischer Sprache zu begr?ssen. Dass es ihm schwer fiel, das Land und die Verh?ltnisse, die ihn zum Manne gereift hatten, zu verlassen, ist begreiflich, aber seine Frau war nicht zu bewegen, von Krotoschin fortzugehen, und so musste er sich entschliessen, in seine ihm fremd gewordene Heimat zur?ckzukehren."
Dieser Grossvater, der in seinen letzten Lebensjahren immer weiss gekleidet ging, stand seiner Frau wie ein h?heres Wesen vor Augen, und die Ehrfurcht vor der Weisheit des Mannes ging auch auf die Enkelkinder ?ber. Die Grossmutter selbst mit ihrer liebevollen G?te lebte noch lebendig in der Erinnerung der Enkelin. Von den Kindern blieb nur der Vater Henriettes in Krotoschin. Henriette war Art von seiner Art, war es innerlich und wohl auch ?usserlich, denn noch in sp?teren Lebensjahren erinnerten die Greisin selbst manche ihrer Bewegungen an den Vater. Dieser, ein sehr lebhafter, fortschrittlich gesinnter Mann, pflegte manchmal zu sagen, wenn seine Kinder allzu leidenschaftlich in politischen Fragen Partei nahmen: ,,Ich habe doch sonderbare Kinder!"
Dass er selbst in seiner Art Vorbild der Kinder war und erheblich in seinem Wesen von dem seiner Mitb?rger abstach, kam ihm dabei kaum zum Bewusstsein. Seine Tochter schildert ihn im Anschluss an den aus Kaufleuten bestehenden j?dischen Teil der Bev?lkerung Krotoschins:
,,Meinem Vater sagte der Kleinkram des dortigen Gesch?ftslebens wenig zu, er konnte sich nicht beschr?nken, an den zwei Markttagen der Woche von den Bauern Getreide zu kaufen und an den M?ller zu liefern, er trat in Beziehung zu Gesch?ftsh?usern in Stettin, Berlin und Hamburg. So waren seine Unternehmungen als Kaufmann grossz?giger Natur. Da seine Jugend in den Anfang des 19. Jahrhunderts fiel, erlebte er die Befreiungskriege mit, und sein Sinn blieb stets der Geschichte und den politischen Erscheinungen der Gegenwart zugewendet. So verfolgte er, der ?beraus besch?ftigte Kaufmann, mit w?rmster Anteilnahme und lebhaftestem Interesse die innere Bewegung der vierziger Jahre, die auf allen Gebieten des Geisteslebens die Gem?ter ergriff."
Neben dem Vater, der Stiefmutter und den Geschwistern , mit denen die junge Henriette innige Liebe verband, waren es noch einzelne Gestalten, die schattenhaft in der Erinnerung der alten Frau auftauchten. Vor allem war es eine Tante Ninon, an die sie sich lebhaft erinnerte. Diese Tante Ninon hatte offenbar ein grosses schauspielerisches Talent besessen, sie wusste ganze Rollen auswendig, mimte sie den Kindern vor und fesselte die kleine Schar auch immer wieder durch phantastische Erz?hlungen von einer Reise nach - Breslau. Dann lebte noch ein greiser Onkel in der Erinnerung der alten Frau fort, der noch mit etwa neunzig Jahren zu sagen pflegte, wenn jemand vom Tode sprach: ,,Zu was brauche ich mich zu sputen auf das, was mir so gewiss ist."
Ganz fr?he Kindheitserinnerungen kn?pften sich noch an einen Brand, bei dem eine Anzahl H?user vernichtet wurde, und der ihrem Vater, der sie selbst aus seinem gef?hrdeten Hause trug, beinahe Freude bereitete, da er in seinem Optimismus bereits an Stelle der engen, ungesunden, winkeligen Quartiere neue helle Heimst?tten erstehen sah.
Sonst hatten sich ihr die fr?hen Kindheitserinnerungen durch ihr reiches sp?teres Erleben ziemlich verwischt; lebhaft gedachte sie noch eines Gartens, in dem die Kinder f?r wenige Pfennige so viel Beerenobst essen durften, wie sie wollten, und dabei manchmal des Guten etwas zuviel taten. Es ist bezeichnend f?r das Kindheitserinnern, dass diese beiden zeitlich auseinanderliegenden, ganz verschiedenen Tatsachen den st?rksten Eindruck hinterlassen haben.
Die Schule vermittelte der jungen Henriette nur geringe Bildungswerte, sie war aber dennoch die Ursache, dass die Greisin, schon fast neunzig Jahre alt, einige kurze Aufzeichnungen machte. Zur Er?ffnung der Hochschule f?r Frauen in Leipzig 1911 sandte n?mlich der Direktor der T?chterschule in Krotoschin einen Gl?ckwunsch, verbunden mit einer Einladung zum f?nfundsiebzigj?hrigen Jubil?um der Schule, zu deren ersten Sch?lerinnen die junge Henriette geh?rt hatte. Sie schrieb davon sp?ter nieder:
,,Dieser R?ckblick auf die lange hinter mir liegende Vergangenheit brachte mir den Weg zum Bewusstsein, den ich zur?ckgelegt. Nur einem inneren Drange folgend, bin ich von der kleinen Stadt in der Provinz Posen in die deutsche Kulturwelt hineingewachsen. Ohne einen anderen Unterricht als den d?rftigen einer Elementarschule und den Besuch eines Jahreskursus in einer, aus einer Klasse bestehenden T?chterschule, bin ich zur Gr?ndung einer Hochschule f?r Frauen gelangt in einer der anerkanntesten Kulturst?dte des Vaterlandes.
Mit vierzehn Jahren hatte ich meine Schulzeit beendet. Eine grosse Bereicherung hat sie mir nicht gebracht, dennoch ist sie nat?rlich nicht ohne Einfluss auf meine innere Entwicklung gewesen, brachte sie mich doch in Beziehung zu Mitsch?lerinnen aus einem anderen, als dem gewohnten Lebenskreise. Zum erstenmal trat ich T?chtern aus dem deutschen Beamten- und Offizierstand nahe, empfand zum ersten Male, dass diese sich in bevorzugter Stellung den j?dischen Mitsch?lerinnen, also auch mir gegen?ber zu befinden glaubten, und es kam zu kleinen Zwistigkeiten zwischen uns. Einen Streit hatte ich mit einer adeligen Majorstochter, die das vertrauliche Du, das wir fast alle untereinander gebrauchten, auch bei mir anwendete, sich aber berechtigt f?hlte, sich von mir den gleichen Gebrauch ihr gegen?ber zu verbitten. Ich war dar?ber derartig entr?stet, dass ich den Eintritt des Lehrers ?berh?rte, so dass er Zeuge des Streites wurde. Zur Ehre dieses Lehrers sei erw?hnt, dass er sich meiner, der Herausgeforderten, annahm und das junge Fr?ulein von Soundso in seine Schranken zur?ckwies. So jung ich damals war, so hatte ich doch in einer Zeit und in Verh?ltnissen, in denen es als selbstverst?ndlich galt, die Juden nach Belieben zu behandeln, so viel Pers?nlichkeitsgef?hl, um gegen solche mich beleidigende Behandlungsweise gewappnet zu sein!"
Das starke Gerechtigkeitsgef?hl, das leidenschaftliche Temperament rissen die junge Henriette auch manchmal zu unbedachten ?usserungen hin. An den Wortlaut des Streites mit einer Mitsch?lerin aus einer anderen Gesellschaftsschicht erinnerte sie sich nicht mehr genau. An eine Szene aber dachte die Greisin noch mit heiterem Lachen. Der Lehrer wandelte in der Klasse auf und ab, und stiess von Zeit zu Zeit tiefe Seufzer aus und jedesmal sagte er, vor Henriette Benas stehenbleibend, dumpf: ,,Wem gelten diese Seufzer? Dir, Benas, gelten sie!" Die Szene machte einen tiefen Eindruck auf die junge Henriette, noch schluchzend trat sie mit der Freundin den Heimweg an und sagte zu dieser, auch einem Jettchen: ,,Du wirst sehen, dass ich nie mehr im Leben lachen werde." Sie hat dann freilich das gute herzbefreiende Lachen wieder gelernt, hat es bis in ihr Alter sich bewahrt und pflegte sp?ter lobend von einem Menschen zu sagen: ,,Er hat so ein gutes Lachen."
?brigens blieb sie mit dieser Freundin bis zu deren Tode in tiefster Zuneigung verbunden, und als sich die alten Damen, so um die Wende ihres achtzigsten Lebensjahres herum, endlich einmal wiedersahen, da standen die kleine Stadt, das ganze Leben von damals vor beiden auf, und her?ber und hin?ber t?nte die Frage. ,,Jettchen, weisst du noch? - Jettchen denkst du noch an unseren s?chsischen Klavierlehrer, der immer verlangte, ich sollte mit mehr ,,Gefiehl" spielen." Jettchen hin, Jettchen her, es war die gute alte Biedermeierzeit, die vor beiden aufstand.
Der grosse Weise von Weimar lebte noch, als die junge Henriette zum ersten bewussten Leben erwachte, doch seine Sonne stand nicht ?ber ihrer Jugend, ihr kam der Glanz von seinem fr?he dahingegangenen Freund, von Schiller. Dieser verkl?rte ihr Leben, und der Glanz blieb hell, verblich nicht bis zu ihrer Todesstunde; Schiller war und blieb ,,ihr" Dichter. Als sie mit 94 Jahren einen Unfall erlitt und sich in ihrer Wohnung eine schwere Kopfverletzung zuzog, die mehrfach gen?ht werden musste, f?rchtete der treue Arzt nach der Aufregung und dem grossen Blutverlust Fieber. Ihre im Hause wohnende j?ngere Freundin ?bernahm die Nachtwache, und als sie an das Bett der Kranken trat, sah diese mit grossem tiefen, aus sch?nen Weiten kommenden Blick zu ihr auf und sagte: ,,Mein Kind, eben habe ich mir die Ideale von Schiller vorgesagt, wie sch?n sind sie doch!"
Die junge Henriette lernte ihren Schiller nicht durch Literaturunterricht kennen, sie las, sie erlebte ihn. Als Elfj?hrige fand sie den Weg zu ihm. Da die Mutter Lesen abends bei Licht f?r ?berfl?ssig hielt, sass sie im Mondenschein auf dem kleinen engen Haushof und las mit klopfendem Herzen, das Buch dicht vor die Augen haltend. Sie trank des Dichters Worte in sich hinein, und sie war Johanna, sie war Maria Stuart, sie lebte und litt mit den Gestalten seiner Werke und einmal ergriff sie sogar im Eifer eine Stange, die auf dem Hofe stand, und rief mit lauter Stimme ?ber den Hof: Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften!
Ein so grosses Verstehen der Werke unsrer sch?pferischen P?dagogen sie sp?ter als Henriette Goldschmidt zeigte, und so viel sie in ihrer Arbeit der Jugend diente, auch einer unserer besten von den ?lteren Jugendschriftstellerinnen, Emma Wuttke-Biller freundschaftlich nahe trat, so hielt sie doch lange Schillers Werke f?r die geeignetsten Jugendschriften. Sie fand, die Jugend, die Schiller besass, brauche keine anderen B?cher. Ihren drei Stiefs?hnen las sie in Krankheitstagen besonders gern Schiller vor, und der eine, damals zehnj?hrig, fragte sie einmal: ,,Mutter, warum ist es denn Unrecht, dass Don Carlos seine Mutter liebt, ich liebe dich doch auch!" Die Begeisterung f?r Schiller fand auch bei den Geschwistern Widerhall, besonders wurde die f?nf Jahre j?ngere Schwester Ulrike bald die vertrauteste Freundin der jungen Henriette. Das hochbegabte M?dchen teilte ihre geistigen Interessen fr?he, w?hrend die anderen Schwestern etwas ausserhalb standen, die ?lteste hatte sehr fr?he geheiratet, eine andere Schwester aber war schon als Kind schwer krank. Mit dem Bruder dagegen waren die Schwestern innig vertraut, dennoch fand er sich manchmal zur?ckgesetzt, und den Vorzug, der einzige Sohn im Hause zu sein, nicht recht gew?rdigt. Er klagte dann wohl: ,,Ich bin doch euer einziger Bruder, den ihr habt."
In dies herzliche Geschwisterleben fiel ein schwerer, dunkler Schatten, als die ?lteste Schwester, noch nicht dreissigj?hrig, w?hrend einer Typhusepidemie starb. In ihren Aufzeichnungen schreibt die Greisin dar?ber: ,,Meine Schwester hinterliess drei Kinder, deren j?ngstes noch bei der Amme war. Wir Geschwister waren tief ersch?ttert, tiefer und nachhaltiger, als es sonst die Natur solch jungen Gesch?pfen gestattet. Mir, der nunmehr ?ltesten Schwester, fiel die Sorge um die kleinen Nichten zu, w?hrend f?r den Haushalt des Schwagers eine ?ltere Verwandte eintrat. Es ist bei solch traurigem Familienereignis wohl die beste und einfachste L?sung, wenn die zweite Schwester den Schwager heiratet und die Mutter ersetzt. Mein Schwager war ein gebildeter Mann, er stand vor dem Abschluss seines Studiums, als er meine Schwester kennen lernte. Da entschloss er sich zu verzichten und trat in das Gesch?ft meines Vaters ein. Wir lebten in gutem geschwisterlichem Verh?ltnis miteinander und als er nach Ablauf des Trauerjahres mit meinem Vater ?ber die Verbindung mit mir sprach, sagte dieser: ,,Sie k?nnen ja mit meiner Tochter ?ber die Verbindung selbst reden, ich glaube, Sie verstehen sich gut miteinander."
Und auch ich glaubte es, die ich nur von dem Wunsche beseelt war, die verwaisten Kinder vor dem Schicksal einer anderen Stiefmutter zu bewahren. Es dauerte ziemlich lange, ehe ich mir klar wurde, dass mein Gef?hl f?r die Kinder sich nicht auf den Vater ?bertragen liess. Und so k?mpfte ich in jungen Jahren einen harten Kampf, dessen Bedeutung ich erst viel sp?ter erkannte. Es war ein Kampf des unbewussten Gef?hlslebens, das sich zu behaupten suchte, trotz des eigenen Widerstandes. Dieser Abschnitt meines Lebens k?nnte in einer Biographie einen Raum einnehmen, der f?r die Kenntnisse des Seelenlebens wertvollen Stoff lieferte."
Die bald sich zeigende Eifersucht des Schwagers, der die junge, ungew?hnlich reizvolle Schw?gerin misstrauisch ?berwachte, war der tiefste Grund dieser immer mehr wachsenden Abwehr. Die junge Henriette f?hlte, von ihrem inneren Leben sollte Besitz ergriffen werden, und sie wehrte sich mit aller Kraft dagegen; sie sp?rte es, nur der Mann, der ihrer eigenen Natur gerecht wurde, der ihr den Eigenwert ihres inneren Menschen liess, konnte der sein, dem sie sich einmal zu eigen gab. So hatte sie schon mehrfach Bewerber abgewiesen und so fand sie auch hier den Mut des Neinsagens in diesem schweren seelischen Konflikt. Sie selbst bekannte: ,,Ihn zu ?berstehen half mir die revolution?re Bewegung der vierziger Jahre, das Jahr 1848."
In vielen Dingen hatte der Kaufmann Benas in Krotoschin sehr moderne Anschauungen, so verlangte er, damals etwas ganz Ungew?hnliches, von seinen T?chtern, sie sollten jeden Tag spazieren gehen. Und da die Auswahl der Spazierg?nge gerade nicht gross war, gingen die beiden M?dchen Henriette und Ulrike beinahe t?glich die Landstrasse entlang, die nach Zduny f?hrte. Den Reiz der grossen Weite, die dem freien Blicke keine Grenzen zu geben scheint, hatte man damals noch wenig erkannt, die beiden Schwestern fanden daher ihren t?glichen Weg einf?rmig genug. Die junge Ulrike rief da manchmal verzagt: ,,Und von hier aus soll man eine Weltanschauung bekommen?"
Das Hauptinteresse erregten nat?rlich die Verhandlungen ?ber die Emanzipation der Juden. Das war eine Menschheitsfrage, die den Herzpunkt unseres F?hlens und Denkens bezeichnete. Diese Frage wurde von den freisinnigen Abgeordneten, losgel?st vom konfessionellen, nationalen Standpunkt, von dem ehemals noch ungekannten, neuesten Standpunkt, rein menschlich behandelt. Vincke, der damals das Wort pr?gte: Von einem christlichen Staat d?rfte man nicht reden, das hiesse ein Haus bauen wollen und die Steine dazu vom Mond holen. - Beckerath, der in schmerzlichem Mitgef?hl die Ungerechtigkeit schilderte, die die Juden seit Jahrhunderten erlitten, - es waren unausl?schliche Eindr?cke, die diese Redner uns gaben. Das war im Jahre 1847! In demselben Jahr lasen wir t?glich einige Stunden ,,Die Weltgeschichte von Rotteck und Welcker" ohne zu ahnen, wie bald die Stimmen der Geschichte, der Zeit, in der wir lebten, sich vernehmen lassen w?rden."
,,Eure Tannen, eure Eichen Habt die gr?nen Fragezeichen Deutscher Freiheit ihr gewahrt? Nein, sie soll nicht untergehen! Doch ihr fr?hlich Auferstehen kostet eine H?llenfahrt!"
Ja, noch viel sp?ter, als sie die 90 schon ?berschritten hatte, konnte die Greisin wohl eins der Herweghschen Gedichte mit starker, ganz junger Stimme sagen, und in den Augen lag der Glanz jenes Erlebnisses.
Und der junge Reisegef?hrte?
In den Erinnerungen heisst es von ihm: ,,Mein Reisegef?hrte war Julius Behrens, evangelischer Theologe, der aber damals schon entschlossen war, die Theologie mit der Politik zu vertauschen. Er war es, der sp?ter als der ,,rote Behrens" bekannt wurde und in der ersten Kammer, nach der Revolution, den Antrag auf Anerkennung der Revolution von seiten der preussischen Regierung gestellt hatte. Ich habe ihn in den f?nfziger Jahren in Berlin nochmals wiedergesehen, aber die Reaktion war damals schon in vollem Gange, so dass er in sehr gedr?ckter Stimmung war und den Entschluss gefasst hatte, nach Australien zu gehen, den er sp?ter auch ausgef?hrt hat. Mein Onkel, bei dem ich in Berlin wohnte, war einigermassen entsetzt ?ber meine Bekanntschaft mit dem ,,roten Behrens", die allerdings eine Aufregung nach sich zog. Man hatte n?mlich bei ihm, dem politisch Ge?chteten, eine Haussuchung abgehalten und dabei einen Brief von mir gefunden, der sich auf eine Erkundigung eines Berichterstatters ?ber die Verh?ltnisse der Provinz Posen f?r die Nationalzeitung bezog. So kam auch ich ganz unverdienter Weise zu der Ehre einer Haussuchung, der man in damaliger Zeit sehr leicht teilhaft werden konnte."
Mit den ,,Gedichten eines Lebendigen" als Reiseergebnis kehrte die junge Henriette nach Krotoschin zur?ck. In dem kleinen Nest waren es mehr oder weniger Seifenblasen, die die Revolution erzeugte. Nur die Juden dort wurden durch die polnische Frage ganz besonders erregt. ,,Mein Vater," schrieb Henriette Goldschmidt, ,,empfand den Segen der Kultur, den die preussische Regierung der Provinz Posen gebracht. Als der Aufstand 1848 ausbrach, f?hlte er sich als preussischer B?rger, ja - wir m?ssen im Geist jener Zeit sagen, als preussischer Untertan." Dass dies nicht buchst?blich zu nehmen ist, sehen wir daraus, dass er sich einen Majest?tsbeleidigungsprozess zuzog.
Die jungen Revolution?rinnen haben dann noch einmal herzhaft gelacht in dem tollen Jahr, sie ?bten eine Schelmerei aus, freilich dazu nur von ihrem Gerechtigkeitsgef?hl getrieben; auch davon erz?hlte die Greisin, immer noch ein wenig mit dem Lachen und dem Glanz in den Augen der f?r Recht und Freiheit begeisterten Jugend: ,,Es gab in der Provinz Posen Aufstand und auch in Krotoschin r?ckte Milit?r ein. So kam es, dass preussische Offiziere auch in j?dische Familien einquartiert wurden und sich ein gem?tlicher Verkehr zwischen den Offizieren und ihren Quartiergebern bildete. Die deutsche Beamtenwelt Krotoschins hatte eine gesellige Vereinigung, Ressource genannt, gegr?ndet und diese veranstaltete einen Ballabend zu Ehren der preussischen Offiziere. Diese sprachen recht angeregt bei ihren Wirten von dem bevorstehenden Vergn?gen in der angenehmen Erwartung, mit den jungen T?chtern des Hauses tanzen zu d?rfen. Das war eine grosse Verlegenheit f?r die guten Kinder, denn sie sch?mten sich zu gestehen, dass sie keinen Zutritt zu diesem Balle hatten. Wir h?rten von andrer Seite, der Vorstand der Ressource h?tte in einer Sitzung die Frage aufgeworfen, ob Juden in die Gesellschaft aufgenommen werden sollten. Das Jahr 1848 klopfte mit dieser Frage an die Tore einer neuen Zeit, denn bis dahin dachte niemand an die M?glichkeit, dass Juden zu den Beamten- und Offizierskreisen Zutritt bek?men. Wir h?rten nun, dass der Vorsitzende der Gesellschaft sich entschieden gegen die Aufnahme der Juden ausgesprochen h?tte. Obgleich die Sache mich pers?nlich gar nicht ber?hrte, da unser Haus keine Offiziere beherbergte, kr?nkte meine junge Schwester und mich das Vorkommnis tief und wir beschlossen, dem besagten Herrn Vorsitzenden einen Schabernack zu spielen. Eine grosse Schlafm?tze wurde aus Papier gefertigt, ein dicker Zopf von Stroh geflochten, beides in eine Kiste gelegt und obenauf ein Schreiben: ,Die Schlafm?tze und den Zopf, die Deutschland abgeworfen, senden wir Ihnen zum morgenden Ballabend. Die Gesellschaft ist vorbereitet, Sie in diesem Schmucke zu begr?ssen!'
Die Urheber wurden entdeckt, und der betreffende Herr wandte sich an meinen Vater, der dadurch die Geschichte erfuhr. Dieser nahm die Sache nicht sonderlich schwer, ja im Grunde leitete ihn wohl bei seiner Beurteilung das gleiche Gef?hl wie seine T?chter, ?hnliche Emp?rung f?r eine offenbare Ungerechtigkeit. Und in dem Brausen und Fluten der Zeit, die damals ?ber Deutschland dahinzog, wurde leicht ein t?richter M?dchenstreich vergessen."
Von dem gewaltigen, ihr innerstes Wesen aufw?hlenden Eindruck, den diese Zeit aber auf Henriettes ganzes Leben und das Gleichgesinnter gemacht, heisst es in ihren Erinnerungen: ,,Wie m?chtig das Jahr 1848 die Zeitgenossen erregte, zeigt die Nachwirkung, die es aus?bte. Kein sp?teres Ereignis, selbst nicht der Krieg von 1870/71 hat eine gleiche Ersch?tterung hervorgerufen. Meine beiden Kolleginnen Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt, namentlich die erstere, waren gleich mir der ?berzeugung, dass die Frauenbewegung der politischen Bewegung jener Zeit ihre Entstehung verdankt."
Die Bewegung ebbte ab, die Reaktion der f?nfziger Jahre trat ein. Fast gleichzeitig verlor Henriette Benas die Heimat. 1850 siedelte die Familie, gar nicht zur Freude der Kinder, nach Posen ?ber. Sie f?hlten sich dort fremd und entwurzelt, und die Schwestern blieben auch fremd in der so viel gr?sseren Stadt. Nur einen kleinen Nachklang des Jahres 1848 gab es noch, die erstmalige Teilnahme an einer sozialen Arbeit. ,,In Posen habe ich mich", erz?hlt Henriette Goldschmidt, ,,zum erstenmal an freiwilliger sozialer Hilfsarbeit beteiligt. Ein alter Herr hatte die Idee, einen Verein zu gr?nden f?r ,Frauen und Jungfrauen', die sich armer Kinder nach den Schulstunden annehmen sollten, ihre Schularbeiten beaufsichtigen, ihnen Handarbeitsunterricht erteilen, ihnen ?berhaupt Schutz und Pflege angedeihen lassen." Die junge Henriette interessierte sich lebhaft f?r diese Gr?ndung, nicht ahnend, dass sie damit etwas tat, das mit ihrer sp?teren Lebensarbeit in tiefstem innerem Einklang stand. ,,Zuerst sollten eine Anzahl junger Damen Mitglieder f?r diesen Verein werben", schreibt sie. ,,Ich unterzog mich in Begleitung eines anderen jungen M?dchens dieser Mission. Wir trugen damals Schuhe, die mit B?ndern zusammengebunden waren, die sich leicht l?sten. So musste bald meine Begleiterin stehenbleiben, um wieder zu binden, bald musste sie warten, weil ich dasselbe vorzunehmen hatte. Ob dieses ?fteren Stehenbleibens wurde ich ungeduldig und sagte: Warum k?nnen wir nicht, wie die M?nner mit Gummieinsatz die Schuhe festhalten?
Da sah mich meine Begleiterin verwundert an und sagte: ,Was Sie f?r Ideen haben, Sie werden wohl noch einmal eine Revolution machen!' Ich erwiderte lachend, dass diese ja schon gewesen sei." Doch hat sie sp?ter bei dem Kampf um das Recht der Frau oft an das prophetische Wort denken m?ssen!
Aber ehe Henriette Benas diesen Kampf begann, ehe die in den vierziger Jahren ges?te Saat reifen konnte, trat erst noch eine grosse Ver?nderung in ihrem Leben ein, sie wurde Frau, folgte einem Gatten in die wirkliche Fremde, sie, die Freiheitssehns?chtige, kam in Europas unfreiestes Land, nach Russland, und mit dem Gatten zugleich waren es drei mutterlose Kinder, die ihre Sorge und Liebe verlangten, die sie treu an ihr Herz nahm.
Henriette Benas heiratete im Jahre 1853 einen Verwandten, den Prediger an der deutsch-j?dischen Gemeinde in Warschau, Dr. Abraham Goldschmidt. Diesmal brauchte es keiner schweren ?berlegung, sie f?hlte rasch heraus, dieser Mann war ihr geistesverwandt, und in einer langen, beide Gatten begl?ckenden Ehe hat sie niemals den Schritt bereut, der sie, wie sie es sp?ter oft nannte, nach Halbasien f?hrte.
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