Read Ebook: Jenseits der Schriftkultur — Band 1 by Nadin Mihai
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Ebook has 470 lines and 30263 words, and 10 pages
Als ein hochzivilisiertes Land ist Deutschland fest entschlossen, den barbarischen Teil seiner Vergangenheit hinter sich zu lassen. Der Klarheit halber sei gesagt, was ich unter barbarisch verstehe: Hitler-Deutschland verdient keinen anderen Namen, ebensowenig wie alle anderen ?usserungen von Aggression, Antisemitismus und Rassismus, die noch immer nicht der Vergangenheit angeh?ren. Aber bis heute hat man nicht verstanden, dass eben jene pragmatische Struktur, die die industrielle Kraft Deutschlands begr?ndete, auch die destruktiven Kr?fte beg?nstigte. Das wiedervereinigte Deutschland ist bereit, in einer Welt mit globalen Aufgaben und globalen Problemen Verantwortung zu ?bernehmen. Es setzt sich unter anderem f?r den Schutz des tropischen Regenwaldes ein und zahlt f?r Werte--den Schutz der Umwelt--statt f?r Produkte. Aber die politischen F?hrer Deutschlands und mit ihnen grosse Teile der Bev?lkerung haben noch nicht begriffen, dass der Osten des Landes nicht unbedingt ein Duplikat des Westens werden muss, damit beide Teile zusammenpassen. Differenz, d. h. Andersartigkeit, ist eine Qualit?t, die sich in Deutschland keiner grossen Wertsch?tzung erfreut. Verlorene Chancen sind der Preis, den Deutschland f?r diese preussische Tugend der Gleichmacherei bezahlen muss.
Die englische Originalfassung dieses Buches wurde 1997 auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt und in der Folge von der Kritik wohlwollend aufgenommen. Dank der grossz?gigen Unterst?tzung durch die Mittelsten-Scheid Stiftung Wuppertal und die Alfred und Cl?re Pott Stiftung Essen, f?r die ich an dieser Stelle noch einmal Dank sage, konnte dann Anfang 1998 die Realisierung des von Beginn an bestehenden Plans einer deutschsprachigen Ausgabe konkret ins Auge gefasst werden. Und nachdem Prof. Dr. Norbert Greiner, bei dem ich mich hier ebenfalls herzlich bedanken m?chte, f?r die ?bersetzung gewonnen war, konnte z?gig an die Erarbeitung einer gegen?ber der englischen Ausgabe deutlich komprimierten und st?rker auf den deutschsprachigen Diskussionskontext zugeschnittenen deutschen Ausgabe gegangen werden. Einige Kapitel der Originalausgabe sind in der deutschsprachigen Edition entfallen, andere wurden stark ?berarbeitet. Entfallen sind vor allem solche Kapitel, die sich in ihren inhaltlichen Bez?gen einem deutschen Leser nicht unmittelbar erschliessen w?rden. Ein Nachwort, das sich ausschliesslich an die deutschen Leser wendet, wurde erg?nzt.
Die deutsche Fassung ist also eigentlich ein anderes Buch. Wer das Thema erweitern und vertiefen m?chte, ist selbstverst?ndich eingeladen, auf die englische Version zur?ckzugreifen, in die 15 Jahre intensiver Forschung, Beobachtung und Erfahrung mit der neuen Technologie und der amerikanischen Kultur eingegangen sind. Ein Vorzug der kompakten deutschen Version liegt darin, dass die j?ngsten Entwicklungen--die so schnell vergessen sein werden wie alle anderen Tagesthemen--?Fortsetzungen? meiner Argumente darstellen und sie gewissermassen kommentieren. Sie haben wenig miteinander zu tun und sind dennoch in den folgenden Kapiteln antizipiert: Guildos Auftritt beim Grand Prix d?Eurovision , die entt?uschende Leistung der deutschen Nationalmannschaft bei der Fussballweltmeisterschaft , die Asienkrise, das Ergebnis der Bundestagswahlen, der Euro, neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie, die j?ngsten Arbeitslosenzahlen, die ?kosteuer und vieles mehr. Wer sich der M?he einer gr?ndlichen Lekt?re des vorliegenden Buches unterzieht, wird sich auf diese Entwicklungen einen eigenen Reim machen k?nnen, sehr viel besser als die Mediengurus, die uns das Denken abnehmen wollen. Zumindest wird er ?ber die wortreichen Artikel halbgebildeter Akademiker und opportunistischer Journalisten schmunzeln, die allzeit bereit sind, anderen zu erkl?ren, was sie selbst nicht verstehen.
Wuppertal, im November 1998
Mihai Nadin
Einleitung
Schriftkultur in einer sich wandelnden Welt
Alternativen
Wenn wir uns mit der Sprache befassen, befassen wir uns mit uns selbst, als Person und als Gattung. Wir sehen uns heute vielen Bedrohungen ausgesetzt--Terrorismus, AIDS, Armut, Rassismus, grosse Fl?chtlingsstr?me--, aber eine dieser ernsthaften Bedrohungen scheint am leichtesten zu ertragen zu sein: Schriftlosigkeit und schriftkulturelle Unbildung. Dieses Buch verk?ndet das Ende der Schriftkultur und versucht, die unglaublichen Kr?fte zu erkl?ren, die die beunruhigenden Ver?nderungen in unserer Welt vorantreiben. Das Ende der Schriftkultur--also die Kluft zwischen einem noch gar nicht so weit zur?ckliegenden Gestern und einem aufregenden, aber auch verwirrenden Morgen--zu verstehen, ist offensichtlich schwerer, als mit ihm zu leben. Die Tatsache des Umbruchs nicht anerkennen zu wollen, erleichtert das Verstehen nicht gerade. Wir sehen alle, dass die schriftkulturelle Sprache nicht so funktioniert, wie sie nach Meinung unserer Lehrer eigentlich funktionieren sollte, und wir fragen uns, was wir dagegen tun k?nnen. Eltern glauben, dass bessere Schulen mit besseren Lehrern Abhilfe schaffen k?nnten. Die Lehrer schieben die Schuld auf die Familie und fordern h?here Ausgaben im Bildungssektor. Professoren klagen ?ber schlechte Motivation und Vorbildung der Studienanf?nger. Verleger suchen angesichts der neuen, miteinander konkurrierenden Ausdrucks- und Kommunikationsformen nach neuen Verlagsstrategien. Juristen, Journalisten, Berufssoldaten und Politiker zeigen sich ?ber die Rolle und die Funktion der Sprache in der Gesellschaft besorgt. Vermutlich sind sie jedoch eher besorgt um ihre eigene Rolle und die Funktion der von ihnen repr?sentierten Institutionen in der Gesellschaft und setzen alles daran, die Strukturen einer Lebenspraxis zu festigen, die nicht nur die Schriftkultur, sondern vor allem ihre eigene Machtposition und ihren Einfluss st?rken. Die wenigen, die daran glauben, dass die Schriftkultur nicht nur Fertigkeiten, sondern auch Ideale und Werte vermittelt, sehen gar unsere Zivilisation auf dem Spiel stehen und f?rchten angesichts der abnehmenden traditionellen Bildungsstandards das Schlimmste. Niemand redet von Zukunftschancen und ungeahnten M?glichkeiten.
?ber das Beschreiben der Symptome kommt man dabei nicht hinaus: Abnahme der allgemeinen Lese- und Schreibf?higkeit ; eine alarmierende Zunahme vorgefertigter Sprachh?lsen ; die verbreitete Vorliebe f?r visuelle Medien anstelle der Sprache . Neben der Forschung zu diesen Fragen gibt es massive ?ffentliche Kampagnen zur St?rkung aller m?glichen schriftkulturellen Unternehmungen: Unterricht f?r Analphabeten, zus?tzlicher Sprachunterricht auf allen Ebenen und ?ffentlichkeitsarbeit, die f?r dieses Problem sensibilisieren soll. Was immer diese Aktionen bewirken m?gen, sie helfen nicht zu verstehen, dass es sich bei alldem um eine zwangsl?ufige Entwicklung handelt. Die historischen und systematischen Aspekte der Schriftkultur und der zur?ckgehenden Sprachkenntnisse bleiben unbeachtet.
Mein Interesse an diesen Fragen ist durch zwei pers?nliche Umst?nde geweckt worden: Zum einen bin ich in einer osteurop?ischen Kultur aufgewachsen, die trotzig an den strengen Strukturen der Schriftkultur festhielt. Zum andern habe ich den anderen Teil meines bisherigen Lebens dem Bereich gewidmet, den man heute die neuen Technologien nennt. Ich kam schliesslich in die Vereinigten Staaten, in ein Land mit unstrukturierter und br?chiger Schriftkultur und unglaublicher, zukunftsgerichteter Dynamik. Ich lebte mit denen zusammen, die unter den Folgen eines schlechten Bildungssystems zu leiden hatten und denen gleichzeitig diese neuen M?glichkeiten offenstanden. Die meisten von ihnen hatten keinerlei Kontakt zu dem, was an Schulen und Universit?ten vor sich ging. Das war der Anlass f?r mich, wie f?r viele andere auch, ?ber Alternativen nachzudenken.
Alles, was die Menschen in meiner neuen Lebensumgebung taten--Einkaufen, Arbeiten, Spiel und Sport, Reisen, Kirchgang und selbst die Liebe--, geschah mit einem Gef?hl der Unmittelbarkeit. Als Anbeter des Augenblicks standen meine neuen Landsleute in scharfem Kontrast zu den Menschen des europ?ischen Kontinents, von denen ich kam und deren Ziel in der Dauerhaftigkeit liegt--ihrer Familie, ihrer Arbeit, ihrer Werte, ihrer Arbeitsmittel, ihres Zu Hauses, ihrer Heimat, ihrer Autos und ihrer H?user. In den USA ist alles gegenw?rtig. An Fernsehsendungen und Werbung ist das sofort zu erkennen. Aber auch die Lebensdauer von B?chern wird bestimmt von den Bestsellerlisten. Der Markt feiert heute den Erfolg eines Unternehmens, das es morgen nicht mehr gibt. Alle anderen, wichtigen und allt?glichen, Ereignisse des Lebens, alle Modetrends, die Produkte der Popkultur, ?berhaupt alle Produkte sind dieser Fixierung auf den Augenblick unterworfen. Sprache und Schriftkultur k?nnen sich diesem Prinzip des Wandels nicht entziehen. Als Universit?tsprofessor stand ich an der Front, an der der Kampf um die Schriftkultur ausgetragen wurde. Hier begriff ich, dass bessere Studienpl?ne, besser bezahlte Dozenten und bessere und billigere Lehrb?cher zwar einiges bewirken k?nnten, aber letztlich an der Misere nichts ?ndern w?rden.
Der Niedergang der Schriftkultur ist ein allumfassendes Ph?nomen, das sich nicht auf die Qualit?t des Bildungssystems, auf die Wirtschaftskraft eines Landes, auf den Status sozialer, ethnischer oder religi?ser Gruppen, auf das politische System oder auf die Kulturgeschichte reduzieren l?sst. Es gab menschliches Leben vor der Schriftkultur, und es wird es jenseits von ihr geben. Es hat im ?brigen bereits begonnen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Schriftkultur eine relativ junge Errungenschaft der Menschen ist. 99% der Menschheitsgeschichte liegen vor der Schriftkultur. Ich bezweifele, dass historische Kontinuit?t eine Voraussetzung der Schriftkultur ist. Wenn wir indessen begreifen, was das Ende der Schriftkultur in seinen praktischen Auswirkungen bedeutet, k?nnen wir die Klagen vergessen und uns aktiv auf eine Zukunft einrichten, von der alle nur profitieren k?nnen. Wenn wir etwas genauere Vorstellungen von dem entwickeln w?rden, was sich am Horizont abzuzeichnen beginnt, k?nnten wir vor allem ein besseres, effektiveres Bildungssystem entwerfen. Wir w?ssten dann auch, was die einzelnen Menschen brauchen, um sich in ihrer Mannigfaltigkeit in dieser Welt erfolgreich zurechtzufinden. Verbesserte menschliche Interaktion, f?r die es mittlerweile ausreichende technologische M?glichkeiten gibt, sollte dabei im Mittelpunkt stehen.
Es liegt nat?rlich eine gewisse Ironie in dem Umstand, dass jede Ver?ffentlichung ?ber die M?glichkeiten jenseits der Schriftkultur ausgerechnet denen, um die es uns dabei besonders geht, nicht zug?nglich ist. Von den vielen Millionen derer, die im Internet aktiv sind, lesen die meisten h?chstens einen aus drei S?tzen bestehenden Absatz. Die Aufmerksamkeitsspanne von Studierenden ist nicht wesentlich k?rzer als die ihrer Dozenten: eine Druckseite. Gesetzgeber und B?rokraten verlassen sich bei l?ngeren Texten auf die Zusammenfassungen ihrer Mitarbeiter. Ein halbmin?tiger Fernsehbericht ?bt gr?sseren Einfluss aus als ein ausf?hrlicher vierspaltiger Leitartikel. Eine weitere Ironie liegt nat?rlich darin, dass das vorliegende Buch Argumente vorstellt, die in ihrer logischen Abfolge von den Konventionen des Schreibens und Lesens abh?ngen. Als Medium der Konstituierung und Interpretation von Geschichte beeinflusst die Schrift nat?rlich Art und Inhalt unseres Denkens.
Ich will daher vorausschicken, gewissermassen um mir selbst Mut zu machen, dass das Ende der Schriftkultur nicht gleichbedeutend mit ihrem v?lligen Verschwinden ist. Die Wissenschaft von der Schriftkultur wird eine neue Disziplin, so wie Sanskrit oder Klassische Philologie eine sind. F?r andere wird sie ein Beruf bleiben, wie sie es jetzt schon f?r Herausgeber, Korrektoren und Schriftsteller ist. F?r die Mehrheit wird sie fortbestehen als eine von vielen Spezialsprachen und Bildungsformen, als eine von vielen Literalit?ten, die uns den Gebrauch und die Integration der neuen Medien und der neuen Kommunikations- und Interpretationsformen erleichtern. Der Utopist in mir sagt, dass wir die Schriftkultur neu erfinden und damit retten werden, denn sie hat eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung zur neuen Zivilisation gespielt. Der Realist in mir erkennt, dass neue Zeiten und neue Herausforderungen, um ihre Komplexit?t in den Griff zu bekommen, neue Mittel erfordern. Unser Widerwillen, den Umbruch zu akzeptieren, wird ihn nicht verhindern. Er wird uns nur daran hindern, ihn mit zu gestalten und das Beste daraus zu machen.
Das vorliegende Buch m?chte keine Sch?ne Neue Welt verk?nden, in der die Menschen zwar weniger wissen, aber doch alles das wissen, was sie im Bedarfsfall wissen m?ssen. Es handelt auch nicht von Menschen, die--oberfl?chlich, mittelm?ssig und extrem wettbewerbsorientiert--sich leicht auf Ver?nderung einstellen. Es besch?ftigt sich vielmehr mit der Sprache und mit Bereichen, die von ihr wesentlich erfasst sind: Politik, Bildung, Markt, Krieg, Sport und vieles mehr. Es ist ein Buch ?ber das Leben, das wir den W?rtern beim Sprechen, Schreiben und Lesen verleihen. Wir geben aber auch Bildern, T?nen, Zeichengebilden, Multimedien und virtuellen Realit?ten Leben, wenn wir uns in neue Interaktionsformen einbinden. Die Grenzen der Schriftkultur in praktischen T?tigkeiten zu ?berschreiten, f?r deren Ausf?hrung die Schriftkultur keine ausreichenden Mittel zur Verf?gung stellen kann, heisst letztlich, in eine neue Zivilisationsphase hineinzuwachsen. Jenseits der Schriftkultur? Zun?chst m?chte ich meinen methodischen Ansatz darlegen. Die Sprache erfasst den Menschen in allen seinen Aspekten: den biologischen Anlagen, seinem Raum- und Zeitverst?ndnis, seinen kognitiven und manuellen F?higkeiten, seinem Gef?hlshaushalt, seiner Empfindungskraft, seiner Gesellschaftlichkeit und seinem Hang zur politischen Organisation des Lebens. Am deutlichsten aber tritt unser Verh?ltnis zur Sprache in der Lebenspraxis zutage. Unsere best?ndige Selbstkonstituierung durch das, was wir tun, warum wir es tun und wie wir es tun--unsere Lebenspraxis also--vollzieht sich mittels der Sprache, ist aber nicht darauf zu reduzieren. Die hier verwendete pragmatische Perspektive greift auf Charles Sanders Peirce zur?ck. Die semiotischen Implikationen meiner ?berlegungen beziehen sich auf sein Werk. Er verfolgt die Frage, wie Wissen zu gemeinsamem Wissen wird: nur ?ber die Tr?ger unseres Wissens--alle von uns gebildeten Zeichentr?ger--k?nnen wir ermitteln, wie die Ergebnisse unseres Denkens in unsere Handlungen und Theorien eingehen.
Die Sprache und die Bildung und Formulierung von Gedanken ist allein dem Menschen eigen. Sie machen einen wesentlichen Teil der kognitiven Dimension seiner Lebenspraxis aus. Wir scheinen ?ber die Sprache so zu verf?gen wie ?ber unsere Sinne. Aber hinter der Sprache steht ein langer Prozess der menschlichen Selbstkonstituierung, der die Sprache erst m?glich und schliesslich notwendig machte. Dieser Prozess bot letztendlich auch die Mittel, uns in dem Masse als schriftkulturell gebildet zu konstituieren, wie es die jeweiligen Lebensumst?nde erforderten. Es sieht nur so aus, als sei die Sprache ein n?tzliches Instrument; in Wirklichkeit ergibt sie sich aus unserem lebenspraktischen Zusammenhang. Wir k?nnen einen Hammer oder einen Computer benutzen, aber wir sind unsere Sprache. Und die Erfahrung der Sprache erstreckt sich auf die Erfahrung der ihr eigenen Logik und der von ihr und der Schriftkultur geschaffenen Institutionen. Diese wiederum beeinflussen r?ckwirkend unser Dasein--das, was wir denken, was wir tun und warum wir es tun; so wie auch alle Werkzeuge, Ger?te und Maschinen und alle Menschen, zu denen wir in Beziehung treten, unser Dasein beeinflussen. Die Interaktion mit anderen Menschen, mit der Natur oder mit Gegenst?nden, die wir geschaffen haben, beeinflussen alle auf ihre Weise die praktische Selbstkonstituierung unserer Identit?t.
Die schriftkulturelle Verwendung von Sprache hat unsere kognitiven F?higkeiten entscheidend erweitert. Vieles unterliegt dieser schriftkulturellen Praxis: Tradition, Kultur, Gedanken und Gef?hle, Literatur, die Herausbildung politischer, wissenschaftlicher und k?nstlerischer Projekte, Moral und Ethik, Justiz. Ich verwende einen weiten Begriff von Schriftkultur, der ihre vielen ?ber die Zeit herausgebildeten Facetten abdecken soll. Wer daran Anstoss nimmt, sollte sich die enormen Wirkungsbereiche der Schriftlichkeit in unserer Kultur vor Augen halten. Das Gegenteil dieses Begriffs ist fast immer mit negativen Konnotationen belastet--nicht schriftkulturell gebildet zu sein, gilt als sch?dlich oder peinlich. Wir k?nnen also, ohne unsere Werte und Denkweisen genauer zu verstehen, auch nicht nachvollziehen, wie sich der Weg in die "Schriftkulturlosigkeit" als Fortschritt begreifen l?sst. Viele Menschen empfinden sich als Teil einer post-schriftkulturellen Gesellschaft, m?chten sich aber nicht als ungebildet bezeichnen lassen.
Mit der Bezeichnung Jenseits der Schriftkultur beziehe ich mich auf ein Entwicklungsstadium, in dem die Grundstruktur unserer Lebenspraxis nicht mehr vornehmlich durch schriftkulturelle Merkmale gekennzeichnet ist. Dar?ber hinaus bezeichne ich damit einen Zustand, in dem nicht mehr eine einzige Sprache und Schriftkultur vorherrscht und allen Bereichen der Lebenspraxis ihre Strukturen und Regeln aufzwingt, so dass neue Formen der Selbstkonstituierung verhindert werden. Im ?brigen geht es mir nicht um einen provokativen Begriff, sondern darum, dass wir unseren Blick zukunftsorientiert auf die gegenw?rtigen Probleme richten und uns nicht aus Bequemlichkeit mit dem Gewohnten zufrieden geben.
Das neue Stadium kennt viele Sprachen und Schriftlichkeiten mit jeweils eigenen Merkmalen und Funktionsregeln. Bei diesen partiellen Sprachen kann es sich um andere Ausdrucksformen handeln, um visuelle oder um syn?sthetische Kommunikationsmittel. Andere beruhen auf Zahlen und damit einem Notationssystem, das mit Schriftlichkeit nichts zu tun hat. Jenseits der Schriftkultur etablieren sich nichtsprachliche Denk- und Arbeitsformen, die z. B. Mathematiker verschiedener L?nder und Sprachen auf der Grundlage ihrer Formeln zusammenarbeiten lassen. Visuelle, digital verarbeitete Mittel erh?hen die Effizienz. Und selbst in der heutigen eher primitiven Ausstattung verk?rpert das Internet die Richtungen und M?glichkeiten dieser Zivilisation. Das bringt uns zur?ck zur Frage, wie und warum Schriftkultur entstand, n?mlich durch pragmatische Umst?nde, die nach h?herer Effizienz hinsichtlich der verfolgten Ziele verlangten: bei der Auflistung von Handelsg?tern oder bei Anweisungen f?r bestimmte T?tigkeiten; Beschreibungen von Orten und Wegen; Theater, Dichtung, Philosophie; die Aufzeichnung und Verbreitung von Geschichte und Ideen, von Mythen, Romanen, Gesetzen und Gebr?uchen. Einige dieser Bed?rfnisse haben sich er?brigt. Aber dass die neuen digitalen Methoden und Technologien eine leistungsf?hige Alternative zur Schriftkultur darstellen, kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden.
Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, war ich davon ?berzeugt, dass wir f?r die dem Menschen eigene Tendenz zu immer h?herer Effizienz--genauer: f?r unseren Drang, immer mehr f?r immer weniger Geld zu bekommen--einen Preis bezahlen m?ssen: die Aufgabe der Schriftkultur und der an sie gekn?pften Werte wie Tradition, B?cher, Kunst, Familie, Philosophie, Ethik und vieles andere. Wir sehen uns schnelleren Lebensrhythmen und k?rzeren Interaktionszeiten ausgesetzt. Zahlreiche und vielf?ltige Vermittlungselemente beeinflussen unser Verst?ndnis von dem, was wir tun. Fragmentarisierung und gleichzeitige Vernetzung der Welt, neue Synchronisierungstechnologien und die Dynamik von Lebensformen oder k?nstlich geschaffenen Gebilden entziehen sich schriftkulturellem Zugriff und konstituieren einen neuen Rahmen f?r unsere Lebenspraxis. Besonders deutlich wird das, wenn wir die grundlegenden Merkmale der Schriftlichkeit mit denen der neuen Zeichensysteme vergleichen, die die Schriftlichkeit erg?nzen oder ersetzen. Sprache ist sequentiell, zentralistisch, linear und entspricht dem linearen Wachstumsstadium der Menschheit. Mit den ebenfalls linear anwachsenden Mitteln des Lebensunterhalts und der Produktion, die f?r das Leben und die Fortentwicklung der Menschheit notwendig sind, hat dieses Stadium sein Potential realisiert und ersch?pft. Das neue Stadium ist gekennzeichnet durch verteilte, nichtsequentielle T?tigkeit und nichtlineare Beziehungen. Es spiegelt das exponentielle Wachstum der Menschheit und setzt auf andere, im wesentlichen kognitive Ressourcen. Dieses System weist eine andere, eine v?llig neue Skala auf, die unter anderem durch Globalit?t und h?here Komplexit?tsebenen gekennzeichnet ist. Aus diesen v?llig neuen Formen der Lebenspraxis erwachsen die Alternativen, die unser Leben, unsere Arbeit und unsere sozialen Beziehungen ver?ndern werden.
Die neuen Mittel sind nicht mehr so universell wie die Sprache, er?ffnen aber aus den hier zun?chst angedeuteten Gr?nden ein exponentielles Wachstum. Solange sich der Mensch in kleinen Einheiten organisiert hatte , nahm die Sprache eine zentrale Stellung ein. Sie erf?llte in diesen Organisationsformen vereinheitlichende Funktionen. Mittlerweile haben wir eine Entwicklungsphase erreicht, die von weltweiten Abh?ngigkeitsverh?ltnissen gekennzeichnet ist. Daraus erwachsen viele lokale Sprachen und Schriftlichkeiten mit nur relativer, begrenzter Bedeutung, die aber in ihrer Gesamtheit unsere Praxis optimieren. Aus B?rgern, Citizens, werden vernetzte B?rger, Netizens, und diese Identit?t bindet sie nicht nur an den jeweiligen Platz ihres Lebens und ihrer Arbeit, sondern an die ganze Welt.
Das allumfassende System der Kultur brach in viele Teilsysteme auf, und zwar keinesfalls nur in die von C. P. Snow beschriebenen zwei Kulturen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften. Die Marktmechanismen befreien sich zunehmend von den Konventionen der Schriftkultur. Wo immer schriftkulturelle Normen und Regelungen diese Emanzipation verhindern wollen--etwa durch Massnahmen der Regierung, b?rokratische Vorschriften von Beh?rden, durch Milit?r und Justiz--bezahlen wir daf?r mit geringerer Effizienz. Wie sehr Europa auch immer vereint sein wird, wenn sich die Mitgliedsstaaten nicht von den ihre Lebensf?higkeit beeintr?chtigenden schriftkulturellen Zw?ngen befreien, werden die anstehenden Konflikte nicht bew?ltigt, und die m?glichen L?sungen r?cken in weite Ferne.
Eine letzte Bemerkung: Die Publikationsindustrie der Wissenschaft kann noch immer nicht begreifen, dass jemand einen Gedanken findet, der nicht auf einem Zitat beruht. Im Einklang mit der Autorit?tsfixierung der Schriftkultur habe ich all jene Werke angef?hrt, die sich in irgendeiner Weise auf den Inhalt dieses Buches ausgewirkt haben. Nur sehr wenige werden im Text selbst erw?hnt. Ich habe mir erlaubt, der Entwicklung meines Gedankengangs Priorit?t vor den stereotypen Fussnotenverweisen einzur?umen. Das soll mich jedoch nicht daran hindern, neben Leibniz und Peirce den Einfluss zahlreicher weiterer Gelehrter anzuerkennen, insbesondere von Humberto Maturana, Terry Winograd, George Lakoff, Lotfi Zadeh, Hans Magnus Enzensberger, George Steiner, Marshall McLuhan, Ivan Illich, Jurij M. Lotman und sogar Jean Baudrillard, dem Essayisten des postindustriellen Zeitalters. Wenn ich irgend jemanden ungenau wiedergebe, geschieht dies nicht aus Missachtung seines Werks. In der Verfolgung des eigenen Erkenntnisinteresses und der eigenen Argumentation habe ich von ihren Gedanken eingebaut, was mir ein brauchbarer Baustein in meinem Gedankengeb?ude zu sein schien. F?r Entwurf und Bauweise trage allein ich die Verantwortung und stelle mich gern der Kritik. Das mindert nicht im geringsten meinen Dank an all jene, deren Fingerabdr?cke auf manchen Bausteinen zu erkennen sind.
In den f?nfzehn Jahren, in denen ich an diesem Buch gearbeitet habe, sind viele der von mir diskutierten Entwicklungen f?r jeden erkennbar eingetreten. Aber ich bin alles andere als ungl?cklich oder ?berrascht zu sehen, dass sich die Realit?t ver?ndert hat, noch bevor dieses Buch erscheinen konnte. Als ich die Gedanken, die schliesslich in dieses Buch eingingen, erstmals mit Studenten diskutierte, in Vortr?gen vorstellte und vor politischen, administrativen oder wissenschaftlichen Kreisen ver?ffentlichte, hatte das Internet noch nicht die B?rse bestimmt, waren die B?cher ?ber den Zukunftsschock mit ihren sch?umenden Prophezeiungen noch nicht erschienen und hatte noch kein Unternehmen das grosse Geld mit den Multimedien gemacht. Das Buch sollte indes nicht nur Vorg?nge und Tendenzen beschreiben, sondern auch ein Programm f?r praktisches Handeln entwickeln. Deshalb widme ich mich nach den theoretischen Teilen angewandten Fragestellungen. . Abschliessend versuche ich praktische Massnahmen vorzuschlagen, die sich als Alternativen zu den eingetretenen Pfaden verstehen. Ich w?rde es in der Tat gern sehen, wenn man meine Vorschl?ge pr?fen und anwenden, ?bernehmen und weiterentwickeln w?rde . Und lieber w?rde ich eine kritische oder ablehnende Rezeption dieses Buches in Kauf nehmen, als die Tatsache, dass es unbemerkt bliebe.
Kapitel 1:
Die Kluft zwischen Gestern und Morgen Kontrastfiguren
Heutzutage wird an einem einzigen Tag mehr Information produziert als in den vergangenen 300 Jahren zusammen. Die Bedeutung dieser trockenen Zahlen aus dem Bereich der Datenverarbeitung wollen wir an einem Beispiel verdeutlichen.
Die Friseurin Zizi und ihre Freunde vertreten den heutigen Zeitgeist und die lesef?hige Bev?lkerung mit durchschnittlicher Schulbildung. Hans Magnus Enzensberger vergleicht sie in seinen "Gesammelten Zerstreuungen" mit Pascal, der seine Arbeit ?ber die Kegelschnitte als 16j?hriger ver?ffentlicht hatte, mit Hugo Grotius, der im Alter von 15 Jahren seinen Hochschulabschluss erwarb, und mit Melanchthon, der bereits mit zw?lf Jahren an der ber?hmten Heidelberger Universit?t eingeschrieben war. Zizi weiss, wo es langgeht. Sie ist wie eine leibhaftige Internetadresse: mehr Verbindungen als Inhalte, st?ndig im Aufbau begriffen. Sie beschreitet viele neue Wege, keiner wird beendet. ?ffentliche Mittel sichern ihr Wohlergehen, sie ist im Genuss aller Formen der Sozialhilfe, die die Gesellschaft zu bieten hat. Zizi parliert ?ber Steuern, ?ber Figuren aus Groschenheften und Fernsehserien oder ?ber Personen aus ihrem letzten Urlaub. Ihre Rede besteht aus Klischees aus dem Mund der allseits bewunderten Alltagshelden. Ihr Freund, der 34j?hrige Bruno G., hat einen Universit?tsabschluss in politischer Wissenschaft, verdient sein Geld als Taxifahrer und ist sich ?ber seine weiteren Lebensziele v?llig im unklaren. Er kann die deutschen Fussballmeister seit 1936 auswendig hersagen, kennt die namentliche Aufstellung jeder Mannschaft und jedes Spielergebnis auswendig und weiss genau, welcher Trainer wann gefeuert wurde. Melanchthon lernte Lesen, Schreiben, Latein, Griechisch und Theologie. Er kannte zahlreiche Stellen aus der Bibel und aus den Werken antiker Schriftsteller auswendig. Seine Welt war klein. Um sie zu erkl?ren, brauchte man weder Mathematik noch Physik, sondern nur Philosophie. Da wir Melanchthon weder einer Multiple-choice-Pr?fung noch einem Intelligenztest unterziehen k?nnen, wissen wir auch nicht, ob er heute eine Abitur- oder eine universit?re Aufnahmepr?fung bestehen w?rde. Damit sind wir bei der ebenso simplen wie entscheidenden Frage: Wer ist unwissender, Melanchthon oder Zizi?
Enzensbergers Beispiele beziehen sich auf Deutschland, aber die von ihm beschriebenen Ph?nomene ?berschreiten L?ndergrenzen. Er selbst--Schriftsteller, Lyriker, Verleger--ist gewiss alles andere als ein blindw?tiger Internetanh?nger, obwohl er sich darin vermutlich genauso gut auskennt wie seine Figuren. Im Gegensatz zu vielen anderen, die sich mit Schriftkultur und Bildung befassen, sieht Enzensberger durchaus, dass die jenseits der Schriftkultur erreichte Effizienz das Alter des Heranwachsens weit in jene Zeit hinein ausdehnt, die im Leben vorausgegangener Generationen zu der produktiven Phase z?hlte. Heute geniesst nahezu jeder irgendeine Form von weiterf?hrender Bildung--in manchen L?ndern gibt es darauf einen Rechtsanspruch. Mehr als die H?lfte aller jungen Menschen hat eine weiterf?hrende Schule oder eine Hochschule besucht. Und nach dem Examen wissen viele von ihnen noch immer nicht, was sie eigentlich wollen. Schlimmer noch, sie m?ssen erfahren, dass ihnen ihre Kenntnisse oder das, was sie als ihre Kenntnisse bescheinigt bekommen haben, bei dem, was von ihnen im Leben erwartet wird, nicht sonderlich n?tzlich sind. Wie Zizi leben sie von Sozialf?rsorge und reagieren zornig, wenn irgend jemand die Frage aufwirft, ob sich die Gesellschaft diese Art von Unterst?tzung ?berhaupt noch leisten kann. Der in ihrer Lebenserfahrung sich festsetzende Eindruck der Leistungsf?higkeit der Gesellschaft rechtfertigt in ihren Augen den Anspruch, sich dar?ber, ob sie selbst je zu dieser Leistungsf?higkeit beitragen werden, keine Gedanken machen zu m?ssen. Von ihrer Ausbildung erwarten sie, wohl zu recht, dass alles f?r ihr sp?teres Leben relevant ist. Das Problem liegt allerdings darin, dass weder sie noch ihre Lehrer genau wissen, was das heisst. Ihnen bietet sich eine immer gr?ssere Auswahl an F?chern, die immer weniger berufsrelevant sind. Ein Buch wird kaum noch zu Ende gelesen; Pflichtlekt?re wird in kleinen Portionen vergeben, ?blicherweise in Form von Fotokopien. Beigef?gt ist ein Fragenkatalog in der Hoffnung, dass die Sch?ler die zu seiner Beantwortung n?tigen Seiten auch wirklich lesen und nicht etwa die Antworten von ihren fleissigeren Freunden abschreiben.
Zizi verf?gt vermutlich ?ber einen Wortschatz, der im Umfang etwa dem eines Gelehrten aus dem 16. Jahrhundert entspricht. Dass sie davon weniger als 1000 W?rter aktiv verwendet, besagt lediglich, dass sie nur so viele ben?tigt, um erfolgreich im Leben zu bestehen. Melanchthon verwendete nahezu alle W?rter, die er kannte. Seine Arbeit erforderte eine Beherrschung der Schriftkultur, die ihm jeden neuen Gedanken zu formulieren erlaubte, der sich aus den relativ wenigen neuen Erfahrungen im Prozess der menschlichen Identit?tsfindung ergab, derer er gewahr wurde. Er beherrschte drei Sprachen, zwei davon sind heute nur noch Gegenstand wissenschaftlicher Besch?ftigung in entsprechenden Fachdisziplinen. Zizi reichen f?r ihren n?chsten Urlaub in Griechenland oder Italien einige S?tze aus dem Reisef?hrer oder vom Kassettenrecorder: Reisen geh?rt zu ihrem Alltag. Sie kennt zahllose Rockgruppen und kann alle Lieder mitsingen, die ihre Sorgen artikulieren: Sex, Drogen, Einsamkeit. Ihre Erinnerung an Rockkonzerte und Filme d?rfte wesentlich umfangreicher sein als die Melanchthons, der vielleicht die Liturgie der katholischen Kirche auswendig kannte. Wie alle, die ihre Identit?t jenseits der Schriftkultur finden, weiss Zizi, was sie von den Steuern absetzen kann. Ihr Lebensrhythmus ist mehr durch wirtschaftliche als durch nat?rliche Zyklen bestimmt. Vor allem h?lt sie die Basis ihres praktischen Wissens stets auf dem neuesten Stand. In einer Zeit permanenter Ver?nderung ist dies ihre einzige Chance, dem System und allen davon ausgehenden Bildungsnormen und Einschr?nkungen die Stirn zu bieten.
Melanchthon h?tte bei all seiner Bildung schon zwischen zwei aufeinanderfolgenden Steuergesetzen die Orientierung verloren, ganz zu schweigen von den rasch wechselnden Bekleidungs- und Musikmoden, der Entwicklung der Computersoftware oder gar der Computerchips. Sein Orientierungssystem entsprach einer stabilen Welt mit weitgehend unver?nderlichen Erwartungen. Die Inhalte seiner Bildung behielten f?r den Rest seines Lebens ihre G?ltigkeit. Zizi, Bruno und ihre Freundin Helga--die dritte Figur bei Enzensberger--leben dagegen in einer Welt, deren Wissensangebot heterogen und nicht festgelegt ist. Es gr?ndet auf ad-hoc-Methoden, die sie in Zeitschriften finden oder im Internet, das man nur zu durchsurfen braucht, um an n?tzliche Informationen zu gelangen.
Wir m?ssen uns indes, schon um den Eindruck einer Karikierung des Internets zu vermeiden, den pragmatischen Kontext vergegenw?rtigen, innerhalb dessen Zizi ihre Identit?t findet und in dem das Internet als weltweiter Erfahrungsfundus fungiert. Es ist gewiss nicht ganz fair, Melanchthon und die Friseurin Zizi zu vergleichen. Ebenso unfair w?re es, die Bibliothek von Alexandria mit dem Internet zu vergleichen. Die eine birgt eine unsch?tzbare Sammlung, die das gesamte menschliche Wissen repr?sentiert . Das andere bietet extrem effektive Methoden, mit denen wir die f?r die pragmatischen Lebenszusammenh?nge ben?tigten Informationen erwerben, pr?fen, benutzen und verwerfen k?nnen. Die Welt Melanchthons blieb auf Mitteleuropa und Rom beschr?nkt. Nachrichten wurden haupts?chlich m?ndlich ?bertragen. Wie alle, die mit B?chern aufwachsen und mit ihnen arbeiten, hatte Melanchthon viel weniger Informationen zu verarbeiten als wir heute. F?r seine Zwecke brauchte er weder einen Intel-inside-Computer noch eine Suchmaschine. Er h?tte auch nicht verstehen k?nnen, wie man Bedarf und Vergn?gen am browsen--am Durchbl?ttern--einer Maschine, eben dem Browser, ?berlassen kann. Seine geistige Welt bestand aus Assoziationen, nicht aus Suchergebnissen, so ertragreich diese auch sein m?gen. Seine Erkenntniswelt wurde durch den menschlichen Verstand, nicht durch Maschinen aufgebaut.
Schriftlichkeit er?ffnete einen Zugang zum Wissen, solange dieses Wissen mit den pragmatischen Strukturen kompatibel war, die es verk?rperte und f?rderte. Das Ozonloch der Informations?berflutung liess diese Schutzh?lle der Schriftlichkeit platzen. Im neuen pragmatischen Kontext sieht sich der datenhungrige Mensch auf Gedeih und Verderb einer Informationsumwelt ausgeliefert, die Arbeit, Unterhaltung und Freizeit, ja, das gesamte Leben formt. Zu Melanchthons ganz auf Exzellenz ausgerichteter Zeit war der Zugang zur Bildung nur wenigen offen und entsprach nicht im entferntesten unseren Massst?ben von Gleichheit und Fairness. Jegliche Form von Wissen war sehr teuer. Um Friseurin zu werden--sofern dies vor 500 Jahren m?glich und n?tig gewesen w?re--h?tte Zizi wie Millionen andere, die wie sie eine Berufsausbildung genossen haben, viel mehr bezahlen m?ssen als in unserer heutigen Zeit mit ihrem unbeschr?nkten Zugang zur Mittelm?ssigkeit. Wissen wurde durch unterschiedliche Instanzen vermittelt--durch Familie, Schule und Kirche--und nur durch wenige B?cher verbreitet, oft nur m?ndlich oder durch Nachahmung.
Die Erwartungen, die ein Individuum zur Zeit Melanchthons hegte, und die von ihm verfolgten Ziele ver?nderten sich im Verlauf eines Lebens nur unwesentlich, da auch der pragmatische Lebenszusammenhang unver?ndert blieb. Das f?hrte zur dynamischen, praktischen Erfahrung der Identit?tsfindung, die schliesslich den pragmatischen Kontext unserer Zeit entstehen liess. Vorbei sind auch alle Formen von Kooperation und Solidarit?t, die, so unvollendet sie auch gewesen sein m?gen, eine Lebensform und ein Wertesystem kennzeichneten, worin das ?berleben des Einzelnen f?r das ?berleben und das Wohlergehen der Gemeinschaft ausschlaggebend war. An ihre Stelle ist eine allseits verbreitete Konkurrenzmentalit?t getreten. Nicht selten nimmt sie den Charakter von Feindseligkeit an, die im Fall von auf die Schriftkultur verpflichteten, gebildeten Rechtsanw?lten sozial akzeptiert, im Fall von jenseits dieser Kultiviertheit operierenden, ?illiteraten? Terroristen unerw?nscht ist.
Unser Szenario, in dem Zizi und Melanchthon die Hauptrollen spielen, kann die Kluft zwischen gestern und heute nat?rlich nur andeuten. Eine genauere Untersuchung der heutigen Lage erg?be jedoch, dass die Schriftsprache nicht mehr ausschliesslich, und nicht einmal vornehmlich, unser t?gliches Leben bestimmt. Im Alltag der wirtschaftlich fortgeschrittenen L?nder ist ein wesentlicher Teil der sprachlichen Kommunikation durch maschinelle Transaktionen ersetzt worden. Digitale Netzwerke verkn?pfen Produktionsst?tten, Verteilungskan?le und Verkaufsstellen und erh?hen Umfang und Vielfalt dieser Transaktionen. Auch die alltagspraktischen Abl?ufe wie Einkaufen, Transport, Banken- und B?rsengesch?fte bed?rfen immer weniger der Schriftlichkeit. Die Automatisierung hat in vielen T?tigkeitsbereichen die schriftliche Komponente wegrationalisiert, und weltweit machen--unabh?ngig vom jeweiligen wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungsstand--kommunikationsspezifische Erscheinungen wie Werbung, Politkampagnen oder vielf?ltige Formen des Zeremoniells nur allzu deutlich, dass die Schriftsprache der Funktion und dem Zweck untergeordnet bleibt.
Derartige Entwicklungen haben nicht nur Auswirkungen auf schriftsprachliche Kulturen und solche, die diese Schriftsprachlichkeit bereits hinter sich gelassen haben, sondern auch auf Lebensgemeinschaften, die sich noch immer in einem Vorstadium der schriftsprachlichen Kultur befinden--auf die nomadische, animistische Bev?lkerung des Sudan, die Indianerst?mme in den Regenw?ldern des Amazonas und auf die zur?ckgezogen lebenden St?mme in Afrika, Asien und Australien. Wir sollten uns klarmachen, dass die G?ter und Waren dieser Kulturen einschliesslich ihrer Arbeitskraft, aber auch ihre Bed?rfnisse und Erwartungen, auf dem globalen Markt gehandelt werden. Im von lese- und schreibunkundigen Indianerst?mmen bev?lkerten Hochland Perus wird ebenso ferngesehen wie in der Sahara--mit Fernsehger?ten, die an Autobatterien angeschlossen sind. Als virtuelle Verkaufsobjekte werden die L?nder mit vorzivilisatorischen Gesellschaften auf dem Futures-Markt als m?gliche Urlaubsgebiete oder als Lieferanten f?r billige Arbeitskraft gehandelt. Auch bleibt ihre praktische Identit?tserfahrung im Kontext eines nomadischen, animistischen Stammesdaseins nicht mehr l?nger auf die enge Grenze der jeweiligen Lebensgemeinschaft beschr?nkt. In der hocheffizienten Welt globaler Lebensplanung erscheinen ihr Hunger und ihr Elend in den Entw?rfen von potentiellen Hilfs- und Kooperationsprogrammen. Wir sollten dies nicht nur als Gier und Zynismus auslegen, sondern auch als Ausdruck gegenseitiger Abh?ngigkeit. AIDS auf dem afrikanischen Kontinent und die Ebola-Epidemie sind nur zwei Beispiele f?r Gefahren, die die ganze Welt betreffen. Die Pflanzen des immer kleiner werdenden Regenwaldes des Amazonas, deren Heilwirkung wir nutzen, k?nnen auch die gemeinsamen Chancen symbolisieren. In einem solchen Zusammenhang, aus solchen Anl?ssen und an solchen Orten treffen die pragmatischen Lebensformen von Schriftkultur und diejenigen jenseits der Schriftkultur zusammen und finden zu gemeinsamen Aufgaben.
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Texte werden durch Bilder ersetzt; Ger?usche f?gen Rhythmus oder Nuancierungen hinzu; nichtsprachliche, visuelle Darstellungen dominieren; bewegte Bilder erzeugen eine Dynamik, die vom geschriebenen Wort nur angedeutet werden k?nnte. In technologisch fortschrittlichen Gesellschaften verbinden interaktive Multimedien visuelle, akustische, dynamische und strukturale Darstellungsformen. Kontexte f?r die pers?nliche Auswertung, Organisation und Bearbeitung von Informationen spriessen in CD-ROM-Formaten geradezu aus dem Boden, als interaktive Spiele, als Lehrprogramme. High-fidelity-Stereoklang, umfangreiche Videom?glichkeiten, Computergraphiken und eine Vielzahl von Mitteln zur individuellen menschlichen Interaktion bilden die technologische Grundlage f?r eine sich herausbildende allgegenw?rtige computerisierte Umwelt.
Dieser Prozess kann vorl?ufig folgendermassen zusammengefasst werden: Die Form von Kooperation und Interaktion, die der Komplexit?t unseres heutigen Zeitalters gerecht wird, muss die Massst?be h?chster Effizienz erf?llen. Die relativ stabile und gut strukturierte Kommunikation auf der Basis der Schrift erweist sich heute als weniger effizient als ein schneller und eher fragmentarischer Kontakt durch Mittel, die nicht mehr auf Schriftlichkeit gr?nden oder durch sie gef?rdert werden. Stereotypisierte, repetitive oder klar definierte einmalige Aufgaben und die damit verbundene Schriftsprache sind zunehmend an Maschinen ?bertragen worden. Einmalige Aufgaben setzen Spezialisierungsstrategien voraus. Je begrenzter die Aufgabe ist, die dem einzelnen Kommunikationsteilnehmer zugewiesen wird, desto effektiver sind die Wege zu ihrer L?sung. Dies geschieht auf Kosten der Formenvielfalt und des Ausmasses der direkten menschlichen Interaktion und nat?rlich auf Kosten der auf Schriftlichkeit gr?ndenden Interaktion. Entsprechend greift die menschliche Suche nach Identit?t auf Ausdrucks- und Kommunikationsmittel zur?ck, die nicht mehr nur auf Schrift gr?nden oder auf sie zur?ckzuf?hren sind. Die der Schriftlichkeit eigenen Merkmale beeinflussen unsere Erkenntnisprozesse, Interaktionsformen und auch die Natur unserer Produktionsbem?hungen in immer geringerem Ausmass. Gleichwohl m?ssen wir erkennen, dass diese Umstrukturierung unseres praktischen Handelns weder allgemeine Zustimmung findet noch konfliktlos ist, wie wir im folgenden darlegen wollen.
Manch einem bleibt die eingeschr?nktere Rolle der Schriftlichkeit und der allgemeine R?ckgang der Sprachlichkeit und Sprachfertigkeit im heutigen Leben verborgen, andere wiederum ?berlassen sich der zunehmenden Schriftlosigkeit, ohne sich dieser Tatsache ?berhaupt bewusst zu werden. Viele klagen heute ?ber das niedrige Bildungsniveau, stimmen aber der Einf?hrung von Methoden und der Einrichtung von Lebensbed?rfnissen zu, die eine auf Schriftlichkeit basierenden Bildung immer bedeutungsloser machen. Wenn diese Menschen sich auf Bildung berufen, gefallen sie sich in einer Sehnsucht nach etwas, was ihr t?gliches Leben l?ngst nicht mehr beeinflusst. Ihre gesamte Lebensweise, ihr Denken, F?hlen, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, ihre Erwartungen bez?glich Familie, Religion, Ethik, Moral, Kunst, Essen, Kultur und Freizeit spiegeln l?ngst diese neue Lebensform der Schriftlosigkeit wider. Und diese Entwicklung ist zwangsl?ufig, niemand hat wirklich eine Wahl. Viele Politiker, Lehrer und Kulturschaffende zeigen sich ?ber den niedrigen Bildungsstand derer besorgt, die eine Ausbildung genossen haben, welche bislang als ausreichende Grundlage f?r durchschnittlich gebildete Erwachsene galt. Sie bef?rchten, m?glicherweise aus den falschen Gr?nden, dass die Menschen ohne ein hohes Mass an Schreibund Lesefertigkeit nicht leben und gedeihen k?nnen. Wor?ber sie tats?chlich besorgt sind, ist nicht die Tatsache, dass man heutzutage weniger gut oder korrekt schreibt, weniger liest , sondern dass manch einer trotz dieses Umstandes durchaus im Leben bestehen kann. Die selbsternannten Helden der Schriftkultur verwenden Kraft, Energie und Gedanken nicht etwa auf die Frage, wie man aus diesem Umbruch Nutzen ziehen, sondern wie man einen unvermeidlichen Prozess anhalten kann.
Dieser Umbruch trat keinesfalls ?ber Nacht ein. Norbert Wieners vorausblickende Warnung, dass wir uns zu Sklaven intelligenter Maschinen machen, die viele unserer geistigen F?higkeiten ?bernehmen, verdient in diesem Zusammenhang mehr als nur beil?ufige Erw?hnung. Andere f?hren das in den 60er Jahren weltweit zu verzeichnende Aufbrechen der traditionellen Bildungssysteme ins Feld. Diese Vorg?nge und die von Wiener bezeichneten Maschinen sind ein weiteres Symptom, wenn auch nicht der Grund, f?r den Niedergang der Schriftkultur. Ich vertrete im Folgenden die These, dass sich Schriftlosigkeit, soweit sie sich bislang manifestiert hat, aus der ver?nderten praktischen Erfahrung des Menschen ergeben hat; das heisst aus einem praktischen Handeln, welches einem neuen Zivilisationsstand entspricht. Welchem Beruf wir auch nachgehen--als Angestellter einer grossen Firma oder als selbst?ndiger Gesch?ftsmann, als Bauer, K?nstler, Sprachlehrer, Mathematiker, Programmierer oder auch als Mitglied des Verwaltungsrats einer Universit?t--wir alle haben l?ngst, wenn auch etwas z?gerlich, die Rationalisierung der Sprache akzeptiert. Wir haben uns in der unpers?nlichen Welt aus stereotypisierten Diskursformen, Anwendungen, Passwords und aus in Textverarbeitungsprogrammen gespeicherten Standardbriefen eingerichtet. H?chst effektiv ?berwindet das Internet alle Einschr?nkungen, die uns die Sprache im Zusammenhang des praktischen Handelns auferlegt hatte--als World Wide Web, als e-mail-Medium, als Kanal f?r Datenaustausch oder auch nur als Forum eines globalen Gedankenaustausches. Zunehmend ist unsere Welt gekennzeichnet durch Effizienz und global vernetzte T?tigkeiten, die mit einer solchen Geschwindigkeit und auf unterschiedlichsten Ebenen vollzogen werden, wie es der Schriftlichkeit niemals m?glich war.
Gleichwohl dr?cken sich Abh?ngigkeiten aus in unserem Verh?ltnis zur Sprache und in unserer Sprachverwendung. Sprache scheint ein Schl?ssel zum Verstand zu sein--zumindest einer von vielen. Dies ist einer der Gr?nde, warum die k?nstliche Intelligenz so sehr an Sprache interessiert ist. Dar?ber hinaus ist sie offenkundig ein wesentliches soziales Merkmal. Also kommt es auch nicht ?berraschend, dass sich aus dem ver?nderten Status der Sprache weitere Ver?nderungen ergeben, die weit ?ber das hinausgehen, was wir in einem naiven Sprachverst?ndnis f?r die Natur eines Wortes, die Leistung eines Wortes oder einer Grammatikregel oder f?r einen Text halten. Ein Wort auf einem bedruckten Blatt Papier wie dem vorliegenden ist etwas ganz anderes als ein Wort im Hypertext einer multimedialen Anwendung oder im Web. Die Buchstaben erf?llen jeweils unterschiedliche Aufgaben. Fehlt einer auf dieser Seite, liegt ein Druckfehler vor. Ber?hrt man einen, geschieht gar nichts. Wenn wir aber einen Buchstaben auf einer Webpage anklicken, werden wir unverz?glich mit anderen Zeichen, Bildern, Ger?uschen und interaktiven, multimedialen Darstellungen verbunden. Solche Ver?nderungen sind Thema des vorliegenden Buches. Sie helfen uns zu verstehen, warum Schriftlosigkeit sich nicht zuf?llig ergeben, sondern zwangsl?ufig entwickelt hat.
Das Leben ist schneller geworden
Die heutige Welt ist durch Effizienz gekennzeichnet. Und obwohl dies zumindest auf den Computer-Bildschirmen, den Bedienungskn?pfen und Sensoren jener Maschinen offenkundig wird, von denen wir zunehmend abh?ngen, bem?chtigen sich die Effizienzerwartungen des Gesch?fts- und Finanzlebens zunehmend auch unserer Privatsph?re. Unsere Effizienzerwartungen haben auch unsere H?uslichkeit nachhaltig ver?ndert--K?che, Arbeits- oder Badezimmer--und die entsprechenden sozialen und famili?ren Rollen neu definiert. Das, was uns fr?her andere abgenommen haben, erledigen wir heute fast ausschliesslich selbst. Wir kochen , wir waschen unsere W?sche , wir schreiben und drucken unsere Texte selber aus, wir fahren uns selbst und unsere Kinder. Der Mensch ist durch die Maschine ersetzt worden, wir haben uns zu ihrem Sklaven gemacht. Wir m?ssen die Sprache ihrer Bedienungsanleitungen lesen und die Konsequenzen aus ihrer Benutzung tragen: erh?hten Energieverbrauch, Umweltverschmutzung und erh?hte M?llmengen, vor allem aber Abh?ngigkeit. Unsere Beziehungen werden fl?chtiger; "Wie geht es?" gibt nicht mehr unser aufrichtiges Interesse wieder und fordert vor allem keine wirkliche Antwort ein, sondern ist eine leere Begr?ssungsformel. Was einst tats?chlich etwas bedeutet und ein Gespr?ch eingeleitet hat, ist heute eher dazu geeignet, zwischenmenschliche Begegnungen zu beenden oder doch im besten Falle ein Gespr?ch zu er?ffnen, das nichts mit dieser einleitenden Frage zu tun hat. Solange das Modell der Sprachlichkeit und der Sprachkultur seine G?ltigkeit besass, lebten wir in einem homogenen Sprachraum, heute sehen wir uns einer fragmentarisierten Wirklichkeit gegen?ber, die aus Spezialsprachen und Registern, Bildern, Ger?uschen, K?rpersprache und neuen Konventionen besteht.
Trotz des enormen finanziellen Aufwandes, den die Gesellschaft jahrhundertelang in Schriftsprachlichkeit und Bildung investiert hat, gelten diese heute nicht mehr als allseits erstrebenswertes Bildungsziel. Man hat sich offenbar sogar damit abgefunden, dass nicht einmal mehr die in der ?blichen Schulausbildung vermittelte Schriftlichkeit ben?tigt wird. F?r einige wenige ist Schriftlichkeit noch eine Kunst, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen k?nnen--Redenschreiber, Texter und Verleger, vielleicht auch noch Romanschriftsteller und Lehrer. Sie kennen die Regeln des korrekten Sprachgebrauchs und wenden sie an. Die Methoden, mit denen man die Wirksamkeit einer Botschaft aus dem Munde von Politikern, Fernsehschauspielern, Gesch?ftsleuten, Aktivisten und manch einem anderen erh?ht, der seinerseits einen Schreibkundigen ben?tigt, geh?ren zu ihrem Gesch?ft. Wieder anderen erm?glichen diese Regeln, den Reichtum von Literatur und Dichtung, Geschichte und Philosophie zu erforschen. F?r die grosse Mehrheit hingegen ist Schriftlichkeit lediglich eine Fertigkeit unter vielen, die man zwar auf weiterf?hrenden Schulen und Hochschulen erwerben kann, die aber l?ngst nicht mehr als notwendiger Bestandteil des gegenw?rtigen und, wichtiger noch, zuk?nftigen Lebens angesehen wird. Die Mehrheit, vielleicht 75% der Gesamtbev?lkerung, geht davon aus, dass alles lebensnotwendige Wissen gespeichert und allgemein zug?nglich ist--Mathematik in den Kaufhauskassen oder im Taschenrechner, Chemie im Waschpulver, Physik im Toaster, Sprache auf den Gl?ckwunschkarten f?r alle denkbaren Gelegenheiten, bzw. als Rechtschreibprogramm oder Formulierungshilfe in den Textverarbeitungsprogrammen.
Vier Gruppen zeichnen sich ab: diejenigen, f?r die Schriftlichkeit eine Kunst ist; diejenigen, die sich mit den auf Schriftlichkeit gr?ndenden Werten n?her besch?ftigen; diejenigen, deren Leben in einer Welt vorgefertigter Sprachwerke abl?uft; und diejenigen, die jenseits der Begrenzungen der Schriftlichkeit t?tig sind, die Erkenntnisgrenzen ausdehnen, neue Mittel und Methoden der Kommunikation und Interaktion entwickeln und ihre Identit?t in einem praktischen Handeln finden, das durch h?here Effizienz gekennzeichnet ist. Diese vier Gruppen haben sich aus den Ver?nderungen der Lebensbedingungen in der allgemein als postindustriell bezeichneten Gesellschaft ergeben. Der f?r unsere Zeit des fundamentalen Umbruchs typische Konflikt vollzieht sich im Bereich der Schriftkultur; genauer: in der Ver?nderung, die auf ein Stadium jenseits der Schriftkultur hinausl?uft.
Es ist auf den ersten Blick schwer zu sagen, ob die Sprache als Instrument von Kontinuit?t und Dauerhaftigkeit deshalb versagt, weil der Rhythmus unseres Daseins sich seit der Industriellen Revolution st?ndig beschleunigt hat, oder ob der Rhythmus unseres Daseins sich beschleunigt hat, weil menschliche Interaktion nicht mehr von Sprache abh?ngig war. Es ist also nicht genau zu sagen, ob die Beschleunigung des Lebensrhythmus auf Ver?nderungen der Sprache und Sprachbenutzung zur?ckzuf?hren ist, oder ob die Ver?nderungen der Sprache diese Beschleunigung einfach nur widerspiegeln. Offenkundig ist, dass Bilder, vor allem diejenigen der interaktiven Multimedien, und der vernetzte Austausch umfangreicher Datenkorpora einer schnellebigen Gesellschaft angemessener sind als Texte, deren Lekt?re mehr Zeit und Konzentration erfordert. Weniger offenkundig ist, ob wir Sprachen und syn?sthetische Ausdrucksmittel verwenden, weil wir schneller und damit effizienter sein wollen, oder ob wir schneller und effizienter sein k?nnen, wenn wir solche Mittel verwenden. Die k?rzeren Zeitr?ume der menschlichen Interaktion und z. B. der ver?nderte Status der Familie h?ngen zusammen: ebenso wie die neue politische Rolle des Individuums in der modernen Gesellschaft mit diesen Merkmalen der Interaktion zusammenh?ngt. Aber auch hier wissen wir nicht genau, ob die neue sozio?konomische Dynamik das Ergebnis unseres bewussten Wunsches nach beschleunigter Interaktion ist oder ob die beschleunigte Interaktion nur den Hintergrund einer umfassenderen Ver?nderung unserer Lebensbedingungen darstellt. Ich glaube, dass eine dramatische Ver?nderung in der Skala der Menschheit und in der Beziehung zwischen den Menschen und ihrer nat?rlichen und kulturellen Umwelt diese neue sozio?konomische Dynamik erkl?ren kann.
Aufgeladene Schriftkultur
Sprachen sind wie alle anderen Ausdrucks- und Kommunikationsformen nur bedeutungsvoll in dem Mass, in dem sie Teil unseres Daseins sind. Wenn man nicht weiss, wie die W?rter geschrieben werden, die sich auf unser Dasein beziehen, nehmen wir an, dass beim Schreibenlernen irgend etwas nicht mehr richtig funktioniert, normalerweise der Sch?ler. Nat?rlich ist Schriftlichkeit mehr als Rechtschreibung. Also sucht man nach Gr?nden: die Schule, die Familie, neue Lebensgewohnheiten wie ausgiebiger Fernsehgenuss, die Lekt?re von Comics, die manische Besessenheit bei Computerspielen, das Surfen im Internet, um nur einige der offenkundigen Schuldzuweisungen zu nennen. Unsere Kultur, Vorurteile oder auch die Furcht vor dem Unbekannten lassen uns vor der Frage, ob Rechtschreibung wirklich noch notwendig ist, zur?ckschrecken. Und eine geradezu feige Konformit?t h?lt uns davon ab, die m?glichen Defekte einer Sprache oder schriftsprachlicher Erwartungen zu hinterfragen, die wir hinter allen bekannten politischen Programmen festmachen k?nnen, die uns vor jeder Wahl ins Gesicht geschleudert werden. Wo Schreibweise und Aussprache z. B. so wenig zueinander im Einklang stehen wie etwa im Englischen, hat das dazu gef?hrt, dass das Alphabet ?berpr?ft und alternative Alphabete bzw. alternative Kunstsprachen entwickelt wurden. Aber auch in Sprachen, die konsequentere Beziehungen zwischen Aussprache und Schriftsprache aufweisen, ist Rechtschreibung heute ein Problem.
Unsere ererbte Ehrfurcht vor der Sprache l?sst aus stillschweigenden Vermutungen ?ber und aus Erwartungen an die Leistung der Schriftkultur unver?nderliche Wahrheiten werden. So setzen wir z. B. als selbstverst?ndlich voraus, dass eine gute Sprachbeherrschung die Erkenntnisf?higkeit f?rdert, obwohl wir wissen, dass kognitive Abl?ufe nicht direkt auf Sprachlichkeit zur?ckzuf?hren sind. Auch geht man allgemein davon aus, dass gebildete Menschen eines jeden Landes besser miteinander kommunizieren und fremde Sprachen leichter erlernen k?nnen. Das ist keineswegs immer der Fall. In Wahrheit sind Sprachen aufgeladene Systeme von Konventionen, in denen in erheblichem Masse nationale Vorlieben und Vorurteile aufgehoben sind und durch Sprache, Schrift und Lekt?re verbreitet werden. Solche an die Sprache herangetragenen Erwartungen f?hren zu wohlwollenden, wiewohl strittigen Feststellungen der Art "Man kann eine Sprache nur dann verstehen, wenn man wenigstens zwei versteht" .
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