Read Ebook: Jenseits der Schriftkultur — Band 2 by Nadin Mihai
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Ebook has 609 lines and 45170 words, and 13 pages
Als ein hochzivilisiertes Land ist Deutschland fest entschlossen, den barbarischen Teil seiner Vergangenheit hinter sich zu lassen. Der Klarheit halber sei gesagt, was ich unter barbarisch verstehe: Hitler-Deutschland verdient keinen anderen Namen, ebensowenig wie alle anderen ?usserungen von Aggression, Antisemitismus und Rassismus, die noch immer nicht der Vergangenheit angeh?ren. Aber bis heute hat man nicht verstanden, dass eben jene pragmatische Struktur, die die industrielle Kraft Deutschlands begr?ndete, auch die destruktiven Kr?fte beg?nstigte. Das wiedervereinigte Deutschland ist bereit, in einer Welt mit globalen Aufgaben und globalen Problemen Verantwortung zu ?bernehmen. Es setzt sich unter anderem f?r den Schutz des tropischen Regenwaldes ein und zahlt f?r Werte--den Schutz der Umwelt--statt f?r Produkte. Aber die politischen F?hrer Deutschlands und mit ihnen grosse Teile der Bev?lkerung haben noch nicht begriffen, dass der Osten des Landes nicht unbedingt ein Duplikat des Westens werden muss, damit beide Teile zusammenpassen. Differenz, d. h. Andersartigkeit, ist eine Qualit?t, die sich in Deutschland keiner grossen Wertsch?tzung erfreut. Verlorene Chancen sind der Preis, den Deutschland f?r diese preussische Tugend der Gleichmacherei bezahlen muss.
Die englische Originalfassung dieses Buches wurde 1997 auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt und in der Folge von der Kritik wohlwollend aufgenommen. Dank der grossz?gigen Unterst?tzung durch die Mittelsten-Scheid Stiftung Wuppertal und die Alfred und Cl?re Pott Stiftung Essen, f?r die ich an dieser Stelle noch einmal Dank sage, konnte dann Anfang 1998 die Realisierung des von Beginn an bestehenden Plans einer deutschsprachigen Ausgabe konkret ins Auge gefasst werden. Und nachdem Prof. Dr. Norbert Greiner, bei dem ich mich hier ebenfalls herzlich bedanken m?chte, f?r die ?bersetzung gewonnen war, konnte z?gig an die Erarbeitung einer gegen?ber der englischen Ausgabe deutlich komprimierten und st?rker auf den deutschsprachigen Diskussionskontext zugeschnittenen deutschen Ausgabe gegangen werden. Einige Kapitel der Originalausgabe sind in der deutschsprachigen Edition entfallen, andere wurden stark ?berarbeitet. Entfallen sind vor allem solche Kapitel, die sich in ihren inhaltlichen Bez?gen einem deutschen Leser nicht unmittelbar erschliessen w?rden. Ein Nachwort, das sich ausschliesslich an die deutschen Leser wendet, wurde erg?nzt.
Die deutsche Fassung ist also eigentlich ein anderes Buch. Wer das Thema erweitern und vertiefen m?chte, ist selbstverst?ndich eingeladen, auf die englische Version zur?ckzugreifen, in die 15 Jahre intensiver Forschung, Beobachtung und Erfahrung mit der neuen Technologie und der amerikanischen Kultur eingegangen sind. Ein Vorzug der kompakten deutschen Version liegt darin, dass die j?ngsten Entwicklungen--die so schnell vergessen sein werden wie alle anderen Tagesthemen--?Fortsetzungen? meiner Argumente darstellen und sie gewissermassen kommentieren. Sie haben wenig miteinander zu tun und sind dennoch in den folgenden Kapiteln antizipiert: Guildos Auftritt beim Grand Prix d?Eurovision , die entt?uschende Leistung der deutschen Nationalmannschaft bei der Fussballweltmeisterschaft , die Asienkrise, das Ergebnis der Bundestagswahlen, der Euro, neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie, die j?ngsten Arbeitslosenzahlen, die ?kosteuer und vieles mehr. Wer sich der M?he einer gr?ndlichen Lekt?re des vorliegenden Buches unterzieht, wird sich auf diese Entwicklungen einen eigenen Reim machen k?nnen, sehr viel besser als die Mediengurus, die uns das Denken abnehmen wollen. Zumindest wird er ?ber die wortreichen Artikel halbgebildeter Akademiker und opportunistischer Journalisten schmunzeln, die allzeit bereit sind, anderen zu erkl?ren, was sie selbst nicht verstehen.
Wuppertal, im November 1998
Mihai Nadin
Kapitel 1:
Von den Zeichen zur Sprache
Sprachen sind, ebenso wie die jeweiligen Schriftkulturen und die auf ihnen gr?ndende Bildung, untereinander sehr verschieden. Die Unterschiede gehen weit ?ber Wortklang, Alphabet, Buchstabenfolge und Satzstrukturen hinaus. Manche Sprachen weisen nuancierte Unterscheidungen f?r Farben, Formen, Geschlechtsbezeichnungen, Mengenbezeichnungen und Naturph?nomene auf, w?hrend allgemeine Aussagen nur schwer in ihnen zu formulieren sind. Wir wissen aus der Anthropologie, dass eine Sprache die jeweilige Lebenswelt ihres eigenen Sprachraums lexikalisch differenzierter widerspiegelt als andere Sprachen. Die verschiedenen Bezeichnungen f?r Schnee in Eskimosprachen oder f?r Kamel im Arabischen sind gel?ufige Beispiele. Sprachen kategorisieren die Wirklichkeit. Und eine Sprache erscheint umso fremder, je fremder dem Betrachter die in ihr erfasste Wirklichkeit ist. So f?hrt auch die Beherrschung der chinesischen Sprache , zu etwas anderem als die Beherrschung etwa des Englischen oder eines afrikanischen Stammesdialekts. Schon diese Beispiele zeigen, dass die praktische Erfahrung, durch die eine Sprache hervorgebracht wird, Teil des allgemeinen pragmatischen Handlungsraums des Menschen ist.
Eine abstrakte Sprache gibt es nicht. Doch trotz der zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen den Sprachen ist die Sprachf?higkeit der gemeinsame Nenner der Spezies homo sapiens und ein konstitutives Element der Dynamik dieser Spezies. Wir sind unsere Sprache. Die Feststellung, dass die Sprache dem Leben folgt und es nachbildet, trifft nur die halbe Wahrheit. Denn zugleich bildet sich auch in der Verwendung der Sprache das Leben heraus. Beide beeinflussen sich gegenseitig, letztlich h?ngt der Mensch von jenem pragmatischen Handlungszusammenhang ab, innerhalb dessen er seine biologische Struktur in den praktischen Akt der Selbstdefinition ?bertr?gt.
Die Gr?nde f?r Ver?nderungen im dynamischen Zustand einer Sprache k?nnen wir aus jenen Bereichen erschliessen, die Sprache hervorgebracht haben, die Unterschiede in der Sprachverwendung hervorgerufen und die Anl?sse f?r Ver?nderungen der Lebensumst?nde gegeben haben. Die Notwendigkeit zur Ver?nderung und die Kr?fte, die die Ver?nderung tragen, d?rfen dabei nicht verwechselt werden, obwohl die Trennung zwischen ihnen nicht immer ganz leicht ist. Ver?nderte Arbeitsgewohnheiten und Lebensformen sind ebenso wie die Sprache, die sie ausdr?ckt, an den pragmatischen Rahmen unserer best?ndigen Selbstkonstituierung gebunden. Noch immer verf?gen wir ?ber zehn Finger--eine Strukturgegebenheit des menschlichen K?rpers, die sich in das Dezimalsystem ?bertragen hat--, aber das bin?re Zahlensystem ist heute vermutlich vorherrschend. Das besagt nichts anderes, als dass neue W?rter immer dann gepr?gt werden, wenn die Umst?nde dies erfordern, und der Vergessenheit anheimfallen, wenn sie nicht l?nger ben?tigt werden. Oft erm?glichen neue W?rter und neue Ausdrucksformen erst neue Lebens- und Arbeitsformen; sie bilden dann nicht nur Leben ab, sondern ?ffnen ihm m?gliche Entwicklungswege.
Die Sprache erlaubt dem Menschen erlernbare und kulturell tradierbare Organisationsformen, die ihn vom instinktiven Verhalten des Tieres unterscheiden. ?ber den Ursprung der Sprache ist damit noch nichts gesagt, und nichts dar?ber, warum die instinktive und genetisch vererbte Organisationsform der Tierwelt f?r die sprachlich vermittelte Organisationsform des Menschen weder hinreicht noch dieser gleichwertig ist. Sprache ist mehr als ein blosser Archivierungsort, sie ist ein Mittel zum Entwurf von Wirklichkeit, ein Instrument zur Hervorbringung neuer Instrumente und deren Evaluierung.
Doch wir m?ssen Sprache in einem noch allgemeineren Rahmen betrachten. Sprachen entwickeln sich wie die Menschen, die sie benutzen. Auch das Aussterben von Sprachen gibt Aufschluss dar?ber, wie das Leben einer Sprache an das Leben derer gebunden ist, die sie entwickelt und erforderlich gemacht und schliesslich durch andere Mittel ersetzt haben. Die anthropologische, arch?ologische und genetische Forschung, die sich mit den vorsprachlichen Stadien menschlichen Lebens befasst, konzentriert sich auf die Gegenst?nde, die man f?r primitive Verrichtungen verwendete. Aus diesem Zusammenhang wissen wir recht zuverl?ssig, dass vor der Entwicklung relativ stabiler und repetitiver Strukturen die Menschen Laute und k?rpersprachliche Formen der Mimik und Gestik einsetzten, und zwar wohl ziemlich genau so, wie wir es heute von Kleinkindern kennen. Aus den fr?hen Stadien der Menschheit ist ein reicher Fundus an Handlungsmustern und Verhaltenscodes ?berliefert, die durchaus eine gewisse Koh?sion aufweisen. Unsere Vorfahren aus grauer Vorzeit entwickelten bereits f?r den Zweck der Nahrungsversorgung und als Reaktion auf Ver?nderungen in den Lebensbedingungen, die sich auf die Ern?hrungs- und Schutzbed?rfnisse auswirkten, bestimmte regelhafte Verhaltensformen.
In vorsprachlicher Zeit fungierten Werkzeuge offenbar auch als Zeichen und Kommunikationsmittel. Viele Wissenschaftler glauben allerdings, dass die Erfindung von Werkzeugen ohne W?rter, also vor der Existenz von Sprache, nicht m?glich war. Ihnen zufolge sind die zur Herstellung von Werkzeugen und die zur Herausbildung des werkzeugmachenden Menschen erforderlichen kognitiven Prozesse sprachlicher Natur. Das Werkzeug als Verl?ngerung des Arms stelle eine Art von Verallgemeinerung dar, die nur durch Sprache m?glich wurde. Es k?nnte aber durchaus sein, dass nat?rliche Formen der "Notation" der Sprache vorausgingen. Solche Notierungen d?rfen auch als Extension der biologischen Gegebenheiten des Menschen gelten und entsprechen einem kognitiven Entwicklungsstand und einer Existenzskala, die auf die Herausbildung von Sprache hinf?hrte.
Die vorliegenden Erkenntnisse ?ber die Entstehung von Schriftsystemen lassen nachvollziehen, wie sich lautliche und gestische Muster zu graphischen Darstellungen entwickelt haben, und zugleich auch, wie mit dem Entstehen der Schrift neue Erfahrungshorizonte und eine breitere Skala menschlicher T?tigkeit erschlossen wurden. Entsprechende R?ckschl?sse k?nnen wir auch aus aussterbenden Sprachen ziehen, die weniger wegen ihrer Grammatik oder Phonetik interessant sind als wegen des erkennbaren Zusammenhangs, der zwischen ihnen und einer entsprechenden Erfahrungswelt, einer zugrundeliegenden biologischen Struktur und der Skala der menschlichen Erfahrungen und ihrer Ver?nderungen besteht.
Der hier getroffenen Unterscheidung zwischen vorsprachlicher Notation, Sprachentstehung, Entstehung von Schriftsystemen und aussterbenden Sprachen entspricht ein Unterschied zwischen Arten und Typen menschlicher Ausdrucksweise, Interaktion und Interpretation von allem, was die Menschen zur Anerkennung der sie umgebenden Wirklichkeit heranziehen. Auf sich oder andere aufmerksam zu machen erfordert noch keine Sprache. Hierf?r reichen Laute, Gesten k?nnen das Signal verst?rken. In jedem artikulierten Laut und in jeder Geste projiziert sich der Mensch auf irgendeine Weise. In H?he, Timbre, Umfang und Dauer eines Lautes bleibt Individualit?t bewahrt; Gesten k?nnen langsam oder schnell, z?gernd oder aggressiv oder in einer Mischung von alldem ausgef?hrt werden. Wird aber ein bestimmter Laut oder eine Lautfolge bzw. eine bestimmte Geste oder Gestenfolge auf die Bezeichnung eines bestimmten Gegenstandes festgelegt, so wird aus diesem stabilisierten Ausdruck das, was wir im Nachhinein ein Zeichen nennen.
Wiedersehen mit semeion
Das Interesse an menschlichen Zeichensystemen reicht bis weit in die Antike zur?ck. Doch heute verzeichnen wir ein verst?rktes Interesse an Fragen der Semiotik, jener Disziplin, die sich mit Zeichen besch?ftigt. Der Grund hierf?r liegt in der rasanten Zunahme von Ausdrucks- und Kommunikationsformen, die nicht mehr auf die Mittel der nat?rlichen Sprache zur?ckgreifen. Auch die Interaktion zwischen Menschen und immer komplexer werdenden Maschinen hat semiotische Fragen ganz neuer Art aufgeworfen.
Die Sprache--in m?ndlicher und schriftlicher Form--ist wohl das komplexeste Zeichensystem, das wir kennen. Das Wort Sprache bezieht sich zwar auch auf andere Zeichensysteme, stellt aber keineswegs eine Synthese aller dieser Zeichensysteme dar. Den Entwicklungsprozess der Sprachlichkeit k?nnen wir als eine fortschreitende Projektion des Individuums auf seine Lebensumwelt verstehen. Das Zeichen Ich als Bezeichnung der eigenen Individualit?t--die sich von anderen Ichs unterscheidet, mit denen man kooperiert, konkurriert oder k?mpft--k?nnen wir wahrscheinlich als erstes Zeichen voraussetzen. Es bestand zusammen mit dem Zeichen f?r das andere; denn Ich kann nur in Relation zu dem anderen definiert werden. In einer als das andere erfahrenen Welt zeichneten sich Einheiten ab, die entweder gef?hrlich und bedrohlich, hilfreich oder kooperativ waren. Solche qualifizierenden Eigenschaften konnte man nicht einfach zum Identifikationsmerkmal machen. Sie stellten Projektionen des Subjekts dar, das seine Umwelt erkannte, interpretierte oder fehldeutete.
Um meine These von der pragmatischen Natur von Sprache und Schriftlichkeit zu belegen, muss ich mich noch etwas n?her mit dem vorsprachlichen Stadium befassen. Mein Interesse beschr?nkt sich dabei auf die Natur der Sprache, was indes ihre Entstehung und die Bedingungen daf?r mit einschliesst. Auf das, was wir gemeinhin als Werkzeug bezeichnen, und auf rudiment?re Verhaltenskodes habe ich bereits hingewiesen. Es gibt f?r dieses Stadium gen?gend historisch gesichertes Material und eine ganze Reihe bekannter Tatsachen , die sich auf dieses Stadium ausgewirkt haben. Schlussfolgerungen aus Lebensformen, die denen ?hneln, die wir f?r die fr?hen menschlichen Lebensformen halten, erg?nzen unser Wissen dar?ber, wie sich Zeichen als Ausdruck einer Identit?t herausgebildet haben. Diese Zeichen bilden eine Objektwelt ab und dr?cken daneben eine Bewusstheit von einer Welt aus, die durch die biologische Veranlagung des Menschen erm?glicht wurde.
Allgemein wird Sprechen verstanden als Erkl?rung von Gedanken mittels Zeichen, die f?r diesen Zweck entwickelt wurden. Gleichzeitig wird das Denken als seiner Natur nach von W?rtern und Zeichen unabh?ngig verstanden. Meiner Meinung nach ist der ?bergang vom Natur- zum Kulturzustand, d. h. von Reaktionen auf nat?rliche Reize zu Reflexion und Bewusstheit, durch Kontinuit?t und Diskontinuit?t gleichermassen gekennzeichnet. Die Kontinuit?t liegt in der biologischen Struktur, die in den Interaktionsraum des Menschen mit ?hnlichen oder un?hnlichen Einheiten ?bertragen wurde. Die Diskontinuit?t ergibt sich aus Ver?nderungen in der Gehirngr?sse, des aufrechten Gangs und der Funktion der H?nde. Das vorsprachliche Stadium ist seiner Natur nach unmittelbar. Das diskursive Stadium, das den manifesten Gedanken erm?glicht, ist durch Sprachzeichen vermittelt.
Die Zeichen, mit denen die Menschen des vorsprachlichen Entwicklungsstadiums ihre Wirklichkeit in ihren Existenzrahmen ?bertrugen, dr?ckten durch die ihnen eigene Energie und Plastizit?t das aus, was die Menschen damals waren. Sie brachten vor allem das zum Ausdruck, was im anderen--in anderen Gegenst?nden oder anderen Lebewesen--als gleich erfahren wurde, und Gleichheit war allen Zeichen gemein. Direkte Interaktion und Unmittelbarkeit, Aktion und Reaktion waren vorherrschend. Das Unerwartete oder Verz?gerte war das Unbekannte, Mysteri?se. Die Skala des menschlichen Lebens war klein. Jedes Geschehen, jeder Vollzug bestand aus wenigen Schritten und war von begrenzter Dauer. Zeichen der Gegenw?rtigkeit, einer allen gemeinsamen Raum- und Zeiterfahrung, wurden zum Ausdruck der Interaktion. Zeichen bezogen sich auf das Hier und Jetzt des gemeinsam erfahrenen Lebens und dr?ckten auf unmittelbare Weise Dauer, N?he und Intervalle aus, lange bevor sich die heutigen Vorstellungen von Raum und Zeit herausgebildet haben. Mithilfe solcher Unterscheidungen durch Zeichen konnte Abwesendes oder Bevorstehendes angedeutet bzw. die Dynamik sich wiederholender Vorg?nge ausgedr?ckt werden. Nach diesen fr?hen Formen des Selbstausdrucks erst konnte die Darstellungsfunktion von Zeichen entwickelt werden: ein hoher Schrei, der nicht nur Schmerz ausdr?ckte, sondern vor einer Gefahr warnte, die Schmerz bewirken konnte; ein erhobener Arm, der ?ber die Bekundung von Pr?senz hinaus Aufmerksamkeit forderte; Farbe auf der Haut nicht nur als Ausdruck der Freude an einer Frucht oder Pflanze, sondern als Ank?ndigung und Antizipation bevorstehender ?hnlicher Freuden--kurz, Anweisungen, ja sogar Instruktionen, die man befolgen, lernen und nachahmen konnte.
Als Teil des auf diese Weise zum Ausdruck Gebrachten entwarfen die Individuen in der Verwendung des Ausdrucks nicht nur sich selbst, sondern auch ihre auf diese begrenzte Welt bezogene Erfahrung. Zeichen, die Bez?ge zu Ereignissen herstellten , stellten nicht nur diese Ereignisse dar, sondern dr?ckten gleichzeitig die mit anderen gemeinsame Erfahrung in der Lebenswelt aus. Erfahrungsaustausch ?ber das Hier und Jetzt hinaus, also der ?bergang von direkter und unmittelbarer zu indirekter und vermittelter Interaktion, bezeichnet den n?chsten kognitiven Entwicklungsschritt. Er konnte vollzogen werden, als gemeinsam verwendete Zeichen auf eine allen gemeinsame Erfahrung bezogen wurden und sich daraus Regeln ergaben, nach denen neue Zeichen f?r neue Erfahrungen erzeugt werden konnten. Jedes Zeichen ist ein biologisches Zeugnis ?ber seinen eigenen Entstehungsprozess und ?ber die Skala der menschlichen Erfahrung. Das Fl?stern erreicht einen, vielleicht zwei Zuh?rer, die nahe beieinander stehen. Ein Schrei entspricht einer anderen Skala. Insofern birgt jedes Zeichen seine eigene Geschichte in Kurzform und vollzieht den Br?ckenschlag vom Natur- zum Kulturzustand des Menschen.
Abfolgen, etwa die Aufeinanderfolge von Lauten oder sprachlichen ?usserungen, oder Zeichenverkn?pfungen wie in Bildern lassen eine h?here Stufe der kognitiven Entwicklung erkennen. Die Beziehungen zwischen solchen Abfolgen oder Verkn?pfungen und der sie hervorbringenden praktischen Erfahrung sind nicht mehr intuitiver Art. Aus dem Verst?ndnis solcher Zeichenbeziehungen praktische Regeln abzuleiten, geh?rte zu den wesentlichen Interaktionserfahrungen der Benutzer solcher Zeichensysteme. An einem sp?teren Entwicklungspunkt ist die unmittelbare Erfahrungskomponente nur noch indirekt in der Sprache gegenw?rtig. Sprache ist nachgerade das Ergebnis dieser Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Zeichen zu den Beziehungen zwischen Zeichen. In ihrer primitivsten Form war Grammatik nicht ein System von Regeln ?ber die Zusammensetzung von Zeichen oder dar?ber, wie Zeichen etwas bezeichnen , sondern dar?ber, wie bestimmte Umst?nde neue Zeichen entstehen liessen, die ihre Erfahrungsqualit?t beibehielten--also Pragmatik.
Sprache entwickelte sich folglich als eine Vermittlungsinstanz zwischen stabilisierter Erfahrung und Zukunft . Die Zeichen bewahrten zun?chst die Konkretheit des Anlasses, der sie hervorbrachte. Mit zunehmender Sprachbenutzung jedoch wurde die unmittelbare individuelle Projektion aufgegeben. Der Verallgemeinerungsgrad der Sprache insgesamt wurde viel gr?sser als derjenige ihrer einzelnen Komponenten oder irgendwelcher anderer Zeichen. Doch selbst auf dieser allgemeinen Ebene der Sprache behielt das Zeichensystem seine charakteristische pragmatische Funktion bei: n?mlich die Herausbildung praktischer Erfahrungen, nicht die Bereitstellung von Mitteln f?r die gemeinsame Kategorisierung von Erfahrungen. In jedem Zeichen und mehr noch in jeder Sprache treffen biologische und artifizielle Aspekte aufeinander. Dominiert das biologische Element, vollziehen sich Zeichenerfahrungen als Reaktionen. Dominiert das kulturelle Element, wird die Zeichen- oder Spracherfahrung zu einer Form der Interpretation, also zu einer Fortsetzung der semiotischen Erfahrung. Jegliche Interpretation entspricht dem unabschliessbaren Prozess der ausdifferenzierenden Abtrennung vom Biologischen und ist gleichbedeutend mit der Herausbildung von Kultur. Unter dem Begriff der Kultur verstehen wir die Natur des Menschen und ihre Objektivierung in Erzeugnissen, Organisationsformen, Gedanken, Haltungen, Werten und Kunstwerken.
Die praktische Erfahrung der Zeichenbildung--von der Verwendung von Zweigen, Felsbrocken und Pelzen bis zu den ersten primitiven Gravierungen , von Lauten und Gesten bis zur Sprachartikulation--trug zu Ver?nderungen des Lebensalltags bei und damit letztlich zur Ver?nderung des Menschen. In einer von inhaltsschweren Details gekennzeichneten Welt, in der die Menschen ihre Identit?t durch Kampf um Lebensressourcen und in der kreativen Suche nach besseren Alternativen fanden, ver?nderte sich zwar nicht die verf?gbare Information, aber die lebenspraktischen Implikationen der Details traten zunehmend ins Bewusstsein. Die Aneignung von Wissen vollzog sich durch dessen Anwendung in der Arbeit; jede daraus abgeleitete Erfahrung er?ffnete neue Interaktionsmuster.
Zeichen erm?glichten die kollektive Teilhabe an der Erfahrung. Die genetische ?bermittlung von Wissen lief relativ langsam ab. Sie beherrschte die Anfangsstadien der menschlichen Entwicklung, als der Mensch den Mustern seiner nat?rlichen Umgebung seine eigenen Handlungsmuster einpr?gte. Die semiotische, insbesondere die sprachliche, Wissensvermittlung verl?uft schneller, kann indes die Vererbung nicht ersetzen. Wir k?nnen die Spuren des menschlichen Lebens etwa 2,5 Millionen Jahre zur?ckverfolgen, die der Sprachanf?nge etwa 200000 Jahre. Formen der Landwirtschaft als etablierte Erfahrung und Lebensform entwickelten sich vor etwa 19000, Schriftformen vor etwa 5000 Jahren . Den immer k?rzeren Zyklen der Menschheitsentwicklung entspricht dabei die Tatsache, dass neben den genetischen zunehmend auch andere Mittel am Entwicklungsprozess beteiligt waren. Was wir heute als unsere geistigen F?higkeiten bezeichnen, ist das Ergebnis eines relativ kurzen, komprimierten Entwicklungsprozesses. Erste Zeichenspuren Zeichen k?nnen aufgezeichnet werden--in und auf unterschiedlichsten Materialien; das gleiche gilt f?r die Sprache, die indes nicht in Form eines Schriftsystems entstand. Der Ishango Knochen aus Afrika ist einige tausend Jahre ?lter als jedes Schriftsystem; mit den Quipu-Schn?ren nahmen die Inkas eine chronologische und statistische Erfassung von Menschen, Tieren und Waren vor; auch in China, Japan und Indien kannte man Aufzeichnungsmethoden, die der Schriftlichkeit vorausgingen.
Die polygenetische Herausbildung von Schriftsprache ist in mancherlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen bot sie eine neue, vom individuellen Sprecher losgel?ste Vermittlungsinstanz. Zum zweiten schuf sie einen im Vergleich zum m?ndlichen Ausdruck h?heren Allgemeinheitsgrad, der unabh?ngig von Zeit, Raum und anderen Aufzeichnungsmethoden war. Und drittens trug alles, was in Zeichen und dar?ber hinaus in ausformulierte Sprache hineinprojiziert wurde, zur Formation von Bedeutung bei--als Ergebnis des Verstehens von Sprache, das sich aus ihrer Verwendung ergab. Erst dadurch erhielt die Sprache ihre semantische und syntaktische Dimension.
Wenn wir Fragen der Schriftkultur und der Sprachentstehung verkn?pfen, dann ist deren gemeinsame Grundlage die Schriftsprache. Gleichwohl geben uns Vorg?nge, die der Schriftsprachlichkeit vorausgingen, Aufschl?sse dar?ber, welche Faktoren die Schriftsprache erforderlich machten und warum manche Kulturen niemals eine Schriftsprache entwickelt haben. Dies wiederum k?nnte trotz des weit zur?ckliegenden Zeitrahmens erkl?ren, warum Schreiben und Lesen nicht notwendigerweise unser heutiges und zuk?nftiges Leben und Arbeiten beherrschen m?ssen. Zumindest k?nnten wir das Verh?ltnis zwischen Mensch, Sprache und Dasein besser verstehen. Wir betrachten das Wort als etwas selbstverst?ndlich Gegebenes und fragen uns, ob es je einen Menschen ohne Wort gegeben hat. Als das Wort aber erst einmal durch die M?glichkeit seiner Aufzeichnung etabliert war, beeinflusste es nicht nur die zuk?nftige Entwicklung, sondern auch das Verst?ndnis der Vergangenheit.
Das Wort bem?chtigt sich der Vergangenheit und verleiht den Erkl?rungen, die die Existenz des Wortes voraussetzen, ihre Legitimit?t. Es beruht auf einem Notationssystem, das zugleich eine Art eingebautes Ged?chtnis und ein Mechanismus f?r Assoziationen, Permutationen und Substitutionen ist. Wenn wir aber die Urspr?nge des Lesens und Schreibens so weit zur?ckverlegen, dann erweist sich der Gegensatz von Schriftlichkeit und Schriftlosigkeit als Strukturmerkmal nur einer der zahlreichen menschlichen Entwicklungsperioden. In einer so weiten zeitlichen Perspektive widerspricht unsere Auffassung von Notation dem logokratischen Sprachmodell. Ein- und mehrsilbige Sprachelemente, h?rbare Lautfolgen sowie nat?rliche Mnemotechniken sind dem Wort vorausgehende Komponenten einer vorsprachlichen Notation. Sie entsprechen allesamt einem durch direkte Interaktion gekennzeichneten Entwicklungsstadium. Sie beziehen sich auf eine kleine Skala menschlichen Handelns, in welcher Zeit und Raum noch in Form nat?rlicher Strukturen eingeteilt werden k?nnen.
Der entscheidende Entwicklungsschritt in der Selbstkonstituierung des Menschen wurde mit dem ?bergang von aus der Natur ausgew?hlten Zeichen zum Bezeichnen vollzogen, ein Prozess, der zu etablierten Klangmustern und schliesslich zum Wort f?hrte. Diese Ver?nderung f?hrte lineare Beziehungen in einen sich als zuf?llig oder chaotisch darbietenden Bereich ein. Auch entwickelten sich neue Formen der Interaktion: Namensgebung , Ordnen und Z?hlen oder die Aufzeichnung von Regelm?ssigkeiten , soweit sie sich auf das Ergebnis praktischer T?tigkeiten auswirkten.
Skala und Schwelle
Auf den vorangegangenen Seiten ist der Begriff der Skala als wichtiger Parameter der Menschheitsentwicklung wiederholt verwendet worden. Da er f?r die Erkl?rung grosser Ver?nderungen im menschlichen Handeln von zentraler Bedeutung ist, soll er etwas n?her erl?utert werden. So geht die Entwicklung von pr?verbalen Zeichen zu Notationsformen und in unserer Zeit von Alphabetismus zu einem Stadium jenseits der Schriftlichkeit einher mit einer Fortentwicklung der Skala des Menschen. Reine Zahlen--etwa dar?ber, wie viele Menschen in einem bestimmten Gebiet leben oder in einem bestimmten praktischen Erfahrungszusammenhang interagieren, die Lebensdauer von Menschen unter bestimmten Bedingungen, Sterblichkeitsrate, Familiengr?sse--sagen dabei wenig oder gar nichts aus. Nur wenn Zahlen zu Lebensumst?nden in Beziehung gesetzt werden k?nnen, sind sie aufschlussreich. Der Begriff der Skala dr?ckt derartige Beziehungen aus.
So brachte die Haltung von Haustieren, die eine entscheidende Erweiterung der Handlungsskala bedeutete, mit sich, dass bestimmte Tierkrankheiten auf die Menschen ?bertragen wurden und deren Leben und Arbeit nachhaltig beeintr?chtigten. Der Schnupfen wurde wohl vom Pferd auf den Menschen ?bertragen, die Grippe vom Schwein, die Windpocken vom Rind. Auch wissen wir, dass sich ?ber einen l?ngeren Zeitraum gesehen Infektionskrankheiten negativ auf grosse, station?re menschliche Populationen auswirken. Wichtige Erkenntnisse liefern uns bisweilen auch jene isolierten Volksst?mme, deren heutige Lebensformen denen aus weit zur?ckliegenden Entwicklungsstadien noch weitgehend ?hnlich sind, also zum Beispiel die Indianerst?mme des Amazonas. Sie weisen Anpassungsstrategien auf, die wir ohne Anschauung kaum verstehen k?nnten. Die aus der Beobachtung gewonnenen statistischen Daten k?nnen dabei unsere auf dem Wissen um biologische Mechanismen beruhenden Modelle deutlich verbessern.
Der Begriff der Skala bezieht derartige ?berlegungen mit ein, denn er erhellt, dass sich die Lebenserwartung in unterschiedlichen pragmatischen Lebenszusammenh?ngen drastisch unterscheidet. Eine Lebenserwartung von weniger als 30 Jahren erkl?rt sich aus den Umst?nden der relativ station?ren Bev?lkerung der J?ger und Sammler. Etwa zwanzig Jahre h?her lag die Lebenserwartung in den Siedlungsformen vor den St?dtegr?ndungen . Die Landwirtschaft f?hrte zu mannigfaltigeren Ressourcen und setzte eine Dynamik aus geringerer Sterblichkeitsrate, h?herer Geburtenrate und ver?nderten anatomischen Merkmalen in Gang.
Im vorliegenden Zusammenhang sind besonders die Ergebnisse der auf alte Sprachfamilien gerichteten Sprachgeschichte interessant, die eine Beziehung zwischen der Verbreitung von Sprachfamilien ?ber weite Gebiete und einer sich ausweitenden landwirtschaftlichen Bev?lkerung erkennen l?sst. Mit der sogenannten neolithischen Revolution entwickelten sich in manchen Gemeinschaften Methoden der Nahrungsproduktion, die nicht mehr auf Suche, Jagd und Fallenstellen beruhten. Die ver?nderten Bedingungen beg?nstigten einen Bev?lkerungszuwachs, der sich wiederum auf die Beziehungen zwischen den Individuen und kleineren sozialen Gruppen auswirkte. Einzelne Gruppen l?sten sich vom Stamm los, um nach einem Lebensumfeld mit geringerem Konkurrenzkampf um Lebensressourcen zu suchen. Zugleich aber f?rderten die neuen pragmatischen Bedingungen eine erh?hte Bev?lkerungsdichte, mit der die Natur der Beziehungen komplexer wurde.
Uns interessiert die Richtung, die diese Entwicklung nahm, und das Zusammenspiel der vielen daran beteiligten Faktoren. Vor allem wollen wir wissen, auf welche Weise Skala und Ver?nderungen in den praktischen Lebenserfahrungen der Menschen zusammenh?ngen. Setzt eine Entdeckung oder Erfindung eine Ver?nderung der Skala voraus oder bewirkt sie, gegebenenfalls im Verbund mit anderen Faktoren, diese Ver?nderung erst? Polygenetische Erkl?rungen solch komplexer Entwicklungen wie diejenigen, die neue Erfahrungsebenen, damit wiederum erh?hte Bev?lkerungszahlen und diversifizierte Interaktionsformen erm?glichen, f?hren viele Variablen ins Feld. Ausweislich arch?ologischer und sprachwissenschaftlicher Forschungen sind alle grossen Sprachfamilien dort zu verorten, wo der pragmatische Lebenszusammenhang landwirtschaftlicher Lebensformen nachzuweisen ist. Zuverl?ssige Belege finden sich f?r zwei Gebiete in China: das Becken des Gelben Flusses, wo der Anbau von Futterhirse nachgewiesen ist, und das Yangtse-Becken, in dem Reis angebaut wurde. Von hier aus verbreiteten sich die austronesischen Sprachen tausende von Kilometern weit. Hieraus ergibt sich die interessante Korrelation zwischen der Natur der menschlichen Erfahrung, der sie erm?glichenden Skala und der Verbreitung von Sprache. ?hnliches gilt f?r das Gebiet von Neuguinea, wo die Verbreitung der Papuasprachen in Verbindung mit dem Anbau der Taroknolle steht: mit der Suche nach geeigneten Anbaugebieten und den Auseinandersetzungen mit umherstreifenden Volksst?mmen.
Angeborene F?higkeiten kennzeichneten ein Entwicklungsstadium, in dem sich der Mensch in Gruppen oder Gemeinschaften mit begrenzter Skala organisierte. Andere, nicht angeborene F?higkeiten wie Pflanzen, Kochen, H?ten, Singen und die Verwendung von Werkzeugen werden bewusst und aus der Kenntnis ihrer Ursache heraus entwickelt. Sie ergaben sich, als Ver?nderungen der Skala bez?glich Bev?lkerung und Leistung neue, der Gemeinschaft angemessene und allein durch die angeborenen F?higkeiten nicht zu erreichende Effizienzebenen erforderten. Solche F?higkeiten entwickelten sich schnell. Die neue Praxis f?rderte modifizierte Mittel der Selbstorganisation: rudiment?re Formen des Planens, Reduktionsstrategien zum ?berleben und Koalitionsbildungen, die sich auf immer h?heren Ebenen entfalteten. An einem bestimmten Punkt der Skalenentwicklung schliesslich ergaben sich differenzierte Arbeitsabl?ufe und neue kognitive M?glichkeiten zur Bewahrung und Vermittlung von Wissen, das sich auf diese Arbeitspraxis bezog.
Es bleibt die Frage: Bringen Strukturver?nderungen eine neue Skala hervor, oder bewirkt die Skala Strukturver?nderungen? Der Prozess ist komplex insofern, als die dem menschlichen Handeln zugrundeliegende Struktur den Bed?rfnissen des ?berlebens angepasst und auf die zahlreichen Faktoren abgestimmt ist, die die individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen beeinflussen. Skala und Grundstruktur sind voneinander abh?ngig. Das ergibt sich schon daraus, dass die Skala sowohl M?glichkeiten als auch Bed?rfnisse erfasst. Eine gr?ssere Zahl von Individuen mit einander erg?nzenden F?higkeiten haben bei komplexen Handlungszielen gr?ssere Erfolgsaussichten. Zugleich nehmen die Bed?rfnisse zu, da diese Individuen nicht nur ihre Person in den Erfahrungszusammenhang einbinden, sondern auch ausserhalb dieser Zusammenh?nge liegende Verpflichtungen. Die Grundstruktur menschlichen Handelns umfasst Elemente der menschlichen Begabung--die ihrerseits Ver?nderungen unterworfen ist, die sich aus neuen Herausforderungen und Lebensumst?nden ergeben--wie auch Elemente der menschlichen Beziehungen, die wechselseitig die Skala menschlicher Erfahrung beeinflussen und von ihr beeinflusst werden. Aus der dynamischen Spannung zwischen Skala und all jenen Elementen, die die Grundstruktur ausmachen, ergeben sich Ver?nderungen des pragmatischen Handlungsrahmens. Die Entwicklung der Sprache ist ein Beispiel f?r derartige Ver?nderungen. Gesprochene Sprache entwickelte sich zusammen mit den Fr?hformen der Landbewirtung als Erweiterung der f?r die Jagd und das Sammeln von Nahrungsmitteln erforderlichen Kommunikationsmittel. In einem sp?teren Entwicklungsstadium bildeten sich Notationssysteme und fortschrittlichere Werkzeuge heraus. Die hierdurch erm?glichte fortgeschrittenere praktische Erfahrung f?rderte handwerkliche F?higkeiten und damit spezialisiertere Arbeitsformen. Notation und Lesef?higkeit als neue kognitive Erfahrungen f?hrten zur Schrift. Diese wurde erforderlich, als sich die Lebenspraxis auf Handel verlegte und ?ber die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt und des direkten Miteinander hinausging. Die Grundstruktur der Schriftlichkeit wurde der Sequentialit?t der allgemeinen praktischen Erfahrungen sowie der Empfindung von Relationen und Abl?ufen in h?chstem Masse gerecht.
Unterschiedliche Kommunikationsformen entwickelten sich mithin in dem Masse, in dem sich die Interaktionsskala des Menschen auff?cherte. Die Schriftkultur entsprach dabei einem qualitativ neuen Entwicklungsstand. Wenn wir die Sprache jener Skala zurechnen, die den ?bergang vom J?ger- und Sammlerstadium zur Landbewirtschaftung markiert, dann m?ssen wir die Entstehung von Schriftkultur der n?chsten Entwicklungsstufe zurechnen--der Herstellung von Produktionsmitteln. Wir k?nnen in diesem Zusammenhang auf die Metapher der kritischen Masse bzw. der Schwelle zur?ckgreifen. Damit ersetzen wir nicht den Begriff der Skala, damit definieren wir einen Wert, eine Komplexit?tsebene oder einen neuen Attraktor . Kritische Masse bezeichnet dabei eine niedrigere Schwelle--bis zu diesem Wert vollzog sich menschliche Interaktion optimal mittels referentieller Zeichen, auf Gleichheit basierender Darstellungen oder Sprache. Auf der niedrigeren Schwelle k?nnen sich Individuen und die sozialen Gruppen, denen sie angeh?ren, noch koh?rent definieren. Allerdings macht sich eine gewisse Instabilit?t geltend: ein und dieselben Zeichen dr?cken nicht mehr ?hnliche oder ?quivalente Erfahrungen aus. Hier bezieht sich kritische Masse auf Zahl oder Menge und auf Qualit?t . ?berkommene Mittel erweisen sich aufgrund neuartiger praktischer Erfahrungen als unzureichend. Aus diesen Erfahrungen ergeben sich neue Strategien, insbesondere die Optimierung der betreffenden Zeichensysteme . Notationssysteme wurden erforderlich, als das verf?gbare und aufzubewahrende Wissen die M?glichkeiten der m?ndlichen ?berlieferung ?berstieg. Der Begriff der kritischen Masse hilft uns zu erkl?ren, warum einige Kulturen niemals eine Schriftkultur entwickeln mussten oder warum eine einzige, allein vorherrschende Form der Schriftkultur unserer heutigen Zeit nicht mehr angemessen ist.
Zeichen und Werkzeuge
Auf die Natur gerichtete praktische Erfahrungen beinhalteten die Erkenntnis von Unterschieden: ver?nderte Farben zu verschiedenen Jahreszeiten, die Vielfalt von Flora und Fauna, Ver?nderungen des Wetters und der Himmelskonstellationen. Menschliche Bed?rfnisse objektivieren sich in Jagd und Nahrungssuche, Fischfang und Schutzsuche sowie in der Suche nach dem anderen, ob aus Geschlechtstrieb oder dem Zwang zur Kooperation. Auf die Vielfalt der Natur reagiert der Mensch mit einer Vielfalt von elementaren Operationen. Daraus erwuchs zun?chst eine einfache Sprache aus Handlungen. Sie kannte keinen wirklichen Dialog. In der Natur kann Schreien und Kreischen in einer bestimmten begrenzten Abfolge Gefahr signalisieren. Ansonsten kann die Natur menschliche Zeichen, Bilder oder Laute nicht verstehen. Zum Anlocken oder Fangen von Beute oder zur Vermeidung von Gefahren k?nnen Ger?usche, Farben oder Formen dienen. Ihre unbegrenzte Variations- und Kombinationsm?glichkeit in einem gegebenen Handlungsrahmen macht sie zu Zeichen. Vor dem Hintergrund erkannter Unterschiede wurden auch ?hnlichkeiten in Erscheinungsform und Handlungsweisen bewusst, was sich in entsprechenden Interaktionsformen niederschlug. Sobald sich die Erfahrung innerhalb einer sozialen Gruppe stabilisiert hatte, wurde sie ihrerseits zeichenhaft und als solche koh?rent in deren Handlungsrahmen eingebunden.
Elementare Formen der Lebenspraxis bewahrten eine enge Bindung zwischen dem Individuum und dem Objekt, auf das sich die Handlung bezog. Extraktion dessen, was vielen Aufgaben gemeinsam war, f?hrte zu einer Akkumulation von Erfahrung. Und mit der Erfahrung stellte sich eine gewisse Distanz zwischen Individuum bzw. Gruppe und Aufgabe ein. Die Sprache aus Handlungen ver?nderte sich in diesem Prozess unaufh?rlich. Evaluation begann als Vergleich. Daraus ergaben sich Vorlieben, Wiederholungsmuster und Auswahlverfahren, bis sich schliesslich eine bestimmte Handlungsvorschrift herausbildete. Die Interpretation nat?rlicher Muster bez?glich des Wetters , der gejagten Tiere, der Suche nach Wurzeln und Knollen oder der Landwirtschaft ergab ein Repertoire der beobachteten Merkmale und allm?hlich eine Beobachtungsmethode. Die beobachteten Ph?nomene wurden auf ihre Relevanz gepr?ft und wurden so zu Zeichen. Sie bezogen den Beobachter mit ein, der sie sich einpr?gte und mit zweckdienlichen Handlungsmustern assoziierte. Diese Form des Lesens--also die Beobachtung aller m?glichen Muster und Assoziationen bez?glich der sich stellenden Aufgaben--ging den Notationsformen und der Schrift voraus und war vermutlich die eigentliche Grundlage f?r deren allm?hliche Herausbildung. Dieses Lesen filterte das Relevante heraus, jenes Charakteristikum--eines Tieres, einer Pflanze, einer Wetterlage--, das die erfolgreiche Bew?ltigung einer Aufgabe beeinflusste. Die Sprache aus Handlungen gewann folglich an Koh?renz und entwickelte st?ndig neue Zeichen. Rituale stellen eine Art kollektiven Bewusstseins dar, einen Kalender sui generis als Ausdruck eines impliziten Zeitbewusstseins. Sie sind ein Lernmittel und helfen, die auf die Arbeit bezogenen Zeichen zu verstehen und unter ver?nderten Umst?nden die entsprechenden Handlungsstrategien zu befolgen. Die Einheit von Natur und Mensch wird im Ritual unabl?ssig bekr?ftigt.
Werkzeuge sind "Verl?ngerungen" der menschlichen Physis. Sie sind die entscheidenden Mittel zur Erreichung eines Ziels. Zeichen hingegen sind Mittel der Selbstreflexion und ihrer Natur nach Kommunikationsmittel. Auch Werkzeuge k?nnen als Zeichen interpretiert werden und dadurch die selbstreflektive Natur des Menschen ausdr?cken, allerdings auf andere Weise. Sie sind ?ber ihre Funktion definiert, nicht etwa hinsichtlich der Bedeutung, die sie in einem Kommunikationszusammenhang heraufbeschw?ren k?nnten.
In diesen Fr?hstadien der Menschheit markierte die Zeichenbenutzung den ?bergang vom Zuf?lligen zum Systematischen. Die Verwendung von Werkzeugen und die relativ uniforme Struktur der sich stellenden Aufgaben f?hrte zu einem Methodenbewusstsein. Werkzeuge bekunden den geschlossenen und homogenen Charakter des pragmatischen Handlungsrahmens auf dieser primitiven Entwicklungsstufe. Der Synkretismus von Werkzeugen und Zeichen findet seinen Nachklang in der synkretistischen Natur der daraus hervorgegangenen Zeichen der praktischen Erfahrung. Was wir heute als Religion, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Ethik entwickelt haben, ist in nuce auf undifferenzierte, synkretistische Weise im Zeichen repr?sentiert. Mit der Beobachtung von repetitiven Mustern wurden auch m?gliche Abweichungen erkannt. Indem die Menschen diese Erfahrung in komplexe Zeichen ?bertrugen, wurde sie verstehbar und eindeutig und konnte ?ber die Zeiten hinaus bewahrt werden.
Wir sollten uns solche Kategorien wie Synkretismus, Verst?ndnis, repetitive Muster als Kategorien des praktischen Handelns vergegenw?rtigen. Ein Zeichen kann aus einem einfachen Rhythmus bestehen. Es sollte selbst unter ung?nstigen Umst?nden leicht zu erkennen sein . Die Menschen sollten daraus die gleichen Reaktionen ableiten k?nnen . Vor allem muss die Eindeutigkeit ?ber die Zeiten hinaus erhalten bleiben. Mit der Mannigfaltigkeit der praktischen Erfahrungen wuchs auch die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Sprachstufen. Rhythmus, Farbe, Form, K?rperausdruck und Bewegung als Erfahrungsbestandteile des t?glichen Lebens wurden in Rituale eingebunden. Gegenst?nde wurden als das gezeigt, was sie sind--Tierk?pfe, Geweihenden und Krallen, ?ste und Baumst?mme, aufgeborstene Felsbrocken. Sie wurden bearbeitet mit Feuer, Wasser und scharfen Steinen, die sich zum Hauen und Schneiden eigneten.
Der Mensch wird zum Menschen, indem er seine eigene Natur konstituiert. Zu diesem Vorgang geh?rt die Externalisierung bestimmter Charakteristika, damit sie im Rahmen der sich herausbildenden Kultur von allen geteilt werden k?nnen. Wir wissen, dass es eine Trennung zwischen der Welt auf der einen und dem denkenden Subjekt auf der anderen Seite nicht gibt. Die Menschen finden ihre Identit?t und die ihrer Gattung durch Vergleich, durch Erkennen von ?hnlichkeiten und Unterschieden. Diese beziehen sich auf ihre Existenz; die gemeinsame Bewusstmachung dieser ?hnlichkeiten und Unterschiede ist Teil der menschlichen Interaktion. Insofern wird die Welt im Augenblick ihrer Entdeckung konstituiert. Die Dynamik zwischen Identit?t und Unterscheidung macht auch deutlich, warum Sprache etwas anderes ist als das "Abbild unserer Gedanken". Sprache ist auch mehr als der Akt ihrer Verwendung. Wir schaffen unsere Sprache genau so, wie wir uns unabl?ssig selbst schaffen. Dieses sch?pferische Tun vollzieht sich nicht in einem leeren Raum, sondern im pragmatischen Handlungsrahmen unserer gegenseitigen Beziehungen und Abh?ngigkeiten. Der ?bergang von Direktheit und Unmittelbarkeit zu Indirektheit und Vermittlung und den damit verbundenen Vorstellungen von Raum und Zeit spiegelt sich in mancherlei Hinsicht im Entstehungsprozess der Sprache. Die Herausbildung von Zeichen, ihre Funktionsweise, die Entstehung von Sprache und die Entwicklung der Schrift verweisen auf die Selbstbestimmung und die Selbstbewahrung des Menschen, so wie sie sich im praktischen Akt der Selbstkonstituierung der menschlichen Gattung ergeben.
Kapitel 2:
Von der M?ndlichkeit zur Schriftlichkeit
Wenn wir im Verein mit zahlreichen Sprachhistorikern die Anf?nge der Sprache mit den fr?hen Formen der Landwirtschaft korrelieren, so heisst das, dass wir von einer pragmatischen Grundlegung der Sprache als Praxis ausgehen. Sprache ist nicht nur passiver Zeuge bei der dynamischen Entfaltung der menschlichen Gattung. Die Vielfalt der praktischen Erfahrung spiegelt sich in der Sprache und ist durch die praktische Erfahrung der Sprachbenutzung erst erm?glicht worden. Die Anf?nge der Sprache wie die der Schrift liegen im Bereich des Nat?rlichen. Daher m?ssen wir auch die biologischen Umst?nde, unter denen der Mensch mit seiner Aussenwelt in Beziehung tritt, mit ber?cksichtigen. Die praktische Erfahrung der Selbstkonstituierung durch Sprache ist zugleich die Grundlage der Kultur. Der Akt des Schreibens ist wie der Akt der Werkzeugherstellung grundlegend f?r eine Spezies, die ihre Natur selbst definiert. Daher m?ssen wir neben der biologischen Identit?t des Menschen die kulturschaffenden Aspekte gleichermassen ber?cksichtigen.
Wir wollen zun?chst betrachten, welche Implikationen sich aus dem biologischen Faktor ergeben. Wir wissen zum Beispiel, dass die Zahl der Laute, die der Mensch erzeugen kann, sehr hoch ist. Aus dieser praktisch unbegrenzten Zahl von Lauten sind indes nur etwa vierzig in den indogermanischen Sprachen identifizierbar, im Gegensatz zum Chinesischen und Japanischen. Es ist zwar nicht m?glich, zu zeigen, wie der biologische Zuschnitt des einzelnen und die Struktur seiner Erfahrung in das Sprachsystem projiziert sind; dennoch w?re es unklug, diese Projizierung, die sich in jedem Moment unseres Daseins vollzieht, nicht in Rechnung zu stellen. Beim Sprechen werden Muskeln, Stimmb?nder und andere anatomische Funktionselemente aktiviert und entsprechend ihren Merkmalen verwendet. Zum Sprechen geh?rt das H?ren, beim Schreiben und Lesen kommt noch das Sehen hinzu. Weitere dynamische Merkmale wie Augenbewegung, Atmung und Herzschlag geh?ren zu den biologischen Implikationen der Sprachverwendung. Was wir sind, tun, sagen, schreiben oder lesen, steht in einem unaufl?slichen Zusammenhang. Die Erfahrungen, auf deren Hintergund sich die Sprachverwendung vollzieht, und die biologischen Eigenschaften derer, die in eine Sprache eingebunden sind, sind dabei so unterschiedlich, dass kaum je ein Ereignis, so einfach es sich auch gestalten mag, von verschiedenen Menschen durch Sprache auf identische oder ?hnliche Weise ausgedr?ckt wird.
Erste Erkundungen der Geschichte oder das pers?nliche Fragen nach dem Verlauf vergangener Ereignisse beruhen auf M?ndlichkeit, beziehen den Mythos mit ein und m?nden schliesslich in den Versuch, Ereignisse an Ort und Zeit zu kn?pfen. Die ersten Logographen rekonstruierten die Genealogien von Personen, die in tats?chliche Ereignisse verwickelt waren oder in der zeitgen?ssischen Literatur hervorgehoben wurden . Als der Mensch aus dem Stadium der Erinnerung in das Stadium des fixierten Berichts fortschritt, entwickelte er ein Bewusstsein von Zeit und Geschichtlichkeit. Der gemeinsame Bezug auf Ereignisse machte dabei zugleich Unterschiede im Verh?ltnis zu diesen Ereignissen bewusst.
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