Read Ebook: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Aesthetik by B Lsche Wilhelm
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F?r die Freiheit des Willens, von der wir ausgegangen sind, ist jedenfalls -- m?gen wir nun physiologisch oder psychologisch zu unsern Resultaten gekommen sein -- in dem Bestehen der durch Gewohnheit gegrabenen Gedankenstrassen ein bedenkliches Hinderniss gegeben. Der Wille ist Endergebniss eines nicht gest?rten, bis zu einer gewissen Intensit?t angeschwollenen Gedankens, -- wenn der Gedanke aber in seinem Flusse sich in den meisten F?llen einem gegrabenen Bette anschmiegen muss, so kann in allen diesen von einer Freiheit des endlichen Willens keine Rede mehr sein, und man braucht noch gar nicht auf jene oben erw?hnten, ganz reflectorisch gewordenen Willensacte zur?ckzugehen, um auf Schritt und Tritt diesen einfacheren hemmenden Einfl?ssen zu begegnen.
Die wichtigste Frage scheint also, um hier Klarheit zu schaffen, die nach der Natur der Gewohnheit zu sein. Es gilt festzustellen, was sich unter diesem Begriffe, der die Willensfreiheit in so frappanter Weise bedroht, f?r einzelne Factoren verstecken und ob in dem einen Worte, das der Gebrauch selbst geschaffen, nicht Verschiedenartiges sich birgt. Gewohnheit ist, so haben wir physiologisch definirt, langsame Einpr?gung einer bestimmten Furche im Gehirn, die durch eine l?ngere Folge gleichartiger Wahrnehmungen erzeugt wird. Woher kommt eine derartige Gleichartigkeit der Wahrnehmungen? Zun?chst aus der Einrichtung der Natur, die uns trotz der unendlichen F?lle ihrer Erscheinungen doch gewisse Ph?nomene in ewiger Regelm?ssigkeit wiederkehren l?sst, die best?ndig gleiche Wahrnehmungen in uns hervorrufen. In zweiter Linie aber aus einem Umstande, der den Culturmenschen mit verschwindenden Ausnahmen fest und unerbittlich umklammert h?lt: der Erziehung. Wir sind nicht neu geschaffene Wesen, die bloss die Natur sich gegen?ber haben. Wir geh?ren einer Gesellschaft an, die ebenfalls aus Menschen mit einem, dem unsern ?hnlichen Denkapparate besteht. Wir sind jung, die Tafel unseres Gehirnes ist noch kaum beschrieben. Jene Menschen, die vielleicht unsere Erzeuger, jedenfalls als Erwachsene unsere Meister sind, sind in ihrem Denken bereits erf?llt mit jenen festen Linien, jenen Geleisen des Gewohnten, und sie f?hlen sich wohl dabei. Ihr Bem?hen geht dahin, in unser Gehirn dieselben Linien zu pr?gen. Unf?hig, unmittelbar zu wirken, beschreiten sie den Umweg durch die wiederholten Wahrnehmungen, aber in der Weise, dass sie bestimmte Wahrnehmungen -- eben jene, die ihren Gedankenlinien die bequemen sind -- ausw?hlen und uns so lange einseitig vorf?hren, bis sich in unserm Gehirn die gleiche Linie, wie bei ihnen, gebildet hat und wir ihre wahren geistigen Kinder sind. Mit andern Worten heisst das: wir erhalten die grosse Masse unserer gewohnheitsm?ssigen Gedanken durch Unterricht, durch Schulung. Der Werth dessen, was uns vermittelst derselben im Gehirn eingeritzt wird, ist dabei ganz gleichgiltig, es kann die h?chste Moral oder die ?usserste Unmoral sein: von einem gewissen Puncte ab ist die Gedanken?bertragung gelungen, die Linie angelegt, und es bedarf fortan nur der leisesten Aehnlichkeit in einer Wahrnehmung mit jenen fr?heren, um sofort den ganzen Gedankenapparat nach der eingepr?gten Richtung hin in Th?tigkeit zu setzen.
Je tiefer diese Schulung geht, je reflectorischer die Ideenlinien arbeiten, desto mehr scheinen sie sp?ter urspr?nglich mit dem Individuellen verwachsen und erlangen in W?rtern, wie Gewissen, Tact und ?hnlichen, Bezeichnungen, die uns im Leben sehr oft geneigt machen, sie angeborene zu nennen, obwohl sie allem Anscheine nach durchweg erworbene, von aussen eingepr?gte sind.
Das Adjectivum >>angeboren<< aber, welches sich uns hier zwanglos in die Er?rterung einmischt, f?hrt uns unwillk?rlich auf ein Zweites, das im Begriffe der Gewohnheit, wenn auch wahrscheinlich nicht dort, wo man es vermuthete, so doch anderswo steckt.
Ein Vogel, den man im Zimmer fern von Seinesgleichen aufgezogen, zeigt bei nahendem Winter ein Bestreben, zu wandern. Hier kann nicht mehr von individueller Aneignung, von einer durch Gewohnheit erzielten Gedankenlinie, in die jedesmal beim Anblick fallenden Laubes oder sonstiger Erscheinungen des Wechsels der Jahreszeiten der Gedanke einlenkt, um schliesslich den Willen des Wanderns auszul?sen, die Rede sein. Eben haben wir gesehen, dass die Function, das best?ndige Wahrnehmen gleicher Dinge allm?hlich eine k?rperliche und geistige Disposition, ein Geleise gewissermassen, schafft, das dann beim Nachfolgenden wie ein Organ die Function bestimmt; bei diesem geborenen Zugvogel ist offenbar die Umwandlung einer bestimmten Stelle des Denkapparates schon bei der Geburt mit allen andern Organen, die im embryonalen Leben nicht durch, sondern f?r die Function entstehen, angelegt worden und tritt jetzt beim geringsten dahin zielenden Impuls mit voller Kraft in Th?tigkeit, indem sie den Vogel zwingt, beim ersten Anzeichen des Herbstes -- und sei es auch sein allererster, den er im individuellen Leben mitmacht -- eine Gedankenreihe zu verfolgen, die ihm bei menschlich klarem Bewusstsein wie eine Vision vorkommen w?rde, indem er Bilder von einem warmen Lande, wohin er wandern soll, denkt, die keine eigene Erfahrung ihm eingeben kann.
Wir haben es hier mit einer Gewohnheit secund?rer Art zu thun: -- mit vererbten geistigen Linien. Jede geistige Gewohnheit bedingt etwas k?rperliches, einerlei, ob als Ursache oder als unvermeidliche Parallelerscheinung; dass k?rperliche Ver?nderungen sich vererben, wissen wir alle; es kann in F?llen wie dem genannten nicht anders sein, als dass sich hier eine Structurverschiebung des Gehirns, eine moleculare Disposition vererbt hat, deren unzertrennliche Begleiterin die psychische Erscheinung ist, die wir sehen. Zwischen dem Gehirn jenes Vogels und dem gewaltigen Verstandesapparate des Menschen aber besteht physiologisch wie psychologisch lediglich ein Unterschied des Grades, nicht der Art, -- es fragt sich: spielen auch beim Menschen ererbte Gedankenreihen eine Rolle, die sich unter dem allgemeinen Worte >>Gewohnheit des Denkens<< verbirgt? Bei der ungeheuren Masse von Eindr?cken, die der Mensch im Gegensatz zu den meisten Thieren w?hrend der Dauer seiner individuellen Existenz empf?ngt und die trotz aller Macht der Gewohnheit gerade auf den h?heren geistigen Gebieten durchweg nicht reflectorisch werden, nicht ganz aus dem Bewusstsein verschwinden, scheint es von vornherein nicht wahrscheinlich, dass hier sehr viel vererbt werden sollte. Jedenfalls best?tigt die Erfahrung, dass Vererbung ?berwiegend dann stattfindet, wenn gewisse Gedankenketten ?ber das gew?hnliche Mass hinaus sich eingebohrt haben, also beispielsweise bei einseitigem Genie, bei krankhaft eingewurzelten fixen Ideen, also fast oder ganz abnormen Zust?nden, -- und es scheint selbst hier, als vererbten sich nicht eigentliche Gedankenlinien, sondern nur gewisse Stimmungen des Untergrundes, wenn ich so sagen soll, gewisse Weichheiten oder H?rten der Fl?che, die den sp?ter durch Erziehung herantretenden Geleisen einen ungew?hnlichen Widerstand oder ein ungew?hnliches Entgegenkommen bewiesen. In der Empf?nglichkeit des Gehirns f?r einzugrabende Linien ?berhaupt liegt ganz unbezweifelbar die eigentliche grosse Erbschaft, die der Mensch, der als solcher geboren wird, vor dem Thiere voraus hat; wer das exact beobachten will, vergleiche ein lernendes Kind mit einem lernenden Papageien. Wahrscheinlich ist dem Vogel der absolute Fortschritt gerade deshalb so erschwert, weil sein Gehirn von Jugend auf mit einer Reihe ererbter Linien durchsetzt ist, die den Boden hart gemacht haben f?r alles Neue; die wenigen ererbten Geisteslinien des Menschen, der Mangel an Instincten, w?re im Lichte dieser Anschauung dann vielleicht die Wiege seiner geistigen Entwicklungsf?higkeit, indem es ihm die Tafel f?r das Lernen frei hielte. Dass darum gewisse Instincte, ganz oder beinah reflectorische Geisteslinien, auch beim Menschen und zwar bei allen ohne Ausnahme als Erbe fr?herer, mehr thierischer Verh?ltnisse sich -- wenn auch bisweilen gleichsam versch?ttet und von den tausend Erziehungslinien ?berdeckt -- vorfinden, ist nicht zu leugnen. Stark erregte Momente, Revolutionen, Hungersnoth, best?ndiger Anblick von Blut, sexuelle Ueberreizung lassen diese Instincte gelegentlich in roher und erschreckender Weise durchbrechen, und der Mensch handelt in solchen Momenten im Banne einer d?monischen Gehirnmacht, einer entfesselten psychisch-molecularen Bewegungswelle, die unvergleichlich m?chtiger fortreisst, als alle individuell durch Erziehung erworbenen Moral- oder Unmorallinien, er handelt mit dem Instincte von Thierformen, die weit unten an der Schwelle des Menschlichen stehen und f?r uns nur noch in analogen Erscheinungen der jetzigen h?heren S?ugethierwelt zu studiren sind. Der Dichter, wie der Historiker m?ssen gerade diesen geheimnissvollen Vererbungslinien, deren Rolle im einzelnen Leben wie in der Geschichte sehr gross ist, mit Interesse nachgehen. W?nschen m?chte man, dass gewisse dauernde Errungenschaften der menschlichen Cultur -- beispielsweise die Basis der Moral, das Mitleid -- mit der Zeit bereits reine Instincte geworden w?ren, die der Einzelne mit auf die Welt br?chte. Man ist mitunter versucht, dergleichen zu glauben. Wenn ein Mensch, ohne eine Secunde zu z?gern, einem Kinde, das in's Wasser gefallen ist, nachspringt und es rettet, so scheint hier eine Geisteskette vorzuliegen, die bereits ganz reflectorisch wirkt und wohl als solche vererbt werden k?nnte.
Die Erfahrungen, die man andererseits an Kindern macht, die aus besten Bildungskreisen entspringen und doch, ehe sie durch Zucht selbst gebildet sind, nichts beth?tigen als die alten thierischen Instincte, die mit ihrem roheren Egoismus dem Mitleid gerade zuwider laufen, verhindern alle derartigen optimistisch gef?rbten Schl?sse.
Beschr?nkt, wie unsere Kenntnisse von dem ganzen Gewebe der Vererbungsfragen gegenw?rtig noch sind, m?ssen sie dem Dichter, der in ihnen das Material tragischer oder vers?hnender Verknotungen sucht, eine starke Resignation und scharfe Kritik als Grundbedingung an's Herz legen. Rechnen soll er mit der Vererbungsfrage als Ganzem, das ist sicher. Aber er soll nicht spielen damit, sich nicht muthwillig auf Gebiete begeben, die der Fackel des Forschers selbst noch verschlossen sind. Die Zukunft wird erst zeigen k?nnen, wie eigentlich diese Dinge eingreifen in's Leben des Einzelnen, wie die S?nden und Vorz?ge der Ahnen sich unmittelbar im Gehirne des Enkels r?chen. Immerhin mag heute schon der grandiose Romancyklus von Zola eine durchdachte Vorahnung f?r das Kommende darstellen. Wenn man sich aber vergegenw?rtigen will, welche zahllosen dichterischen Vorw?rfe in dem Spiel der Ideenketten, an die Schule und erste Bildung uns schmieden, enthalten sind, so kann man im Grunde nur warnen vor dem einseitigen Betonen der Vererbungsconflicte, so lange die Physiologie noch nicht in festen Gesetzen die n?thigen Pr?missen aufgestellt. Man soll sie beachten, wo man durch den Stoff nothwendig auf sie gef?hrt wird, aber sie noch nicht in den Vordergrund dr?ngen, wo es nicht durchaus n?thig ist.
Die indirecte Vererbung, das unbrauchbare Alte, das uns in unserer Bildung, durch unsere Umgebung allenthalben belastend in's Gehirn gegraben wird, tausend begabte K?pfe im Kampfe mit dem lebendigen Neuen zu Tode hetzt, uns als unechte Religion, veraltete Moral, conventioneller Humbug, historische Entartung und was sonst noch alles, den Geist tr?bt und f?r die Ziele der Gegenwart blind macht: das ist durchschnittlich weit gef?hrlicher, als die dunklen chemischen und physikalischen M?chte, die hier oder dort eine Familie in allen Phasen des Wahnsinns untergehen lassen oder an den geschlechtlichen F?higkeiten eines unschuldigen Nachkommen die sexuellen Verr?cktheiten des Urgrossvaters r?chen. Es sind harte, unerbittliche Gesetze im Einen, wie im Andern, aber im letztern Falle haben sie mehr von jener dunklen Tragic, die allem Geschehen der Natur geheimnissvoll zu Grunde liegt, im ersteren sehen wir den Kampf menschlich lebhafter und n?her vor Augen, wir f?hlen die Schmerzen, wie die Triumphe innerlich blutiger und siegesstolzer mit, weil wir mehr verstehen und st?rker durchf?hlen, dass die Sache auch einmal anders werden k?nnte durch unser Zuthun.
Ich kehre zur eigentlichen Frage zur?ck. Gewohnheit umschliesst, so haben wir jetzt gesehen, zweierlei: Ererbtes und Erworbenes. Da das Letztere wenigstens beim normalen Culturmenschen mit zunehmendem Alter unausgesetzt w?chst, so gleicht das Gehirn dieses Menschen schliesslich einer ?ber und ?ber beschriebenen Tafel, auf der sich gewisse Striche mehr und mehr verdickt haben, und die am Ende gar nichts ganz Neues mehr aufzunehmen im Stande ist, so dass der Geist wie ein geschickter Seilt?nzer mehr oder weniger nur noch die vorgeschriebenen Stangen abklettert, je nachdem dieser oder jener ?ussere Anlass bei einer der ewig bereiten Endstationen anklopft.
Eigentliches Leben in dieses an und f?r sich sehr einfache Gedankenspiel bringt aber nun eine Thatsache, die ich bisheran absichtlich vernachl?ssigt habe. Was wir durch Unterricht an festen Gedankenlinien eingepr?gt bekommen, steht weder immer im Einklange untereinander, noch mit dem, was durch die Vererbung an allgemeinen Instincten oder individuellen Neigungen in uns bereits bei der Geburt befestigt ist. Mit andern Worten: jene constanten Linien im Denkorgan kreuzen, hemmen, verwickeln sich vielfach, wodurch die einfachen Denkprocesse, die durch die M?glichkeit des Eingrabens fester Linien so bequem und bis zur Grenze des Reflectorischen glatt gemacht wurden, wiederum recht erschwert werden. Ich sehe ab von ganz krankhaften Erscheinungen. Man hat F?lle, wo eine Gedankenlinie eines Menschen von einem gewissen Puncte ab, ohne dass er sich dessen bewusst wurde, in eine ganz andere ?berging, so dass beim Versuche, den Gedankengang wieder zu geben, von einer Ecke ab jedesmal die Begriffe wie vertauscht waren. Hier waren offenbar zwei Linien in abnormer Weise verschmolzen, ein hochinteressanter, aber lediglich psychiatrischer Fall.
Ich will jetzt versuchen, an einem consequent durchgef?hrten Beispiele genau den normalen Fall von sich widersprechenden Gedankenlinien aufzudecken. Es ist das um so wichtiger, als man gerade hier, im Widerstreite der Gedankenlinien, den sch?rfsten Beweis f?r eine metaphysisch beeinflusste Willensfreiheit zu finden geglaubt hat.
Ich nehme an, einen Menschen trifft ein ?usserer Sinneseindruck, -- etwa der Anblick einer sch?nen Frau, die das Weib eines Andern ist, also ein Sinneseindruck, den das Auge in's Gehirn ?bermittelt, der dort zur geistigen Wahrnehmung wird und als solche gewisse Gedanken erregen muss, deren Lauf durch die vorhandenen Gewohnheitslinien bestimmt wird und deren endliches Resultat bei gen?gend starker Erregung ein Willensact, eine Handlung ist. Der Anblick einer k?rperlich reizenden Frau erweckt im Manne nothwendig zun?chst die Gedankenketten, die um das Geschlechtliche gelagert sind. Diese k?nnen aber sehr verschiedener Art sein, von dem einen ?rtlichen Centrum k?nnen Furchen ganz entgegengesetzter Richtung und Tiefe ausstrahlen. Nehmen wir den Fall eines Menschen, der gar keine Bildung genossen hat, aber auch, vielleicht weil er eben erst geschlechtsreif geworden ist, im Bezug auf das Geschlechtliche noch durchaus keine feste Gewohnheitsfurche im Gehirn tr?gt. Bei ihm wird der erste Gedanke h?chstwahrscheinlich die Vererbungsfurche, die den instinctiven Fortpflanzungstrieb als uraltes Erbe stets neu zeitigt, einschlagen, ein Kampf ist ausgeschlossen, da nur diese einzige Linie vorhanden ist, aber der aus der angeregten Gedankenkette hervorgehende Wille wird etwas Unklares, Reflectorisches haben, das sich d?monisch Bahn bricht, aber dem Bewusstsein selbst fast ganz entzogen ist.
Zweiter Fall: der Mensch ist ein ge?bter und geriebener Don Juan. Im Worte liegt schon enthalten, dass bei diesem Typus sich in der f?r das Geschlechtliche reservirten Gegend des Gehirns nicht bloss die instinctive Vererbungs-Furche, sondern daneben noch eine sehr tief ausgefahrene Aneignungs-Furche, ein durch Gewohnheit individuell scharf eingepfl?gtes Geleise findet, das beim Anblick des sch?nen Weibes eine grosse, aber dem Bewusstsein noch durchweg zug?ngliche Gedankenkette durchpassiren l?sst, als deren Resultat ein sicherer, auf hundert Erfahrungen gest?tzter Wille entsteht, -- der Wille zur Verf?hrung, der Wille zum geschlechtlichen Genuss, -- im Princip derselbe Wille, wie bei dem ersten Menschen, nur unendlich bewusster und dauernder. Ein Conflict findet -- moralische Bildung bei dem Typus des Don Juan ausgeschlossen -- auch hier nicht statt, die Wahrnehmung erregt nur eine einzige Ideenkette, die als Endresultat nur einen Willen kennt.
Der dritte Fall aber, an den ich jetzt herantrete, ist der weitaus interessanteste, dichterisch jedenfalls der werthvollste. Ein Mensch soll eine ordentliche moralische Bildung genossen haben, dabei aber dem Geschlechtlichen nicht so fern geblieben sein, dass es nicht auch, abgesehen von der stets vorhandenen ererbten Linie, eine gewisse Spur in seinem Gehirn zur?ckgelassen h?tte, die im Stande w?re, den Gedanken bei v?lliger Unbeeinflussung in Don Juanartige Gel?ste zu treiben. Eine Disposition, wie diese, ist unter allen die verbreitetste. Ihr Ergebniss ist im vorliegenden Falle ein innerer Kampf. Die Wahrnehmung erweckt zwei Gedankenlinien, die moralische und die schlechthin sexuelle, von denen die eine als Endergebniss einen Willen erzeugen muss, der dem der andern durchaus entgegengesetzt ist. Die Moral verbietet, was die geschlechtliche Neigung verlangt. Beide Gedankenketten erscheinen vor dem Bewusstsein, -- eine freie Wahl ist diesem aber absolut versagt; es steht als indifferenter Zuschauer vor dem Kampfe der Gedanken um den Willen. Nur ein Wille kann als Endresultat hervortreten. So lange beide Ideenketten vollkommen gleich stark sind, heben sie sich gegenseitig im Puncte des Willens auf wie Plus und Minus. Rollt der eine Gedankenzug glatt durch sein Geleise bis zur Willensstation, so ist inzwischen der andere ebenso glatt dort angekommen und die Beiden verschliessen sich gegenseitig den Ausgang. Die Entscheidung, welche Linie siegt, kann sehr lange ausstehen. Ueber ihre Veranlassung herrschen vielfach die irrigsten Vorstellungen. Man denkt sich unwillk?rlich, das Bewusstsein selbst, welches doch keinerlei mechanische Macht besitzt, k?nne durch einen metaphysischen Druck diesen oder jenen Willen zum Durchschlag bringen. Das w?re die reinste Hexerei. Die Entscheidung kommt vielmehr daher, von wo ?berhaupt alles Motorische nur kommen kann: von aussen, durch neue Wahrnehmungen, die w?hrend der Hemmung jener beiden Ketten in's Gehirn eintreten. Es fragt sich bei diesen, in welche der beiden Linien sie einlenken. Sind es zuf?llig sexuelle Eindr?cke, die mit dem Streite sonst nichts zu schaffen haben, aber nothwendig in die geschlechtliche Linie gerathen, so graben sie dort die Furche ebenso nothwendig ein Minimum tiefer, und dieses Minimum gen?gt, grob sinnlich gesprochen, um dem sexuellen Gedankenzuge im Wettlaufe zum Willensziel einen Vorsprung zu geben und damit das Resultat zu entscheiden. Umgekehrt: nahen sich zuf?llig bei schwebendem Streite neue, moralische Wahrnehmungen, so siegt die Moral auch in jenem offenen Falle. Unendlich geringe Factoren haben hier die weittragendste Bedeutung. Ein zuf?lliges Wort, ein lebhaftes Erinnerungsbild, der Anblick irgend einer Situation, die unmittelbar alle nicht das Mindeste mit dem obwaltenden Gedankenzwist in der kritischen Sache zu thun haben, entscheidet mit mathematischer Gewissheit ?ber den Sieg. In mancher bedeutenden Dichtung will es uns bei oberfl?chlicher Betrachtung fast st?rend und unlogisch erscheinen, dass lange Seelenk?mpfe pl?tzlich durch einen vielleicht sehr geringf?gigen ?usserlichen Umstand zur j?hen Entscheidung gebracht werden. Wer sicherer beobachtet hat, sieht gerade hierin den echten Spiegel des Wahren, und er wird in der Wahl jenes scheinbar geringf?gigen Umstandes bei sch?rferem Hinblick stets etwas entdecken, was indirect einem der streitenden Gedanken des Helden nicht zuf?llig, sondern nothwendig den Sieg verleihen musste, selbst wenn es gar nicht direct an die Objecte des Seelenkampfes heranreichte. Es ist nichts weiter als der Tropfen Oel, der die eine Wagenaxe in der Arena geschmeidiger macht; aber dieser Tropfen ist die weihende Spende der Nike.
Von diesem dritten Menschen giebt es tausend und abertausend Varianten. Die gegenseitige Hemmung und Beeinflussung der Gedankenketten ist es, die uns erst eigentlich das geistige Werden unserer Handlungen zum Bewusstsein bringt und verhindert, dass Impuls und Effect sich bloss reflectorisch ausl?sen. Man kann sagen, dass wir unserer Gedanken erst recht bewusst werden, wenn sie gehemmt sind und einander bek?mpfen, etwa so, wie die Meeresfl?che uns erst charakteristische Form gewinnt, wenn wir sie uns als ein Spiel sich brechender Wogen denken. Von einer freien Beeinflussung des Willens aber durch das Bewusstsein kann im buchst?blichen Sinne keine Rede sein. Wir erhalten ?ussere Eindr?cke, wir denken in gewissen vorgezogenen Linien, dieses Denken wird uns unter gewissen Bedingungen durch einen Act, dessen innerste Natur wir nicht ergr?nden k?nnen, bewusst: das ist alles. In diesen Verh?ltnissen liegen die Wurzeln unseres Gl?ckes und unserer Schmerzen, unserer Fortschritte und unserer R?ckschritte. Naturwissenschaftlich sind wir als ehrliche Beobachter gezwungen, die Bedingtheit aller menschlichen Willensacte der Art des geistigen Apparates gem?ss als eine Thatsache auszusprechen, die weder juristische noch theologische Forderungen irgendwie ersch?ttern k?nnen.
Diese Forderungen m?ssen sich mit der Thatsache abfinden. Die Genesis seiner Gedanken und Handlungen zugestanden, bleibt ja praktisch der Mensch mit lauter Gedankenketten, die im Verbrechen gipfeln, schlecht und strafbar und der Mensch, der durch den Zwang seiner Gehirnfurchen zu moralischem Denken und Thun gezwungen wird, gut.
F?r den Dichter aber scheint mir in der Thatsache der Willensunfreiheit der h?chste Gewinn zu liegen. Ich wage es auszusprechen: wenn sie nicht best?nde, w?re eine wahre realistische Dichtung ?berhaupt unm?glich. Erst indem wir uns dazu aufschwingen, im menschlichen Denken Gesetze zu ergr?nden, erst indem wir einsehen, dass eine menschliche Handlung, wie immer sie beschaffen sei, das restlose Ergebniss gewisser Factoren, einer ?ussern Veranlassung und einer innern Disposition, sein m?sse und dass auch diese Disposition sich aus gegebenen Gr?ssen ableiten lasse, -- erst so k?nnen wir hoffen, jemals zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserm Auge aufwachsen zu lassen, die logisch sind, wie die Natur.
Im Angesicht von Gesetzen k?nnen wir die Frage aufwerfen: Wie wird der Held meiner Dichtung unter diesen oder jenen Umst?nden handeln? Wir fragen zuerst: Wie wird er denken? Hier habe ich die ?ussere Ursache: was findet sie in ihm vor? Was liegt als Erbe in seinem Geistesapparate, was hat die Bildung und Uebung des Lebens darin angebahnt, welche fertigen Gedankenlinien wird jene ?ussere Thatsache erregen, wie werden diese sich hemmen oder bef?rdern, welche wird siegen und den Willen schaffen, der die Handlung macht? Ich habe das Wort >>mathematisch<< gebraucht. Ja, eine derartige Dichtung w?re in der That eine Art von Mathematik, und indem sie es w?re, h?tte sie ein Recht, ihr Phantasiewerk mit dem stolzen Namen eines psychologischen Experimentes zu bezeichnen.
Ich glaube gezeigt zu haben, wie gross unsere Unkenntniss im Einzelnen besonders bei der Vererbungsfrage noch ist. Jene Dichtung, von der ich rede, ist in ihrer Vollendung noch ein Traum. Aber das soll uns nicht hindern, r?stig am grossen Bau mitzuschaffen. Einstweilen m?ge sich vor allem die Klarheit ?ber die Hauptprobleme Bahn brechen. Der Dichter soll anfangen, sich bei der Unzahl von Phrasen etwas zu denken, die auf seinem Gebiete umherschwirren, die S?tze wie: >>Es lag in ihm so zu handeln<<, >>Die Natur brach sich gewaltsam Bahn<<, >>Er f?hlte etwas, was seinen Gedanken blitzschnell eine andere Richtung gab<< und ?hnliches, sollen ihm einen Inhalt bekommen, er soll einsehen, dass es im Geiste so wenig Spr?nge giebt, wie bei einem festen Verkehrsnetz, wo jede alte Strasse so lange wie m?glich benutzt wird und eine neue nicht von heute auf morgen gebaut wird, er soll endlich alle die grossen Namen: Schicksal, Erbs?nde, Zufall und wie sie heissen m?gen, im Einzelnen neu pr?fen und auf die Principien hin modificiren, wo es Noth thut. Ich gebe hier keine Aesthetik, sondern beschr?nke mich auf die naturwissenschaftlichen Grundlagen, es liegt mir fern, in jene Fragen n?her einzutreten, die sich daran ankn?pfen. Man sagt wohl, die Poesie werde roh und allt?glich, wenn sie sich an die Fragen der Physiologie um Auskunft wende. Wenn ich die Probleme ?berblicke, auf die der Gang dieser Studie mich gef?hrt hat, so weiss ich nicht, was das heissen soll. Diese Probleme sind die h?chsten, die ich mir denken kann. Wir stehen dicht vor der Schwelle des Ewigen, des Unerreichten, und wandeln doch noch auf dem sicheren Boden der Wirklichkeit. Giebt es einen h?heren Genuss?
Drittes Capitel.
Unsterblichkeit.
Geheimnissvolles Wort, -- Unsterblichkeit! Wer die Geschichte der Menschheit ankn?pfen wollte an die Geschichte ihrer tiefsten Tr?ume, ihres bangesten, herzbewegtesten Sehnens, der m?sste sie ankn?pfen an dieses Wort.
Es ist nicht wahr, dass dieses Wort nicht auch uns noch immer im Grunde all' unseres Denkens fortzitterte: -- die uralten Phantasieen des Volkes vom Nilstrande, in denen der Zauber desselben zuerst eine d?monische Macht geworden, sind von all' dem Alten, Verklungenen vielleicht noch das Lebendigste und greifbar Deutlichste, was mitten durch unsere junge Welt wandelt. Wir sind anders geworden, besser, freier, wir stehen nicht mehr im Morgenschein der Jahrtausende, der helle Mittag w?lbt sich ?ber uns, der grosse, helle Mittag, von dem wir noch kein Ende sehen, -- und doch -- und doch. Das Wort Unsterblichkeit ist nach wie vor eine zwingende Gewalt. Es ist die Basis aller Metaphysik in der Religion. Die Zeiten sind herum, wo die Menschheit einen Gott in Donnerwolken oder Knechtsgestalt zur Erkl?rung ihrer Sittengesetze brauchte: die Frage des ewigen Looses nach aller Zeitlichkeit fordert auch heute noch den k?hnen Flug ?ber die Grenzen des Erkannten, und wenn alle dogmatische Religion sich sonst zersetzen sollte, so wird ihre letzte lebenskr?ftige Ranke sich immer wieder emporwinden an der festen S?ule des Trostes am Grabe unserer Todten. Aber wie die meisten Fragen, die eine religi?se Bedeutung besitzen, ist auch diese zugleich auf's Engste verwachsen mit der Dichtung. Ihre Behandlung unter den Pr?missen realistischer Aesthetik und Poesie scheint mir um so dringender geboten, als die allgemeine Ansicht von der Stellung der exakten Naturwissenschaft zu ihr vielfach eine einseitige oder geradezu falsche ist. Dank einer gewissen Sorte von voreiligem und bei bestem Willen hochgradig ungeschicktem Popularisiren physiologischer Erkenntniss, hat man sich daran gew?hnt, ein Dilemma aufzustellen, das thats?chlich nicht stichhaltig ist. Man wiederholt unaufh?rlich die beiden S?tze: Entweder unsere Seelen sind unsterblich, -- -- oder mit dem Tode ist alles aus f?r ewige Zeiten und in jeder Bedeutung, -- wobei es dann als Folgerung der Wissenschaft nahe gelegt wird, dass die erste M?glichkeit in Wahrheit keine sei und die zweite als Kehrseite der andern die nothwendig richtige sein m?sse. Der Fehler liegt in dem >>entweder -- oder<<. Ich will versuchen, das exact zu entwickeln. Die moderne Physiologie ist, um den ersten Punct zun?chst allein in's Auge zu fassen, allerdings, sobald sie ehrlich sein will, gezwungen, die gew?hnlichen Vorstellungen von Unsterblichkeit s?mmtlich zu vernichten. Die Seele im Volkssinne ist f?r sie lebend wie todt ganz gleichm?ssig ein Gespenst. Das, was wir so nennen, ist ein Complex von Erscheinungen h?chst verwickelter Art, die wir unab?nderlich als Parallelph?nomene gewisser molecularer Vorg?nge finden und zwar so parallel, dass jeder molecularen Verschiebung auch eine Verschiebung des Psychischen entspricht und das so genau, dass, wie ich es im vorigen Capitel f?r ein bestimmtes Gebiet durchgef?hrt habe, schematische Bilder des psychischen Mechanismus auf den molecularen passen und umgekehrt. M?glicherweise ist jede moleculare Erscheinung in der Welt von entsprechenden psychischen begleitet, doch werden letztere uns erst bemerkbar bei einer gewissen Summirung und Ordnung der Molecularph?nomene, wie sie in der organischen und hier vor allem der h?heren organischen, der thierischen und schliesslich der menschlichen Molecularstructur sich finden. Diese h?here Structur ist lediglich ein Anordnungsproblem, eine Constructionsaufgabe, bei der einfachste Bestandtheile schliesslich den complicirtesten Bau liefern. Obwohl durch gewisse, uns zur Zeit noch verschlossene Zeugungs- und Vererbungsgesetze mit der n?chsten Generation ?hnlicher Gebilde verkn?pft, hat die einzelne Molecularpyramide, die in ihrer ungeheuren Massenanh?ufung f?r bestimmte Zwecke auch die erstaunlichsten psychischen Parallelerscheinungen aufwies, die je geleistet worden waren, doch eine endliche Dauer und zerf?llt nach einer gewissen Zeit wieder in ihre kleinen molecularen Bausteine. Letzteren Vorgang nennen wir Tod. Dass die psychischen Ph?nomene, die sich parallel mit den molecularen zu einer colossalen Gesammtleistung f?r die Dauer der molecularen Massenordnung vereinigt, im Momente des Zusammenbruchs der molecularen Pyramide ebenfalls als Ganzes verschwinden und sich in die problematischen geringsten Procents?tze aufl?sen, die m?glicherweise an jedem Einzelmolec?l haften, ist vollkommen selbstverst?ndlich. Das Schema des physiologischen Todes: Zerfallen einer kunstvollen mathematischen Figur in lose, durch das Spiel neuer Kr?fte bald nach allen Richtungen verschobene Puncte, muss sich nothwendig auch decken mit dem Schema des psychologischen Todes. Der Naturforscher muss als absolut sichere Thatsache constatiren, dass noch niemals an irgend einem Puncte der bekannten Welt psychische Erscheinungen ohne entsprechende moleculare beobachtet worden sind, und der Inductionsschluss vom Bekannten auf das Unbekannte tritt mit allem Rechte in Kraft. Das Suchen nach k?rperlosen Seelen, wie es in spiritistischen Kreisen als angebliches Problem behandelt wird, kann gerade vom methodologischen Standpuncte aus nur mit dem Eifer verglichen werden, mit dem jener ber?hmte B?rger der guten Stadt Schilda das Tageslicht vermittelst einer Mausefalle zu fangen versuchte, um es in das fensterlose Rathhaus zu ?berf?hren. Alles was in's Gebiet dieser theoretischen wie practischen Narrheiten geh?rt, kann physiologisch nicht scharf genug zur?ckgewiesen werden. Der Dichter, der hier pikante Stoffe zu finden glaubt, ist zu bedauern. Ich bin sogar der Ansicht, dass, abgesehen von den Geistererscheinungen, die keine Dichtung uns mehr im Ernste auftischen kann, der rechte Poet auf so manche kleinen Effecte verzichten soll, die man sich im Banne ?lterer Anschauungen noch gefallen liess. Wenn er einen Todten schildert, soll er nicht mehr die Reporterphrase verwenden: >>Die Mienen des Entschlafenen bezeugten den tiefen Frieden, zu dem er eingegangen.<< Die Gesichtsmuskeln werden nach eingetretenem Tode meist schlaff und geben den Z?gen etwas L?chelndes. Aber man sollte das nicht mehr als Anhaltspunct benutzen, nachdem man weiss, dass es in Wahrheit nichts besagt und eine k?rperliche Erscheinung ganz gleicher Natur wie die nachfolgenden der Verwesung ist, die kein Mensch als Effecte ausspielen m?chte.
Die strenge Wissenschaft geht ?brigens noch weiter. Sie verneint nicht nur die individuelle Fortdauer der psychischen Processe ?ber den Tod hinaus, sondern sie bedroht auch ernstlich die letzte Zuflucht der Unsterblichkeitstr?ume, die bedingte Fortdauer der V?ter in den Nachkommen. Es giebt gewisse nicht wohl anfechtbare Schl?sse, die das ewige Bestehen des Menschengeschlechts f?r die Zukunft ebenso unsicher machen, wie es auf Grund der pal?ontologischen Forschung f?r die Vergangenheit ist.
Cosmologische Erscheinungen, die theils als Ergebniss unendlich kleiner, aber unabl?ssig anwachsender St?rungen, theils in Form gr?berer Catastrophen eintreten k?nnen, sind m?glich, die den Planeten, an dessen Existenz und Temperaturh?he das organische Leben gebunden ist, g?nzlich vernichten oder doch zum Bewohnen untauglich machen k?nnen. Auch jener Fortdauer durch Zeugung ?hnlicher Nachkommen w?re damit ein Ziel gesetzt.
Das ist mit runden Worten die eine Seite der Frage. Die Antwort der Wissenschaft ist bei aller Mangelhaftigkeit unserer physiologischen Erkenntniss in diesem Falle decidirt genug, um alle leichtfertigen Tr?umereien auszuschliessen. Die Dichtung kann nichts thun, als die Thatsache annehmen, wie sie ist. Wir d?rfen weder poetisch darstellen, wie ein verstorbener Mensch aus dem Jenseits zur?ckgekommen, noch d?rfen wir ?berhaupt den Anschein erwecken, als hielten wir die psychische Existenz eines lebenden Wesens f?r etwas, was von der physiologischen Erscheinungsform so unabh?ngig w?re, dass es beim Zerfallen der Letzteren selbstst?ndig weiter existiren k?nne.
Mit Entschiedenheit muss ich mich nun aber gegen die zweite H?lfte jenes Doppelsatzes wenden. Ich frage: was will der Satz >>mit dem Tode ist Alles aus< In dem >>Alles<< steckt eine Vermessenheit, die derselbe Naturforscher, der eben die bestimmte, positive Einzelannahme eines Fortlebens der individuellen Seele zur?ckweisen musste, darum noch lange nicht kritiklos nachzusprechen gezwungen ist. In jenem >>Alles<< w?re enthalten, dass wir eine factische Kenntniss vom Wesen der ganzen Welt, wie des Individuums h?tten. Das ist nicht der Fall. Es muss ganz scharf unterschieden werden: die bestimmte psychisch-physiologische Weltansicht des Naturforschers und die Welt an sich, die Welt, die sich hinter dem Bilde verbirgt, das wir sehen. Der Naturforscher ist ein Mensch. Er sieht Dinge um sich her, so weit seine Sinnesorgane und sein Gehirn ihm das erlauben -- nicht mehr. Die sch?rfsten Beweise sprechen daf?r, dass diese Sinnesorgane und dieses Gehirn ihm nur einen ganz beschr?nkten Theil der wirklichen Welt zeigen, und es giebt eine Reihe von Puncten, die nahe zu legen scheinen, dass sogar dieser kleine Theil beeinflusst und m?glicherweise gef?lscht ist durch die feste Form seines beobachtenden und reflectirenden Organes. Da Alles, was wir gewahren, erst in unserm Centralorgan zum Bilde wird, so kann die Vermuthung nicht wohl widerlegt werden, dass die Structur dieses Organs auf die Form dieses Bildes einen Druck aus?bt; man hat mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits ausgesprochen, dass die Begriffe des Raumes, der Zeit und der Causalit?t in unserm subjectiven Weltbilde erst Wirkungen dieses Druckes w?ren und somit ?berhaupt nur in uns, nicht in der Aussenwelt existirten; man hat mit ziemlicher Sicherheit den Begriff des Stoffes in uns selbst verlegt, w?hrend von Aussen nur Krafteindr?cke kommen. Und es wird f?r den Laien am Besten erm?glicht, sich in diese k?hnen, aber nicht unbegr?ndeten Hypothesen hineinzudenken, wenn er sich an rohe Facta der Sinnenwelt h?lt und sich mit ihrer Hilfe die M?glichkeit vergegenw?rtigt. W?hrend diese Ideenkreise die F?lschung unseres Weltbildes durch unser eigenes Denkorgan als wahrscheinlich hinstellen, zwingt andererseits die Forschung selbst zur Erkenntniss fester Grenzen. Wir sind nicht im Stande, jenen Parallelismus von Psychischem und Molecularem, von dem auf diesen Bl?ttern bereits so oft die Rede gewesen ist, irgendwie zu verstehen. Wenn eine Molec?lreihe rechts schwingt beim Gef?hl des Schmerzes, links bei dem des Angenehmen, so ist damit noch keine Br?cke geschlagen von der Schwingung zum Gef?hl und wir k?nnen lediglich den nie wechselnden Parallelismus constatiren. Wenn wir den Begriff des Molec?ls zerlegen und die tieferen Geheimnisse dessen aufzudecken versuchen, was wir mechanische Kraft nennen, so verwickeln wir uns nicht aus Unkenntniss der Sachen, sondern durch offenkundiges Versagen der Logik in unl?sbare Widerspr?che. Wir k?nnen nicht umhin, ein derartiges Aufh?ren aller wissenschaftlich gangbaren Strassen als Grenze zu bezeichnen. Wir f?hlen sehr wohl, dass jenseits derselben noch sehr Viel liegt, ja, die fundamentale Kenntniss des Daseins eigentlich erst ihren Anfang nehmen w?rde, aber es ist nichts zu machen, wir k?nnen mit dem Gehirn, das wir haben, einfach nicht weiter. Ob unsere Urenkel mehr verm?gen werden, muss ihnen ihr vielleicht weiter entwickeltes Gehirn sagen, es geht uns gegenw?rtig nichts an.
Eine Wissenschaft aber, die von Grenzen, von F?lschungen ihres Weltbildes zu reden gezwungen ist, kann zwar innerhalb ihres Gebietes sehr wohl diese oder jene Thatsache als sicheres Resultat aufstellen, sie hat aber kein Recht, ihre Urtheile in der Weise zu verallgemeinern, dass sie sich f?r competent in Fragen der absoluten Welt, der Welt an sich, erkl?ren darf. Die Wissenschaft ist nicht nur berechtigt, sondern gen?thigt, ausdr?cklich festzustellen, dass so, wie sich die Welt in unsern Menschenaugen deutlich erkennbar spiegelt, ein isolirtes Fortleben der Seele einfach unm?glich ist. Mit dem Tode ist eine Kette von Ereignissen der sichtbaren Welt zu Ende. Was beweist das f?r die wirkliche Welt, jene Welt, die sich noch unabsehbar hinter unsern Erkenntnissgrenzen dehnt und von der ein ganz kleines, getr?btes Endchen in unser Sehfeld sich erstreckt? Gar nichts. Wir, die wir weder wissen, was psychische und moleculare Vorg?nge ihrem innersten Wesen nach sind, noch wie sie zusammen kommen, wir, die wir von Zielen, Zwecken, Sittlichkeit, Gesetzm?ssigkeit, Anfang, Ende, Sch?nheit oder H?sslichkeit der wahren Welt auch nicht das Geringste ahnen, wir sollten von etwas sagen, es sei zu Ende? Wir, die wir in einer Welt voll unendlicher, sich im Raum verlierender Linien, voll unendlicher Decimalbr?che, voll unendlich theilbarer K?rper leben, wir sollen von irgend einem Ding sagen: Hier ist alles aus? Eine wohlfeile Philosophie, die aus dem schwankendsten unserer Begriffe, der Materie, etwas absolutes macht, mag sich dabei beruhigen; Naturwissenschaft ist das nicht.
Ich hoffe, dass man mich richtig verstanden hat. Alles was wir Menschen sehen, ist Physisches, auch das Psychische, in so fern es stets an ein Physisches gekn?pft ist. Innerhalb dieses Physischen giebt es keine Unsterblichkeit. Aber wir haben Grund zu glauben, dass dieses Physische vor unsern Augen nicht das echte Cosmische, das eigentlich Wahre und Seiende ist, sondern bloss ein mattes und l?ckenhaftes Gleichniss desselben. Innerhalb dieses eigentlich Seienden ist allem Anschein nach das Leben, das psychische wie das moleculare, selbst etwas ganz anderes, und dort mag es Verh?ltnisse geben, die alle irdischen Conflicte l?sen, alles Schiefe vers?hnen; die Annahme kann uns nicht bestritten werden, der Naturforscher hat hier nichts mehr zu sagen. Freilich: Wissen thun wir von jener Welt an sich gar nichts, als dass sie besteht. Aber darin liegt viel. Mit ihrer Existenz haben wir einen ruhenden Punct gefunden, der ausserhalb des Irdischen liegt. Mit dem Bewusstsein eines solchen Punctes weicht die dr?ckende Schwere des Vernichtungsgedankens sowohl im Individuellen, wie im allgemeinen Erdenloos. Mag unsere Laufbahn immerhin um sein f?r die Augen, f?r das enge Gehirn der verschwindenden Menschenwelle auf dem einsamen Planeten der Sonne. +Alles+ ist damit nicht aus. Hinter dem ewig verschlossenen Vorhang wandelt ein Anderes, ein Gr?sseres, als wir. Indem der Forscher uns unerbittlich versagt, unsere Unsterblichkeitstr?ume in Bilder der sichtbaren Welt zu kleiden, er?ffnet er uns zugleich durch die Feststellung von Grenzen die Ahnung einer Welt, an die jene Tr?ume sich ungest?rt heften d?rfen. In dem Versagen jenes ersten Punctes muss er denn allerdings seine ganze Strenge walten lassen.
Wohl er?ffnet sich uns der tiefe Gedanke, dass unser Leben nicht das Absolute, nicht Leben im eigentlicheren Sinne sei, sondern nur ein seltsamer Traum, ein Wandelbild, das an uns vor?berzieht, wohl m?gen wir zugeben, dass der Tod nur eine Episode in diesem Bilde, kein wirklicher Abschluss sei. Aber das ist auch nun von der andern Seite wieder alles. Jene wahre Welt greift nicht als fremder Gott in unsere Welt ein, weder in den Offenbarungen der Religion, noch den Geheimnissen des innersten Seelenlebens, noch auch in den Idealen der menschlichen Kunst. Es giebt keine Puncte im physischen Weltbilde, das wir vor uns sehen, wo wir der Welt an sich n?her oder ferner w?ren; ?berall stossen wir bei einiger Durchdringung der Erscheinungen auf die ewige Schranke.
Gleichwohl -- selbst mit all' diesem Vorbehalt -- scheint mir der Poesie vor allem eine m?chtige St?tze in dieser Fassung des Unsterblichkeitsgedankens zu liegen. F?r sie, die stets das Ganze, das Allgemeine im Auge hat, ist das Resultat des Naturforschers, das hinter der physischen Welt eine andere, wenn auch unbekannte, nachweist, ein gewaltiger Gewinn. Dem Irdischen, das in ungel?sten Conflicten auseinandergeht, wahrt sie die Fernsicht in ein Zweites, das dahinter liegt und das zugleich unsere Erkenntnissschw?che, wie unsere Hoffnung einschliesst. Nur wenn sich die Poesie frei macht von dem gew?hnlichen, physischen Unsterblichkeitsglauben und, der Wissenschaft folgend, sich zu dem wahrhaft philosophischen Gedanken erhebt, dass diese Erscheinungen des Lebens, wie des Todes ?berhaupt nicht das wahre Wesen der Sache, sondern nur das getr?bte Bild, wie es unser Gehirn im Zwange fester Ursachen schafft, darstellen -- nur dann kann sie mit gutem Gewissen wieder gelegentlich den Schmerz der Trag?die mildern durch ein weises Betonen des tr?stenden Gedankens, dass weder mit dem Leben, noch mit dem Tode, weder mit menschlichem Gl?cke noch menschlichem Ungl?cke >>Alles aus sei.<< Und es ist dann sehr einerlei, ob sie mit Hamlet bloss unser Nichtwissen in die geheimnissschweren Worte kleidet: >>Der Rest ist Schweigen,<< oder ob sie in sieghaftem Vertrauen emporjubelt mit dem G?theschen Chor: >>Alles Verg?ngliche ist nur ein Gleichniss!<<
Viertes Capitel.
Liebe.
Weit ab von jenen geheimnissvollen Schranken des irdischen Geschehens, die wir im letzten Capitel ber?hrten, liegt mitten im Centrum der molecularen Welt der unscheinbare Ursprung dessen, was unter dem Flammenzeichen des stolzen Namens >>Liebe<< sich zum m?chtigsten Herrscher im Gesammtbereiche der Poesie aufgerungen hat. Das Wort Unsterblichkeit mit seinem Echo in den Gr?nden, >>von wo kein Wandrer wiederkehrt,<< muss seiner Natur nach den menschlichen Gedanken bis zu jenen Grenzen f?hren, die dem Forscher gestellt sind; das Wort Liebe, und mag das noch so hart hineint?nen in alle unklaren Tr?umerseelen, bedeutet in seiner Quelle, seinem Verlauf und seinen Zielen eine durchaus irdische Erscheinung.
Der Naturforscher, von dem der gewissenhafte Dichter Aufschluss verlangt ?ber die Resultate seiner unbefangenen Forschung nach der Natur der Liebesempfindung, ist gezwungen, den Fragenden vor die Anf?nge jener ungeheuren Kette zu stellen, die wir zusammenfassend die organische Welt nennen. Tief unten an den Wurzeln dieses riesigen Lebensbaumes zeigt er ihm die einfache Zelle, ein selbstst?ndiges Wesen, nicht Thier noch Pflanze -- einen Crystall aus gleichem Stoffe geformt wie alle andern, aber von allen ewig geschieden durch die Besonderheit seiner molecularen Zusammensetzung. Gesetze, ihrem Wesen nach unbekannt, wie jene, die den crystallinischen Spr?sslingen irgend einer Mutterlauge allt?glich vor unsern Augen jenes mathematisch starre Gef?ge geben, das jeder Mineraliensammlung den allgemein bekannten Charakter verleiht, erm?glichen dieser organischen Zelle eine bestimmte Art von Aufnahme fremder Stoffe, die sie wachsen lassen, und eine Zertheilung in zwei oder mehrere Individuen vom Puncte an, wo dieses Wachsthum einen gewissen, nicht n?her definirbaren Zustand der Reife erlangt hat. Wir kennen heute noch Gesch?pfe solcher einfachsten Art, deren Leben in den beiden Processen des Wachsens durch Nahrungsaufnahme, das durch das Verm?gen der Ortsbewegung unterst?tzt werden kann, und des Zerfallens in eine Anzahl neuer, kleiner Individuen, bei denen sich dasselbe wiederholt, ersch?pft zu sein scheint. Die h?chste Wahrscheinlichkeit spricht daf?r, dass sie unver?nderte Nachkommen uralter Formen sind, aus denen sich an andern Stellen durch Umwandlung die gesammte Linie der h?heren Organismen entwickelt hat. Der Begriff der Fortpflanzung bedeutet hier einfach, wie bei Mutter und Kind: Trennung. Von Liebe, von einer Vereinigung zweier Individuen ist noch keine Rede. Aber in dieser Trennung liegt bereits der erste Schritt zum Kommenden. Gewisse ?ussere Ursachen, die im Princip jedenfalls am Besten in dem Darwin'schen Gedanken von der umwandelnden Macht des Kampfes um's Dasein, der kleinste chemisch und physicalisch bedingte individuelle Neigungen im bestehenden Typus zu grossen Verwandlungen heraufz?chtet, ausgesprochen sind, f?hrten n?mlich im Laufe der Zeit eine Fortentwickelung unter den einzelligen Wesen herbei. Die einfache Zelle zerfiel unter Umst?nden in ein Dutzend Tochterzellen. Anstatt sich nun nach allen Richtungen zu zerstreuen, konnte es f?r diese n?tzlich werden, beisammen zu bleiben. Wir sehen ein Conglomerat von Zellen einer einzigen Generation, die sich wie die Haut einer Blase um einen hohlen Mittelraum gruppiren und als Ganzes in einfachster Form das Schema eines thierischen K?rpers bilden. Zwischen den Zellen entwickelt sich ein Gef?hl der Gemeinschaft -- der Freundschaft, wenn man so will. Aus der Generation von Zellen wird ein Zellenstaat, in dem die Mitglieder, selbst Spr?sslinge einer Einheit, sich gewissermassen zu einer neuen, h?heren Einheit zusammenthun. Sehr bald entwickelt sich Arbeitstheilung. Da die Nahrungss?fte durch die d?nnen Zellw?nde hindurch bei n?herem Aneinanderschliessen auf Grund physikalischer Gesetze frei circuliren, k?nnen sich einige wenige Zellen, indem sie alle Kraft darauf verwenden, ganz der Nahrungsaufnahme widmen und den ?brigen die motorischen und sensitiven Eigenschaften ?berlassen. Durch diese Theilung der Functionen entstehen Organe, das heisst bestimmte Ecken des Zellenstaates, wo Zellen bloss noch f?r eine einzige Function th?tig sind, diese aber so intensiv betreiben, dass sie f?r alle andern mit gen?gt. Am Ende ist ein h?chst verwickelter Organismus geschaffen, dessen Theile nur mehr in der Gesammtmasse existiren k?nnen, so dass der Zellenstaat ein einheitliches Wesen, ein wahres Individuum wird. Die Frage ist: wie wird die Fortpflanzung dieser complicirten Maschine vor sich gehen? Das Zerfallen in neue Individuen war eine Function der Einzelzelle. Im Zellenstaat hat diese sich bei der allgemeinen Arbeitstheilung ebenfalls derartig in gewissen Zellen localisirt, dass nur noch diese zerfallen und Abk?mmlinge des Ganzen in Gestalt einzelner Zellen entsenden. Von diesen Tochterzellen gr?ndet sp?ter jede ihren neuen Staat f?r sich, indem sie den alten Weg der Selbsttheilung einschl?gt und aus den Theilchen den Staat hervorgehen l?sst. Der Vorgang ist jetzt complicirter, aber noch immer behauptet die Trennung allein ihr Recht, wo es sich um Fortpflanzung handelt. Erst die n?chste Stufe erweitert sie zu etwas Neuem. Allenthalben bestehen Zellengemeinden, die kleine Einzelzellchen als Spr?sslinge aussenden. Es ereignet sich, dass zwei dieser Spr?sslinge -- zwei von verschiedenen Gemeinden -- auf einander stossen, sich vermischen. Jeder tr?gt das Bestreben in sich, durch Selbsttheilung einen neuen Staat zu gr?nden. Indem das Bestreben der Beiden sich vermischt, entsteht ein gemeinsamer Bau von doppelt starken Dimensionen. Wieder treten Gesetze in Kraft, die den Vortheil nicht verloren gehen lassen, es bildet sich bei einem grossen Theile der Zellenstaaten allm?hlich das Bestreben aus, seine Spr?sslinge alle sich mit je einem Spr?ssling eines andern vermischen zu lassen, um dem k?nftigen Neubau eine Doppelbasis von verst?rkter Kraft zu geben. Die Trennung des Keims vom Mutterorganismus bleibt nach wie vor; aber es folgt ihr eine Mischung, eine Vereinigung, ehe ein neuer Organismus entstehen kann.
Inzwischen, w?hrend dieser letzte Fortschritt sich anbahnte, hat die Arbeitstheilung und Organisation in den einzelnen Zellenstaaten colossale Entwickelungen durchgemacht. Es giebt Zellstaaten, die aus Millionen einzelner Zellen bestehen, welche sich um die verschiedensten Hohlr?ume in mehrschichtigen Blasen gruppiren, und jeder Keimzelle wird durch bestimmte Vererbungsgesetze auferlegt, nach Verschmelzung mit einer solchen eines andern gleichartigen Staates ein Geb?ude aufzuf?hren, das nach Kr?ften dem Mutterstaate gleichen muss. Indessen: die Welt ist gross, die gleichartigen Staaten sind oft weit von einander entfernt, die frei ausschw?rmenden Keimzellen finden sich oft nicht zueinander. Es bahnt sich ein neuer Fortschritt an. Wie einst jene ersten Tochterzellen in einem Gef?hle von Zugeh?rigkeit, von Freundschaft beisammen blieben und den Zellenstaat gr?ndeten, so vereinigen sich jetzt je zwei Zellenstaaten -- nicht um ganz zu verwachsen, sondern bloss, um ihren Keimzellen durch m?glichst g?nstige locale Bedingungen das Verschmelzen zu erleichtern. Sie treten von Zeit zu Zeit nahe zusammen, und der eine entsendet seine Fortpflanzungszellen in einen der gesch?tzten Hohlr?ume im Innern des andern, wo sie sich ungest?rt mit den Keimzellen dieses letztern verbinden k?nnen, um ihr Verschmelzungsproduct nachher von dort aus in's Freie treten zu lassen.
Der Laie, dem diese Dinge neu sind, denkt vielleicht, der Naturforscher, indem er die letzte Stufe der Zellenentwickelung schildert, stehe noch immer bei grauen Urzeiten. In Wahrheit sind wir bereits am Ziel. Der Mensch ist der h?chste und vollendetste Zellenstaat der zuletzt besprochenen Art; und zwar ist der Mann der eine, das Weib der andere. Indem sie sich geschlechtlich n?hern, vermischt sich eine Keimzelle des Mannes, die Samenzelle, mit einer Keimzelle des Weibes, der Eizelle, in gesch?tztem Hohlraum des weiblichen K?rpers, aus der Mischung der beiden Zellen entsteht der neue Zellenstaat des kindlichen Organismus, der sp?ter aus dem bergenden Leibe des Mutterstaates an's Licht des Tages tritt, um sich hier fertig auszugestalten. Bei allen Verwickelungen des Details geht durch den ganzen Zeugungsprocess ein Athem staunenswerthester Einfachheit, ein Zur?ckgehen auf die urspr?nglichsten Erscheinungen des organischen Lebens. In jenen beiden Keimzellen, der Samen- und der Eizelle, wird der werdende Organismus unter dem Bilde der anf?nglichen Einzelzelle, des Urwesens, von dem die ganze Kette abstammt, wieder angelegt, und indem der wachsende Embryo sich aus ihnen formt, durchl?uft er noch einmal die wichtigsten Stufen der ganzen Ahnenreihe in traumhaft verschwommenem Fluge. Noch einmal scheint die Natur sich durchzutasten durch die unz?hligen Erinnerungen des organischen Stammbaums, ?ber dessen einstigen lebenden Vertretern jetzt bereits der Sediment?rschutt vieler Jahrmillionen versteinernd lastet. Endlich wird der Mensch. Aber auch in ihm mischen sich Vater und Mutter noch immer so seltsam, dass man den doppelten Ursprung ahnen kann, selbst wenn wir vom Zeugungsacte gar keine Vorstellung h?tten, die Eizelle des Weibes und die Samenzelle des Mannes nie im Lichtfelde unseres Mikroskops erschienen w?ren.
Geheimnisse f?r den gegenw?rtigen Stand der Wissenschaft giebt es hier im Einzelnen die Menge, Metaphysik gar nicht. Der Parallelismus des Psychischen und Molecularen wahrt seine gew?hnliche Rolle, das Geistige zeigt sich durchaus in stufenweisem Aufbau, je nach der Entwicklungsh?he des K?rperlichen, und die menschlichen Seelenregungen ?ussern sich folgerichtig erst mit Vollendung des menschlichen Gehirns. Wer geneigt ist, den Schauer des Erhabenen besonders stark vor den Momenten der h?chsten Vereinigung des Universellen und Geschichtlichen mit dem Individuellen und Vor?bergehenden zu empfinden und dem Idealen die wissenschaftlich allein zul?ssige Bedeutung des Allgemeinen, ?ber das Einzelne als h?here Einheit Hervorragenden zu geben, der wird in den gesammten Erscheinungen des Zeugungsprocesses eine hohe, vielleicht die allerh?chste ideale Erhebung des individuell Menschlichen erblicken m?ssen und ihnen gegen?ber jene Regung st?rker als irgendwo anders empfinden. Wir verdanken den Begleitungsph?nomenen des Zeugungsgesetzes ?berhaupt, wenn nicht sogar den Sinn f?r Sch?nheit, so doch das Wichtigste, was wir sch?n nennen: die edeln Formen des Weibes in ihrer k?nstlerischen Gegens?tzlichkeit zum Manne, die Farbenpracht der organischen Natur, deren Bl?then, Federn, D?fte in ihrer h?chsten Entfaltung s?mmtlich auf geschlechtlichen Beziehungen beruhen, die reichen Gaben des Gem?thes, die sich in der Gatten- und Elternliebe durch die h?here Thierwelt ziehen, um schliesslich in den verallgemeinernden Regungen des menschlichen Mitleids ihre h?chsten Triumphe zu feiern.
Unsere grossen Dichter haben sich dementsprechend auch niemals gescheut, von den nat?rlichen Acten der Zeugung als etwas Grossartigem und im eminenten Sinne Idealem unbefangen zu reden und den Satz aufrecht zu erhalten, dass wir es in ihnen keineswegs mit einem der Sittlichkeit als >>Sinnlichkeit<< feindselig gegen?bergestellten Principe, sondern vielmehr mit der Basis aller Sittlichkeit zu thun haben. Ohne eine solche naturgem?sse Grundidee w?re beispielsweise die Gretchentrag?die des Faust, in der gerade die Tiefe und Wahrheit der Neigung bei dem Weibe, das geschlechtlich >>Echte<< das vers?hnende Element f?r alle Verletzung der Sitte abgiebt, vollkommen widersinnig. Hier wie in andern poetischen Meisterwerken liegt der Nachdruck auf dem Satze: die Liebe +muss+ auf enge geschlechtliche Vereinigung als ihr nat?rliches Ziel hinauslaufen, wenn sie wahr sein soll -- und wenn ?ussere Umst?nde gerade diese Wahrheit des Gef?hls zur Trag?die gestalten, so ist sie selbst dann noch immer gr?sser als eine Unwahrheit im gleichen Falle w?re, so gut wie Wallenstein, obwohl er tragisch endet, gr?sser bleibt, als Einer, der in seiner Lage anders handelte; der ganze Begriff der Trag?die rankt sich eben um die Wahrheit auf.
Diese Anschauungen unserer grossen Dichter, die viel genannt, aber weniger gelesen werden, sind jedoch keineswegs die gleichen wie die einer ungeheuren Masse kleiner Dichter, die weniger genannt, aber verm?ge ihrer colossalen Menge weit mehr gelesen werden. Die Begriffe, die unser Publicum sich seit Jahrhunderten von der Bedeutung der geschlechtlichen Dinge f?r das unausgesetzt behandelte Thema der Liebe bildet, sind unter dem Einflusse dieser zweiten Sorte von Dichtern nach und nach ganz eigenth?mliche geworden.
Ich halte diesen Punct f?r lehrreich genug, um ein deutliches Beispiel f?r jene eigenartige Krankheitsgeschichte abzugeben, die sich unter dem Titel der sogenannten >>rein idealistischen<< Richtung durch die erotische Weltliteratur und wohl mit am ?rgsten durch unsere neuere erotische Poesie zieht, eine Krankheitsgeschichte, die sich freilich, wie schon gesagt, zumeist nur an der breiten Masse der Dichterwerke bemerkbar macht, aber von hier aus schwere Ansteckungsstoffe in's Publicum verbreitet hat. Man wirft der modernen realistischen Richtung die Vorliebe f?r pathologische Probleme vor. Ich erlaube mir im Nachfolgenden, ein solches an einem ganzen Kreise poetischer Bestrebungen zu entwickeln, auf die Gefahr hin, jenem Vorwurfe zu verfallen. Ich schicke dabei voraus, dass ich keineswegs der Erste bin, der darauf hin weist, dass aber, wie so viele F?lle, die unmittelbar in's Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen naturwissenschaftlichem Denken und poetischem Schaffen geh?ren, auch dieser noch lange nicht eindringlich und oft genug ?ffentlich besprochen wird und darum in den Pr?missen einer realistischen Aesthetik nicht fehlen darf.
Nehmen wir einmal f?r einen heitern Moment an, es g?be eine Dichterschule, die den k?hnen Satz als poetisches Programm aufstellte, die physiologische Function der Nahrungsaufnahme im Menschen geh?re zu den h?chsten und dankbarsten Vorw?rfen der Poesie, und thats?chlich durch practische Werke ersten Ranges die Haltbarkeit dieses Programmes darth?te. Man m?sste die Gr?nde pr?fen, die jenem Unterfangen zu Grunde l?gen und, wofern diese stichhaltig w?ren, sich darein finden und der Sache freuen. Jetzt aber k?me eine Spaltung innerhalb der neuen Partei und es erh?ben sich beredte Apostel, die Folgendes aufstellten. Das Essen selbst sei etwas Unsch?nes, Unappetitliches, wohl gar Unmoralisches, d?rfe nur im Geheimen ge?bt werden, sei kein Gegenstand der Poesie. Ein poetisches Element stecke bloss im Hunger. Von unvergleichlichem dichterischen Werthe sei jener eigenartige nerv?se Zustand des Gehirns bei leise d?mmerndem Hungergef?hl, jener Wechsel von geistigem Eifer und geistiger Abspannung in seinen tausend feinen Nuancen, wie er dem Mahle vorausgehe, bis zu jenen Anf?llen von Raserei, von Hallucinationen und von v?lliger Lethargie, wie sie bei Verhungernden in der W?ste sich zeigten, oder dem Ekel vor aller Nahrungsaufnahme, der Blasirtheit im Puncte des Appetits, wie sie durch sonstige St?rungen des Nervensystems hervorgebracht w?rden.
Ich glaube, man w?rde, selbst das Ganze zugestanden, diese Sectirer der letztern Sorte f?r Narren erkl?ren.
Ich bin weit entfernt, diesen Titel auf alle Poeten anzuwenden, die das Liebesproblem nach derselben Seite hin einseitig gefasst haben, aber das Gef?hl eines vollkommenen Parallelismus kann ich nicht opfern. Das nat?rliche Ziel der Liebesempfindung, so h?re ich von allen Seiten, soll man in der Poesie verschleiern und beseitigen, die Empfindung selbst, die voraufgeht, verherrlichen. Ersteres soll etwas grob Sinnliches sein, letzteres etwas Geistiges. In der That, auch der Hunger ist scheinbar mehr ein nerv?sgeistiges Ph?nomen als das Zerkauen der Nahrung zwischen den Z?hnen. Aber diese geistige Disposition ist, was beim Hunger kein kleines Kind je bezweifelt hat, doch unmittelbares Erzeugniss eines physiologischen Vorganges. Ganz so die Liebe. Es ist physiologisch sogar leichter, die Liebe aus dem Geschlechtsbed?rfniss, als den Hunger aus dem leeren Magen abzuleiten. Erst von einem gewissen Alter ab entwickeln sich beim Menschen die mechanischen Bedingungen des Zeugungsactes; Hand in Hand mit dieser Entwickelung schreitet das allm?hliche Erwachen und Functioniren des sexuellen Hauptcentrums im Gehirn vor, dessen Th?tigkeit wir uns in der geistigen, nerv?sen Erscheinung des Liebesgef?hls bewusst werden. J?ngling und M?dchen beginnen sich als etwas Gegens?tzliches zu betrachten, das doch eine Vereinigung fordert, der Unterschied der Formen erweckt unklare Phantasiebilder, die durch individuelle Sympathieen meist sehr bald eine feste Gestalt annehmen, die Gestalt eines subjectiven Ideals, mit dem vorkommenden Falles die geschlechtliche Vereinigung gr?ssern Reiz gew?hren w?rde, als mit jedem zweiten Wesen des andern Geschlechtes.
Gegen diese einfache, dem Thats?chlichen Rechnung tragende Auffassung der Liebe als Anregung einer gewissen Gehirnpartie in Folge eines dem Gesammtorganismus, dem Zellenstaate, erwachsenen Bed?rfnisses erhebt sich aber jene andere Meinung mit erneuter Macht, indem sie das Wort >>die Liebe ist etwas Geistiges<< so gefasst haben will, dass darin noch etwas Besonderes stecken soll. Dieses Besondere aber, das meist nicht n?her definirt, daf?r aber desto mehr gepriesen und dem >>Gemeinen<< gegen?ber gesetzt wird, stellt sich bei kritischer Zerlegung sehr leicht als ein Doppeltes heraus. Einmal ist es ein >>G?ttliches<<, ein >>g?ttlicher Funke<<, der in der Liebe zum Ausdruck kommen soll, also ein St?ck Metaphysik -- das andere Mal ein >>Wahnsinn<<, eine >>zerst?rende Macht<<, also, physiologisch gesprochen, ein St?ck Psychiatrie. Wer sich davon ?berzeugen will, ob diese Zerlegung des beliebten Begriffes richtig ist, der unterziehe sich der Aufgabe, aus einigen Dutzend Romanen und lyrischen Gedichtsammlungen der Alltagsmode die Phrasen herauszuschreiben, in denen der Autor selbst oder seine Haupthelden ihre Liebesgef?hle definiren. Stets wird er das Entweder -- Oder finden: die Liebe ist von Gott -- die Liebe ist Wahnsinn. Nur h?chst selten wird er auch einmal versch?mt angedeutet finden, dass die Liebe auf nat?rlichen Gesetzen und Functionen basirt, die ihre feste und geordnete Stellung im Zellenstaate des menschlichen Organismus einnehmen. Am >>G?ttlichen<< in der Liebe zweifeln, ist f?r diese Poeten und ihre Verehrer gleichbedeutend mit ?usserster Roheit und Gef?hllosigkeit. Gleichwohl ist der realistische Aesthetiker, der auf naturwissenschaftlichem Boden steht, gen?thigt, den Ausdruck f?r g?nzlich werthlose Phrase zu erkl?ren. Wenn >>g?ttlich<< so viel heissen will, wie in eminentem Sinne gemahnend an unsere Abh?ngigkeit von einer grossen Entwicklungswelle, an die Unterordnung des Subjectiven unter das Allgemeine, so kann man sich das Wort gefallen lassen f?r das eigentliche Ziel der Liebe, f?r die ganze Ann?herung und Vereinigung der Geschlechter. Das angeblich Roheste und Gemeinste ist dann das hochgradig G?ttlichste und die Verbindung von Mann und Weib in ihrer physiologischen Thats?chlichkeit der g?ttlichste, d. h. der Gottheit n?chst stehende Act, den das individuelle Menschenleben ?berhaupt umschliesst. Die g?ttliche Mission des Weibes besteht dann in seiner Sch?nheit, die den Mann reizt -- die Liebe, mit der die Gatten einander begegnen, ist der h?chste Gottesdienst. In solchem Sinne mag das Wort gelten. Aber diese Auslegung l?uft dem gew?hnlichen Wortbegriffe schnurstracks entgegen. Andererseits die Liebe schlechthin als Wahnsinn zu bezeichnen, ist physiologisch eine Ungeheuerlichkeit. Das Geschlechtscentrum im geistigen Apparate des Menschen kann erkranken, das ist richtig. Die Liebe kann eine Verr?cktheit werden, sie kann verm?ge der Trennung von functionirendem Geschlechtsorgan und nerv?sem Gehirncentrum eine Geisteskrankheit werden, deren Wahngebilde jede F?hlung mit den wahren Zielen des nat?rlichen Triebes verlieren, so gut wie es psychiatrische F?lle giebt, in denen der Kranke jedes Gef?hl f?r Nahrungsaufnahme verliert und ohne Hilfe bei normalem Munde und Magen verhungern w?rde. Diese sexuellen Geisteskrankheiten sind streng zu unterscheiden von den Krankheiten der sexuellen Functionsorgane. Sie treten zumeist als Folgen bereits vorhandener anderer Verbildungen des Gehirns auf. Seit uralten Zeiten sind sie eine Begleiterscheinung bestimmter Formen von religi?sem Wahnsinn gewesen und lassen sich als solche durch die Geschichte der orientalischen V?lker wie der abendl?ndischen bis in's Mittelalter und bis auf den heutigen Tag verfolgen -- eine Aufgabe, der allerdings noch kein grosser Historiker sich im rechten Masse unterzogen hat. Sie treten ferner chronisch und wahrscheinlich sogar erblich bei Nationen auf, deren cerebrale Centra durch Ueberbildung und zwecklosen Luxus geschw?cht und verdorben sind; dahin geh?rt die gesammte historische Entwickelung der P?derastie, bei deren Beurtheilung ?brigens der moderne Rechtsstandpunct so wenig durch die Erkenntniss des Krankhaften verr?ckt wird, wie es durch die Leugnung der Willensfreiheit auf andern Gebieten geschieht. Selbst die einfache Einseitigkeit in der Anstrengung gewisser Gehirnpartieen beim vollkr?ftigen Genie besitzt meistens einen irgendwie sch?digenden Einfluss auf die benachbarte sexuelle Gegend des nerv?sen Centralapparates, so dass die geschlechtlichen Neigungen sehr grosser M?nner durchweg nicht als Muster des Normalen gelten k?nnen, ?ussere sich dieses Abweichen von der Linie nun in widernat?rlicher Enthaltsamkeit oder unb?ndiger Ausschweifung.
Aus allen diesen Einschr?nkungen ergiebt sich nun aber doch noch lange nicht die Krankhaftigkeit +aller+ Liebeserscheinungen. Die Liebe soll ein Zwang sein, der auf dem freien Bewusstsein lastet, der die Seele knechtet und zu Gemeinem treibt. Da liegt der fundamentale Irrthum. Um das freie Bewusstsein, die unabh?ngige g?ttliche Seele zu retten, erkl?rt man den einfachsten und logischsten Naturtrieb f?r eine unw?rdige Fessel, die uns an's Gemeine kettet. Hier, wie bei dem andern Falle liegen die Wurzeln im Metaphysischen, sagen wir immerhin, da wir von modernen Dichtern sprechen: im Christlichen. Die k?nstliche Seele, die uns diese religi?sen Anschauungen in den Menschen hineingedacht haben, empfindet schliesslich die ganze Natur, auch wo sie heiter und gl?cklich macht, als Zwang. Der Zeugungsact verwandelt sich ihr, obwohl von anderem Standpuncte, von anderer cerebraler Verbildung aus, als bei dem sexuell erkrankten Don Juan oder dem geschlechtlich complet wahnsinnigen alten Griechen, in ein leeres Spiel, eine Dummheit, von der wir uns frei machen m?chten. Das f?llt aber selbst bereits in's Gebiet der sexuellen Gehirnkrankheit.
Der einfache Schluss ergiebt sich: jene ganze Literatur, die in guten oder schlechten Versen, reiner oder fehlerhafter Prosa uns unabl?ssig von dem D?mon der Liebe, von der Knechtung unter das Joch Amors seufzt und die reine, heilige, g?ttliche Minne preist -- jene ganze Literatur ist Product einer mehr oder minder entwickelten sexuellen Gehirnschw?chung, die t?glich weiter um sich greift, je mehr Menschen mit empf?nglichem, f?r die Gewohnheitslinien des Unterrichts geebnetem Gehirn jene Literatur lesen und wieder lesen. Ein schwererer Vorwurf kann meines Erachtens gegen eine ganze Richtung der Poesie nicht wohl erhoben werden. Die nothwendige practische Folge ist, dass eine Scheidung entsteht zwischen der gew?hnlichen, normalen Liebe, der sogenannten hausbackenen, und jenem metaphysisch verbildeten, in lauter Jammer und Tr?umen dahinsiechenden Zerrbilde der Liebe, das Roman, Drama und Lyrik allerorten predigen. Der gesunde Spiessb?rger, der seine Gehirncentra noch in erfreulicher Ordnung beisammen hat, unterscheidet schliesslich mit sicherm Gef?hl die >>Liebe, wie sie im Leben vorkommt<< von der >>Liebe in B?chern und Theaterst?cken<<, und der junge Mann oder das junge M?dchen, die sich schon in unreifen Jahren durch das best?ndige H?ren und Lesen in letztere zuerst hineinhimmeln, sehen sich durchweg bei sp?term, reifem Eintritt in das wirkliche Leben gen?thigt, jenes erste Bild zwangsweise wieder aus dem Gehirn herauszuschaffen -- ein Process, der in nur zu vielen F?llen gar nicht mehr gelingt -- so wenig, wie ein Kind, das man an Morphium gew?hnt hat, sp?ter noch normal einschlafen kann. Wer nicht blind ist, muss einsehen, dass wir hier dem vollkommenen Bankerotte der erotischen Poesie entgegensteuern, denn was sich vom Normalen derartig trennt, muss ?ber kurz oder lang nothwendig gewaltsam unterdr?ckt werden. Anstatt aber Hilfe zu schaffen, w?thet man vielmehr gegen jede Sorte von Schriftstellern, die der Liebe in ihren Dichtungen wieder zu einem nat?rlichen Boden verhelfen m?chten. Es ist eine h?chst traurige Erscheinung, wie dabei alles durcheinander geworfen wird. M?nner, die mit Bewusstsein daran gehen, die Kehrseite der echten Liebe in den krankhaften Entartungen zu schildern, stellt man ganz unbefangen neben oder unter solche, die selbst im Banne sexueller Gehirnaffectionen stehen und ihre B?cher mit den unlogischen Gebilden ihrer kranken Phantasie f?llen, ohne ihre Abirrung vom Normalen selbst zu empfinden. Gewiss sind auch jene bewussten Studien ?ber das Abnorme mehr oder weniger eine unerfreuliche Lect?re und gewinnen h?chstens durch den Contrast, den das Logische und Helle der wahren Liebe selbst unausgesprochen gegen alle diese Fratzen und Verirrungen bildet. Aber welcher unendliche Fortschritt liegt schon allein in dem Bewusstsein, wie es Zola's Nana oder Daudet's Sappho vertreten -- dem schneidig scharfen Bewusstsein, dass wir es hier mit kranken Menschen zu thun haben, mit krankhaften Situationen, krankhaften Verwickelungen. Von der Erkenntniss des Falschen, Ungesunden zur Erkenntniss des Wahren und Gesunden ist aber nur ein Schritt. Jene Schriftsteller, die vor unsern Augen sich so eifrig mit dem Studium der entarteten Liebe befassen, bekunden bereits auf Schritt und Tritt eine weit tiefere Einsicht in das Gebiet des Normalen, wie hundert andere, die nach ihrer und ihrer Leser Meinung niemals die Linie des Erhabenen auf erotischem Gebiete verlassen haben. Eine zuk?nftige Poesie, die sich an die Ersteren anlehnt, ohne ihnen auf ihr Specialgebiet zu folgen, wird das Gr?sste zu leisten im Stande sein. Wir wollen ?brigens darin Gerechtigkeit walten lassen, dass wir unsern Poeten, die theils unbefangen, theils mit kritischem Bewusstsein immerfort das Krankhafte in der Liebe schildern, nicht die ganze Schuld daran aufb?rden. Die Poesie -- wenigstens die unbefangene -- hilft zwar das Gift weiterverbreiten, aber sie empf?ngt es auch unabl?ssig aus dem Leben zur?ck. Eine ungeheure Masse falscher Sentimentalit?t, k?nstlicher Gef?hle, moralischer Unnatur belastet unser ganzes modernes Liebesleben. Freytag hat gelegentlich in seinem Romane von der verlorenen Handschrift ein anmuthiges Bildchen vom deutschen M?dchen entworfen, wie es unsere Bildung in unsern St?dten heranbildet. Das Bild ist anmuthig geblieben, weil der Kern in diesem einzelnen M?dchen durch und durch gesunde Erbschaft war und das Sentimentale sich bloss in einer Form dar?ber ranken konnte, die dem Humor Stoff bot, aber ohne ernste Folgen blieb. Leider ist dieses Bild schon nicht mehr ?berall das Typische. Eine widerw?rtige Sentimentalit?t greift wie ein schleichendes Gift allenthalben um sich und zeitigt ein Geschlecht von Menschenkindern, in deren Empfindungen so wenig waschechte Natur steckt, wie auf den Wangen einer Pariser Ballsch?nheit. Es ist vor allen Dingen Mission der Poesie, die hier viel ges?ndigt und viel gelitten, mit festem Muthe sich mehr und mehr dem Modegeschmacke entgegenzustellen. Sie kann es aber nur, indem sie echt realistisch wird, das heisst: sich an die Natur anlehnt. Der einfache Realismus, der den Menschen die wahren Kleider des Lebens anzieht, ist noch lange nicht ausreichend zum wirklichen Zweck. Es gilt tiefer zu gehen und die Welt wieder an den Gedanken zu gew?hnen, den sie durch Metaphysik, Sentimentalit?t und Katzenjammer so vielfach verloren: dass die Liebe weder etwas ?berirdisch G?ttliches, noch etwas Verr?cktes und Teuflisches, dass sie weder ein Traum, noch eine Gemeinheit sei, sondern diejenige Erscheinung des menschlichen Geisteslebens darstelle, die den Menschen mit Bewusstsein zu der folgenreichsten und tiefsten aller physischen Functionen hinleitet, zum Zeugungsacte. Damit eine derartige Rolle f?r die Poesie aber erm?glicht werde, ist es allererste Bedingung f?r den realistischen Dichter, sich ?ber die n?heren Puncte der physiologischen Basis des Liebesgef?hls zu unterrichten. Nur eine strenge Beobachtung der Gesetze und Erscheinungen des K?rperlichen in seinen verschiedenen Phasen kann zu neuen Zielen f?hren. Das erfordert freilich auch an dieser Stelle wieder harte Arbeit f?r den Poeten. Das leichte Fabuliren von den lustigen oder b?sen Abenteuern verliebter Seelchen h?rt dabei auf, und der Dichter wird nothgedrungen sogar hin und wieder Pfade wandeln m?ssen, wo die landl?ufige Moral erschreckt zur?ckschaudert. Wer dazu nicht das Zeug in sich f?hlt, der soll dem Liebesproblem fern bleiben; besser gar keine Liebesgeschichten mehr, als jene gef?lschten; denn der Dichter mag l?gen, wo er Lust hat -- es ist alles harmlos gegen das L?gen auf erotischem Gebiete, dessen Folgen bei dem von Natur gesetzten Nachahmungs- und Gewohnheitstriebe des menschlichen Geistes unmittelbar in's practische Leben hineingreifen. Ich nehme keinen Anstand, zu behaupten, dass wir ?berhaupt eine ersch?pfende dichterische Darstellung des ganzen normalen Liebeslebens in Weib und Mann von seinen ersten Keimen bis zur reifen Mitte und wiederum abw?rts bis zum langsamen Versiegen im alternden Organismus in der gesammten Weltliteratur noch nicht besitzen. Zola hat in seinem geistvollen und tiefen Romane >>La joie de vivre<< wenigstens gelegentlich einmal den Versuch gemacht, an einem gesunden weiblichen Typus ein vollkommen plastisches Bild zu entwickeln; aber bei seiner Neigung f?r das Pathologische, die ihm nun einmal im Blute steckt, ist das Ganze nach meisterhafter Anlage schliesslich doch einseitig und ohne die nat?rliche Vers?hnung ausgelaufen. Was ich fordere, ist noch weitaus mehr. Ich fordere neben vollkommen scharfer Beobachtung eine bestimmte Tendenz. Man rede mir nicht davon, die realistische Dichtung m?sse sich ganz frei machen von jeder Tendenz. Ihre Tendenz ist die Richtung auf das Normale, das Nat?rliche, das bewusst Gesetzm?ssige. Die Poesie hat mit wenigen, allerdings sehr hoch stehenden Ausnahmen bisher zu allen Sorten abnormer Liebe erzogen. Sie muss in Zukunft versuchen, dem Leser gerade das Normale als das im eminenten Sinne Ideale, Anzustrebende auszumalen. Nur dann giebt es noch einen Aufschwung in der erotischen Poesie. Der vermessene Ausspruch muss mit Macht widerlegt werden: das Gew?hnliche, jene Liebe, die der einfache Spiessb?rger auch erlebt, wenn er gesund ist, sei zu gering f?r den edeln Schwung der Poesie. Das ist die schwerste Unwahrheit, die je Geltung gewonnen hat in der Literatur. Ihre Folge ist gewesen, dass wir hunderttausend B?nde ?ber eine sentimentale, nerv?s ?berspannte Liebe und eben so viele ?ber eine unter alles Nat?rliche herabgesunkene Liebe besitzen -- eine Literatur voller G?ttinnen und Cocotten, aber ohne Normalmenschen.
Unwillk?rlich, indem ich dieses schreibe, schweift mein Blick in entlegene Tage hin?ber. Wunderbare Gleichf?rmigkeit der auf- und niedersteigenden Wellen im Laufe der Culturgeschichte! Derselbe Gedanke, der uns heute zu so herbem Urtheile ?ber eine grosse Masse der vorhandenen Poesie treibt, den wir als neue Frucht vom ewig fortgr?nenden Baume der Erkenntniss zu pfl?cken glauben: er lebte in Cervantes schon, als er Don Quixote's Freunde die geistverderbenden Ritterromane zum Flammentode verdammen liess.
Wann erstehen unserer Zeit die treuen Freunde, die sie von ihren gef?hrlichen Lieblingen erl?sen?
F?nftes Capitel.
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