Read Ebook: Eine langweilige Geschichte: Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes by Chekhov Anton Pavlovich R Hl Hermann Translator
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Ebook has 441 lines and 27403 words, and 9 pages
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt.
Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~.
Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches.
ANTON TSCHECHOW
EINE LANGWEILIGE GESCHICHTE
Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes
Aus dem Russischen ?bertragen von H. R?hl
Im Insel-Verlag zu Leipzig
Gedruckt bei Breitkopf & H?rtel in Leipzig
Dieser mein Name erfreut sich einer grossen Popularit?t. In Russland ist er jedem gebildeten Menschen bekannt, und im Auslande wird er auf den Kathedern mit den Beiworten >>der bekannte<< und >>der verehrte<< erw?hnt. Er geh?rt zu jenen wenigen gl?cklichen Namen, die zu schm?hen oder leichtfertig in den Mund zu nehmen beim Publikum und bei der Presse als schlechter Ton gilt. Und das ist auch nur in der Ordnung. Ist doch mit meinem Namen der Begriff eines ber?hmten, reich begabten und der Menschheit zweifellos n?tzlichen Mannes eng verbunden. Ich bin arbeitsam und ausdauernd wie ein Kamel, was von Wichtigkeit ist, und ich besitze Talent, was von noch gr?sserer Wichtigkeit ist. Ausserdem bin ich, beil?ufig gesagt, ein wohlerzogener, bescheidener, ehrenhafter Mensch. Niemals habe ich meine Nase in Literatur und Politik hineingesteckt, habe nie durch Polemik mit Unwissenden popul?r zu werden gesucht, nie Reden bei Diners oder am Grabe von Kollegen gehalten. ?berhaupt haftet an meinem Gelehrtennamen kein Flecken, und mein Name hat keinen Grund sich zu beklagen. Er ist gl?cklich.
Der Tr?ger dieses Namens, also mein Ich, ist ein Mann von zweiundsechzig Jahren, mit kahlem Kopfe, falschen Z?hnen und einem unheilbaren Gesichtsschmerz, einem ~tic~. So gl?nzend und sch?n mein Name ist, ebenso tr?bselig und h?sslich bin ich selbst. Kopf und H?nde zittern mir vor Schw?che; mein Hals hat, wie bei der Heldin einer Turgenjewschen Erz?hlung, ?hnlichkeit mit dem Griffe eines Kontrabasses; die Brust ist eingefallen, der R?cken schmal. Wenn ich spreche oder Vorlesung halte, so zieht sich mein Mund schr?g nach der Seite hin; wenn ich l?chle, so bedeckt sich mein ganzes Gesicht mit greisenhaften, starren Runzeln. An meiner ganzen kl?glichen Figur ist nichts, was Interesse erwecken k?nnte; nur etwa wenn ich an meinem Gesichtsschmerz krank bin, tritt bei mir ein gewisser besonderer Ausdruck hervor, der wohl bei jedem, der mich ansieht, den ernsten, bedeutsamen Gedanken hervorruft: >>Wahrscheinlich wird dieser Mensch bald sterben.<<
Ich trage bei meinen Vorlesungen, wie fr?her, nicht schlecht vor; wie in fr?heren Zeiten vermag ich die Aufmerksamkeit der H?rer zwei Stunden lang zu fesseln. ?ber meiner W?rme f?r den Gegenstand, der Klarheit der Er?rterung und dem guten Humor, den ich dabei entwickele, vergisst man fast die M?ngel meiner Stimme, die trocken und scharf ist und etwas Singendes hat, wie man es sonst bei Fr?mmlern findet. Das Schreiben dagegen gelingt mir schlecht. Jener Teil meines Gehirnes, der die schriftstellerische F?higkeit dirigieren soll, versagt den Dienst. Mein Ged?chtnis ist schwach geworden, meinem Denken fehlt die n?tige Folgerichtigkeit, und sobald ich meine Gedanken auf das Papier bringe, habe ich jedesmal die Empfindung, dass ich das Gef?hl f?r ihre organische Verkn?pfung verloren habe; die Konstruktion ist eint?nig, die Ausgestaltung der S?tze gar zu bescheiden und ?rmlich. Oft schreibe ich gar nicht das, was ich eigentlich beabsichtige; wenn ich das Ende schreibe, habe ich den Anfang nicht mehr im Kopfe. Oft kann ich mich auf die gew?hnlichsten Ausdr?cke nicht besinnen, und ich muss immer erst grosse Energie aufwenden, um bei einem Schriftst?ck ?berfl?ssige Redensarten und unn?tige Eingangss?tze zu vermeiden; beides zeugt deutlich von einem Verfalle der geistigen F?higkeiten. Und merkw?rdig: je einfacher das betreffende Schriftst?ck ist, um so qualvollere Anstrengung kostet es mich. Bei der Abfassung eines wissenschaftlichen Aufsatzes f?hle ich mich weit freier und f?higer als bei einem Gratulationsbriefe oder bei einem amtlichen Berichte. Noch eines: es wird mir leichter, Deutsch oder Englisch zu schreiben als Russisch.
Was meine jetzige Lebensweise anlangt, so muss ich vor allem die Schlaflosigkeit erw?hnen, an der ich in der letzten Zeit leide. Wenn mich jemand fragen wollte: >>Was bildet jetzt den wichtigsten, den fundamentalen Zug deines Daseins?<< so m?sste ich antworten: die Schlaflosigkeit. Wie fr?her entkleide ich mich gewohnheitsm?ssig p?nktlich um Mitternacht und lege mich ins Bett. Ich schlafe schnell ein; aber zwischen eins und zwei wache ich auf, und zwar mit einem Gef?hle, als h?tte ich ?berhaupt nicht geschlafen. Ich muss aufstehen und die Lampe anz?nden. Eine oder zwei Stunden lang gehe ich dann im Zimmer von einer Ecke nach der anderen und betrachte die mir l?ngst bekannten Bilder und Photographien. Wenn ich dieser Wanderung ?berdr?ssig werde, setze ich mich an meinen Schreibtisch. Ich sitze unbeweglich, ohne etwas zu denken und ohne irgendwelchen Wunsch zu empfinden; liegt ein Buch vor mir, so ziehe ich es mechanisch zu mir heran und lese ohne alles Interesse. So habe ich neulich in einer einzigen Nacht mechanisch einen ganzen Roman mit dem sonderbaren Titel: >>Was die Schwalbe sang<< durchgelesen. Oder aber ich zwinge mich, um meinen Geist zu besch?ftigen, bis tausend zu z?hlen, oder ich vergegenw?rtige mir das Gesicht irgendeines meiner Kollegen und suche mich zu besinnen, in welchem Jahre und unter welchen Umst?nden er ins Amt getreten ist. Gern horche ich auch auf allerlei Ger?usche. Bald redet zwei Zimmer von mir entfernt meine Tochter Lisa hastig etwas im Traume vor sich hin; bald geht meine Frau mit einer Kerze durch den Saal und l?sst unfehlbar das Streichholzsch?chtelchen auf den Boden fallen; bald knackt ein zusammentrocknender Schrank, oder der Brenner an meiner Lampe beginnt unerwartet zu summen, -- und alle diese Ger?usche haben, ich weiss nicht warum, f?r mich etwas Aufregendes.
Wenn man in der Nacht nicht schl?ft, so ist man sich dabei jeden Augenblick bewusst, dass man sich nicht in normalem Zustande befindet, und daher warte ich mit Ungeduld auf den Morgen und den Tag, wo ich ein Recht habe nicht zu schlafen. Aber es vergeht viel qualvolle Zeit, bis auf dem Hofe der Hahn zu kr?hen beginnt. Dies ist mein erster Freudenbote. Sobald er kr?ht, weiss ich, dass nun in einer Stunde unten der Portier aufwachen und, ?rgerlich hustend, zu irgendwelcher Verrichtung die Treppe heraufkommen wird. Und dann wird es draussen vor den Fenstern allm?hlich heller werden, auf der Strasse werden Stimmen laut werden usw.
Der Tag beginnt bei mir mit dem Eintreten meiner Frau. Sie kommt zu mir ins Zimmer im Unterrock, unfrisiert, aber bereits gewaschen und nach Eau de Cologne duftend. Sie macht ein Gesicht, als k?me sie nur so zuf?llig herein, und sagt jedesmal ein und dasselbe:
>>Entschuldige, ich wollte nur einen Augenblick ... Hast du wieder nicht geschlafen?<<
Dann l?scht sie die Lampe aus, setzt sich an den Tisch und beginnt zu reden. Obwohl ich kein Prophet bin, weiss ich im voraus, wovon sie sprechen wird. Es ist jeden Morgen dasselbe. Nachdem sie sich besorgt nach meinem Befinden erkundigt hat, f?llt ihr gew?hnlich auf einmal unser Sohn ein, der als Offizier in Warschau steht. Am zwanzigsten jedes Monats schicken wir ihm f?nfzig Rubel hin, und das dient nun als haupts?chlichstes Thema unseres Gespr?ches.
>>Es f?llt uns ja freilich schwer,<< sagt meine Frau seufzend, >>aber solange er noch nicht auf eigenen F?ssen stehen kann, ist es doch unsere Pflicht, ihn zu unterst?tzen. Der Junge wohnt an einem fremden Orte, und sein Gehalt ist nur klein ... Indessen, wenn du willst, k?nnen wir ihm ja im n?chsten Monat statt f?nfzig nur vierzig Rubel schicken. Was meinst du?<<
Aus der t?glichen Erfahrung k?nnte meine Frau lernen, dass Ausgaben dadurch nicht kleiner werden, dass man oft von ihnen spricht; aber meine Frau l?sst die Erfahrung nicht gelten und unterh?lt mich p?nktlich jeden Morgen von unserem Offizier und davon, dass das Brot Gott sei Dank billiger geworden sei, der Zucker aber leider zwei Kopeken teurer, -- und alles das in einem Tone, als ob sie mir eine Neuigkeit mitteilte.
Ich h?re zu und ?ussere mechanisch meine Beistimmung; aber wahrscheinlich infolge der schlaflosen Nacht kommen mir sonderbare, unn?tze Gedanken. Ich sehe meine Frau an und wundere mich wie ein Kind. Verst?ndnislos frage ich mich: ist diese alte, sehr korpulente, plumpe Frau mit dem stumpfen Ausdruck kleinlicher Sorge und Angst um das t?gliche Brot, mit diesem von steten Gedanken an Schulden und Not verschleierten Blicke, diese Frau, die von weiter nichts zu reden weiss als von Ausgaben, und der nur die Wohlfeilheit der Lebensmittel ein L?cheln entlockt, ist diese Frau wirklich einmal jene schlanke Warja gewesen, in die ich mich leidenschaftlich verliebte wegen ihres guten, klaren Verstandes, wegen ihrer reinen Seele, wegen ihrer Sch?nheit und, wie Othello in Desdemona, wegen ihres >>Mitleides<< mit meiner Wissenschaft? Ist diese Frau wirklich jene meine Warja, die mir einst einen Sohn gebar?
Ich blicke der fetten, plumpen alten Frau forschend in das Gesicht und suche in ihr meine Warja; aber von ihrem gesamten fr?heren Wesen ist nur die Angst um meine Gesundheit bestehen geblieben, und dann noch ihre wunderliche Art, mein Gehalt >>unser Gehalt<< zu nennen und meine M?tze >>unsere M?tze<<. Es ist mir schmerzlich, sie anzusehen, und um ihr wenigstens eine kleine Liebe anzutun, lasse ich sie sprechen, was sie mag, und schweige sogar still, wenn sie ?ber andere Menschen ungerecht urteilt oder mir Vorw?rfe macht, weil ich keine Praxis aus?be und keine Lehrb?cher herausgebe.
Unser Gespr?ch endet immer auf die gleiche Weise. Meiner Frau f?llt zu ihrem Schrecken pl?tzlich ein, dass ich noch keinen Tee getrunken habe.
>>Was sitze ich hier?<< sagt sie, sich erhebend. >>Der Samowar steht l?ngst auf dem Tische, und ich plaudere hier. Wie gedankenlos ich geworden bin, o Gott!<<
Sie geht schnell zur T?r, bleibt aber dort stehen, um zu sagen:
>>Wir sind Jegor noch seinen Lohn f?r f?nf Monate schuldig. Du weisst es doch? Man darf mit der Lohnzahlung an die Dienstboten nicht nachl?ssig sein, das habe ich dir doch schon wer weiss wie oft gesagt! Zehn Rubel jeden Monat zu bezahlen ist viel leichter als f?nfzig mit einem Mal f?r f?nf Monate.<<
Wenn sie aus der T?r hinaus ist, bleibt sie wieder stehen und sagt:
>>Niemand tut mir so leid wie unsere arme Lisa. Das Kind besucht doch das Konservatorium und verkehrt stets in guter Gesellschaft; aber dabei ist ihre Toilette so k?mmerlich. Ihr Pelz befindet sich in einem solchen Zustande, dass sie sich sch?men muss, sich damit auf der Strasse zu zeigen. W?re sie aus anderer Familie, dann k?me es ja nicht darauf an; aber so wissen doch alle Leute, dass ihr Vater ein ber?hmter Professor und Geheimrat ist!<<
Nachdem sie mir so meinen Ruf und Stand zum Vorwurfe gemacht hat, geht sie endlich fort. Auf diese Weise beginnt mein Tag. Und der weitere Verlauf ist nicht besser.
W?hrend ich Tee trinke, kommt meine Tochter Lisa zu mir ins Zimmer, in Pelz und M?tzchen, die Notenmappe am Arm, v?llig fertig, um ins Konservatorium zu gehen. Sie ist zweiundzwanzig Jahre alt. Nach ihrem ?usseren w?rde man sie f?r j?nger halten; sie ist recht h?bsch und hat einige ?hnlichkeit mit meiner Frau, wie diese in ihrer Jugend aussah. Sie k?sst mir z?rtlich die Schl?fe und die Hand und sagt:
>>Guten Morgen, Papachen. F?hlst du dich wohl?<<
Als sie noch ein Kind war, ass sie sehr gern Gefrorenes, und ich musste sie oft in die Konditorei f?hren. Eis war ihr der Massstab f?r alles Sch?ne. Wenn sie mich loben wollte, so sagte sie: >>Du bist von Sahneneis, Papa.<< Von ihren Fingerchen hiess eines das Pistazienfingerchen, das andere das Sahnenfingerchen, das dritte das Himbeerfingerchen usw. Wenn sie morgens zu mir kam, um mir Guten Tag zu sagen, setzte ich sie gew?hnlich auf meinen Schoss, k?sste ihre Fingerchen und sagte dabei:
>>Sahnenfingerchen, Pistazienfingerchen, Zitronenfingerchen ...<<
Auch jetzt k?sse ich aus alter Gewohnheit Lisas Finger und murmele:
>>Pistazienfingerchen, Sahnenfingerchen, Zitronenfingerchen ...<<; aber es hat nicht mehr den richtigen Klang. Ich bin kalt dabei, und dar?ber sch?me ich mich. Wenn meine Tochter zu mir hereinkommt und mit den Lippen meine Schl?fe ber?hrt, so zucke ich zusammen, wie wenn mich eine Biene in die Schl?fe st?che, l?chle gezwungen und wende mein Gesicht ab. Seit ich an Schlaflosigkeit leide, bohrt in meinem Gehirn ein bestimmter Gedanke herum: meine Tochter sieht oft, dass ich, ein alter Mann, ein ber?hmter Professor, peinlich err?te, weil ich dem Diener Geld schulde; sie sieht, dass die Sorge um kleine Schulden mich oft zwingt, die Arbeit hinzuwerfen, ganze Stunden lang von einer Ecke nach der andern zu gehen und nachzudenken; aber warum ist sie nie hinter dem R?cken ihrer Mutter zu mir gekommen und hat mir zugefl?stert: >>Vater, da sind meine Armb?nder, meine Uhr, meine Ohrringe, meine Kleider. Trag das alles ins Leihhaus, wenn du Geld brauchst!< Sie sieht doch, dass wir, ihre Mutter und ich, aus einem falschen Schamgef?hle den Leuten unsere Armut zu verbergen suchen; warum verzichtet sie da nicht auf das kostspielige Vergn?gen, Musik zu studieren? Annehmen w?rde ich ja weder die Uhr noch die Armb?nder noch sonstige Opfer, Gott beh?te; das liegt nicht in meinen W?nschen.
Dabei denke ich dann auch an meinen Sohn, den Warschauer Offizier. Er ist ein verst?ndiger, ehrenhafter, n?chterner Mensch. Aber mir gen?gt das nicht. Ich meine, wenn ich einen alten Vater h?tte und w?sste, dass bei ihm Augenblicke vorkommen, wo er sich seiner Armut sch?mt, dann w?rde ich meine Offizierstelle jemand anders ?berlassen und selbst eine Erwerbst?tigkeit ergreifen. Solche Gedanken ?ber meine Kinder vergiften mir meine Seele. Was haben solche Gedanken f?r Zweck? Gegen Menschen gew?hnlichen Schlages nur deshalb ein b?ses Gef?hl hegen, weil sie keine Helden sind, das kann nur ein engherziger oder verbitterter Mensch. Aber genug davon.
Um dreiviertel zehn muss ich zu meinen lieben Studenten gehen, um ihnen eine Vorlesung zu halten. Ich kleide mich an und wandere auf dem Wege hin, der mir schon seit dreissig Jahren bekannt ist und f?r mich seine Geschichte hat. Hier steht ein grosses, graues Haus mit einer Apotheke; da stand ehemals ein kleines H?uschen, und darin befand sich ein Bierlokal; in diesem Bierlokale ?berlegte ich meine Dissertation und schrieb ich meinen ersten Liebesbrief an Warja. Ich schrieb ihn mit Bleistift auf einen Bogen mit dem Kopfdruck: ~Historia morbi~. Da ist ein kleiner Viktualienladen; einstmals geh?rte er einem Juden, der mir Zigaretten auf Kredit verkaufte, dann einer dicken Frau, die alle Studenten in ihr Herz geschlossen hatte, weil doch jeder von ihnen eine Mutter habe; jetzt sitzt ein rothaariger Kaufmann darin, ein sehr gleichm?tiger Mensch, der aus einer kupfernen Kanne Tee trinkt. Und da ist ja auch schon das seit langer Zeit nicht renovierte Universit?tstor und der sich langweilende Hausknecht in seinem Schafpelz und ein paar Besen und grosse Schneehaufen. Auf einen frischen jungen Menschen, der aus der Provinz kommt und die Vorstellung mitbringt, der Tempel der Wissenschaft werde auch in seiner ?usseren Erscheinung ein Tempel sein, kann ein solches Tor keinen guten Eindruck machen. ?berhaupt muss man sagen: die Bauf?lligkeit der Universit?tsgeb?ude, die Dunkelheit der Korridore, die verstaubten, verr?ucherten W?nde, der Mangel an Licht, das kl?gliche Aussehen der Stufen, der Kleiderhaken und der B?nke, dies alles nimmt in der Geschichte des russischen Pessimismus einen der ersten Pl?tze unter den pr?disponierenden Ursachen ein. Da ist auch unser Universit?tsgarten. Seit meiner eigenen Studentenzeit ist er, wie ich glaube, nicht besser und nicht schlechter geworden. Ich kann ihn nicht leiden. Es w?re weit verst?ndiger, wenn statt der schwinds?chtigen Linden, der gelblichgr?nen Akazien und des d?rftigen, beschnittenen Flieders dort hohe Fichten und kr?ftige Eichen w?chsen. Der Student, dessen Stimmung meist durch seine Umgebung stark beeinflusst wird, muss da, wo er studiert, auf Schritt und Tritt nur Hohes, Kr?ftiges und Sch?nes sehen. Bewahre ihn Gott vor dem Anblick d?rrer B?ume, zerbrochener Fensterscheiben, grau gewordener W?nde und mit zerrissenem Wachstuch beschlagener T?ren!
Wenn ich mich derjenigen T?r des Universit?tsgeb?udes n?here, die zu meinen R?umen f?hrt, so ?ffnet sie sich, und es begr?sst mich mein langj?hriger Dienstgenosse, Altersgenosse und Namensvetter, der Portier Nikolai. Nachdem er mich eingelassen hat, r?uspert er sich und sagt:
>>Es ist kalt heute, Euer Exzellenz!<<
Oder wenn mein Pelz nass ist, bemerkt er:
>>Es regnet heute, Euer Exzellenz!<<
Darauf l?uft er vor mir her und ?ffnet auf meinem Wege alle T?ren. In meinem Arbeitszimmer nimmt er mir behutsam den Pelz ab und teilt mir gleichzeitig schleunigst irgendeine Universit?tsneuigkeit mit. Dank der nahen Bekanntschaft, die zwischen allen Universit?tsportiers und -pedellen besteht, weiss er alles, was in den vier Fakult?ten, in der Kanzlei, im Arbeitszimmer des Rektors und in der Bibliothek vorgeht. Was bliebe ihm unbekannt? Zu Zeiten, wo bei uns z. B. der R?cktritt des Rektors oder eines Dekanes die brennende Tagesfrage bildet, h?re ich manchmal, wie er im Gespr?che mit j?ngeren Pedellen die Kandidaten aufz?hlt und zugleich erl?uternd bemerkt, den und den werde der Minister nicht best?tigen, der und der werde selbst verzichten, und wie er sich dann in phantastischen Einzelheiten ergeht ?ber geheimnisvolle Schriftst?cke, die in der Kanzlei eingegangen seien, ?ber eine geheime Unterredung zwischen dem Minister und dem Kurator usw. Sieht man von diesen Einzelheiten ab, so erweist sich, dass er im allgemeinen fast immer recht hat. Die Charakteristiken, die er von einem jeden der Kandidaten gibt, sind originell, aber gleichfalls zutreffend. Wer etwa zu erfahren w?nscht, in welchem Jahre jemand seine Dissertation verteidigt hat, ins Amt getreten ist, sich hat pensionieren lassen oder gestorben ist, der rufe das gewaltige Ged?chtnis dieses ehemaligen Soldaten zu Hilfe; dieser wird nicht nur das Jahr, den Monat und den Tag angeben, sondern auch ?ber die n?heren Umst?nde Mitteilung machen, die das eine oder andere Ereignis begleitet haben. So sich erinnern kann nur, wer mit dem Herzen dabei ist.
Er ist der H?ter der Universit?tstradition. Von seinen Vorg?ngern im Portieramt hat er viele Legenden aus dem Universit?tsleben geerbt; zu diesem Schatze hat er dann viel eigenes Gut hinzugef?gt, das er in seiner Dienstzeit erworben hat, und wenn jemand ein Verlangen danach ?ussert, so erz?hlt er ihm eine Menge langer und kurzer Geschichten. Er kann von ausserordentlich klugen M?nnern erz?hlen, die >>alles wussten<<, von merkw?rdig arbeitsf?higen Professoren, die ganze Wochen lang nicht schliefen, von zahlreichen M?rtyrern und Opfern der Wissenschaft; das Gute triumphiert in seinen Erz?hlungen immer ?ber das B?se, der Schwache besiegt den Starken, der Kluge den Dummen, der Bescheidene den Stolzen, der Junge den Alten. Man braucht ja nicht gerade alle diese Legenden und Erdichtungen f?r bare M?nze zu nehmen; aber man filtriere sie, und es wird als R?ckstand etwas Brauchbares auf dem Filter bleiben: unsere guten Traditionen und die Namen wahrer, allgemein anerkannter Geistesheroen.
Was man in der sogenannten besseren Gesellschaft unserer Stadt ?ber die Welt der Gelehrten weiss, das sind lediglich Anekdoten ?ber aussergew?hnliche Zerstreutheit alter Professoren, sowie zwei oder drei Witze, die bald auf Gruber, bald auf mich, bald auf Babuchin zur?ckgef?hrt werden. F?r die gebildete Gesellschaft ist das eigentlich etwas wenig. Wenn diese Kreise die Wissenschaft, die Gelehrten und die Studenten so liebten, wie es Nikolai tut, so w?rde die hiesige Literatur schon l?ngst ganze Heldengedichte, Erz?hlungen und Biographien aus diesem Gebiete besitzen, deren sie jetzt leider ermangelt.
Nachdem Nikolai mir seine Neuigkeit mitgeteilt hat, nimmt sein Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck an, und es entspinnt sich zwischen uns ein fachm?nnisches Gespr?ch. Wenn ein Fremder dabei mit anh?rte, wie flott Nikolai die Terminologie handhabt, so k?nnte er vielleicht gar denken, das sei ein als Portier maskierter Gelehrter. Aber beil?ufig gesagt: die Ger?chte ?ber die Gelehrsamkeit der Universit?tsunterbeamten sind stark ?bertrieben. Allerdings kennt Nikolai ?ber hundert lateinische Benennungen, versteht sich darauf, ein Skelett zusammenzuf?gen, unter Umst?nden auch ein Pr?parat herzustellen, die Studenten durch irgendein langes, gelehrtes Zitat zum Lachen zu bringen; aber z. B. die so einfache Lehre vom Blutumlaufe ist ihm jetzt noch ebenso dunkel wie vor zwanzig Jahren.
An einem Tische in meinem Arbeitszimmer sitzt, tief ?ber ein Buch oder ein Pr?parat gebeugt, mein Prosektor Peter Ignatjewitsch, ein fleissiger, bescheidener, aber talentloser Mensch, etwa f?nfunddreissig Jahre alt, aber schon kahlk?pfig und dickb?uchig. Arbeiten tut er vom fr?hen Morgen bis in die Nacht hinein; er liest eine grosse Menge und hat f?r alles Gelesene ein vorz?gliches Ged?chtnis. In dieser Hinsicht ist er Goldes wert; aber im ?brigen ist er ein Lastpferd oder, wie man sich auch auszudr?cken pflegt, ein gelehrter Dummkopf. Die charakteristischen Merkmale des Lastpferdes, durch die dieses sich von einem talentvollen Manne unterscheidet, sind folgende: sein Gesichtskreis ist eng und scharf begrenzt, da er eben nur ein Spezialfach umfasst; ausserhalb seines Spezialfaches ist ein solcher Mann naiv wie ein Kind. Ich erinnere mich, dass ich eines Morgens in das Arbeitszimmer hereinkam und sagte:
>>Denken Sie sich, dieses Ungl?ck! Es heisst, Skobelew sei gestorben.<<
Nikolai bekreuzte sich, Peter Ignatjewitsch aber sah mich an und fragte:
>>Was f?r ein Skobelew?<<
Ein andermal teilte ich ihm mit, dass Professor Perow gestorben sei. Der gute Peter Ignatjewitsch fragte:
>>Wor?ber hat er denn gelesen?<<
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