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Read Ebook: Goethes Weltanschauung by Steiner Rudolf

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Ebook has 141 lines and 35688 words, and 3 pages

h der Welt gegen?ber, so k?me diese zweite H?lfte nie zur lebendigen Erscheinung, zum vollen Dasein. Sie wirkte zwar als verborgene Kr?ftewelt; aber es w?re ihr die M?glichkeit entzogen, sich in einer eigenen Gestalt zu zeigen. Man m?chte sagen, ohne den Menschen w?rde die Welt ein unwahres Antlitz zeigen. Sie w?re so, wie sie ist, durch ihre tieferen Kr?fte, aber diese tieferen Kr?fte blieben selbst verh?llt durch das, was sie wirken. Im Menschengeiste werden sie aus ihrer Verzauberung erl?st. Der Mensch ist nicht bloss dazu da, um sich von der fertigen Welt ein Bild zu machen; nein, er wirkt selbst mit an dem Zustandekommen dieser Welt.

Verschieden gestalten sich die subjektiven Erlebnisse bei verschiedenen Menschen. F?r diejenigen, welche nicht an die objektive Natur der Innenwelt glauben, ist das ein Grund mehr, dem Menschen das Verm?gen abzusprechen, in das Wesen der Dinge zu dringen. Denn wie kann Wesen der Dinge sein, was dem einen so, dem andern anders erscheint. F?r denjenigen, der die wahre Natur der Innenwelt durchschaut, folgt aus der Verschiedenheit der Innenerlebnisse nur, dass die Natur ihren reichen Inhalt auf verschiedene Weise aussprechen kann. Dem einzelnen Menschen erscheint die Wahrheit in einem individuellen Kleide. Sie passt sich der Eigenart seiner Pers?nlichkeit an. Besonders f?r die h?chsten, dem Menschen wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu gewinnen, ?bertr?gt der Mensch seine geistigsten, intimsten Erlebnisse auf die angeschaute Welt und mit ihnen zugleich das Eigenartigste seiner Pers?nlichkeit. Es giebt auch allgemeing?ltige Wahrheiten, die jeder Mensch aufnimmt, ohne ihnen eine individuelle F?rbung zu geben. Dies sind aber die oberfl?chlichsten, die trivialsten. Sie entsprechen dem allgemeinen Gattungscharakter der Menschen, der bei allen der gleiche ist. Gewisse Eigenschaften, die in allen Menschen gleich sind, erzeugen ?ber die Dinge auch gleiche Urteile. In der Art, wie die Menschen die Dinge nach Mass und Zahl ansehen, unterscheiden sie sich nicht. Deshalb gelten f?r alle die gleichen mathematischen Wahrheiten. In den Eigenschaften aber, in denen sich die Einzelpers?nlichkeit von dem allgemeinen Gattungscharakter abhebt, liegt auch der Grund zu den individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit. Nicht darauf kommt es an, dass in dem einen Menschen die Wahrheit anders erscheint als in dem andern, sondern darauf, dass alle zum Vorschein kommenden individuellen Gestalten einem einzigen Ganzen angeh?ren, der einheitlichen ideellen Welt. Die Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen verschiedene Sprachen und Dialekte; in jedem grossen Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser Einen Pers?nlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit, die da spricht. "Kenne ich mein Verh?ltnis zu mir selbst und zur Aussenwelt, so heiss ichs Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige." Dies ist Goethes Meinung. Nicht ein starres, totes Begriffssystem ist die Wahrheit, das nur einer einzigen Gestalt f?hig ist; sie ist ein lebendiges Meer, in welchem der Geist des Menschen lebt, und das Wellen der verschiedensten Gestalt an seiner Oberfl?che zeigen kann. "Die Theorie an und f?r sich ist nichts n?tze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht," sagt Goethe. Er sch?tzt keine Theorie, die ein f?r allemal abgeschlossen sein will, und in dieser Gestalt eine ewige Wahrheit darstellen soll. Er will lebendige Begriffe, durch die der Geist des Einzelnen nach seiner individuellen Eigenart die Anschauungen zusammenfasst. Die Wahrheit erkennen heisst ihm, in der Wahrheit leben. Und in der Wahrheit leben ist nichts anderes, als bei der Betrachtung jedes einzelnen Dinges hinzusehen, welches innere Erlebnis sich einstellt, wenn man diesem Dinge gegen?bersteht. Eine solche Ansicht von dem menschlichen Erkennen kann nicht von Grenzen des Wissens, nicht von einer Eingeschr?nktheit desselben durch die Natur des Menschen sprechen. Denn die Fragen, die sich, nach dieser Ansicht, das Erkennen vorlegt, entspringen nicht aus den Dingen; sie sind dem Menschen auch nicht von irgend einer andern ausserhalb seiner Pers?nlichkeit gelegenen Macht auferlegt. Sie entspringen aus der Natur der Pers?nlichkeit selbst. Wenn der Mensch den Blick auf ein Ding richtet, dann entsteht in ihm der Drang, mehr zu sehen, als ihm in der Wahrnehmung entgegentritt. Und soweit dieser Drang reicht, soweit reicht sein Erkenntnisbed?rfnis. Woher stammt dieser Drang? Doch nur davon, dass ein inneres Erlebnis sich in der Seele angeregt f?hlt, mit der Wahrnehmung, eine Verbindung einzugehen. Sobald die Verbindung vollzogen ist, ist auch das Erkenntnisbed?rfnis befriedigt. Erkennen wollen ist eine Forderung der menschlichen Natur und nicht der Dinge. Diese k?nnen dem Menschen nicht mehr ?ber ihr Wesen sagen, als er ihnen abfordert. Wer von einer Beschr?nktheit des Erkenntnisverm?gens spricht, der weiss nicht, woher das Erkenntnisbed?rfnis stammt. Er glaubt, der Inhalt der Wahrheit liege irgendwo aufbewahrt, und in dem Menschen lebe nur der unbestimmte Wunsch, den Zugang zu dem Aufbewahrungsorte zu finden. Aber es ist das Wesen der Dinge selbst, das sich aus dem Innern des Menschen herausarbeitet und dahin strebt, wohin es geh?rt: zu der Wahrnehmung. Nicht nach einem Verborgenen strebt der Mensch im Erkenntnisprozess, sondern nach der Ausgleichung zweier Kr?fte, die von zwei Seiten auf ihn wirken. Man kann wohl sagen, ohne den Menschen g?be es keine Erkenntnis des Innern der Dinge, denn ohne ihn w?re nichts da, wodurch dieses Innere sich aussprechen k?nnte. Aber man kann nicht sagen, es gibt im Innern der Dinge etwas, das dem Menschen unzug?nglich ist. Dass an den Dingen noch etwas anderes vorhanden ist, als was die Wahrnehmung liefert, weiss der Mensch nur, weil dieses andere in seinem eigenen Innern lebt. Von einem weiteren unbekannten Etwas der Dinge sprechen, heisst Worte ?ber etwas machen, was nicht vorhanden ist.

Die Naturen, die nicht zu erkennen verm?gen, dass es die Sprache der Dinge ist, die im Innern des Menschen gesprochen wird, sind der Ansicht, alle Wahrheit m?sse von aussen in den Menschen eindringen. Solche Naturen halten sich entweder an die blosse Wahrnehmung und glauben, allein durch Sehen, H?ren, Tasten, durch Auflesung der geschichtlichen Vorkommnisse und durch Vergleichen, Z?hlen, Rechnen, W?gen des aus der Tatsachenwelt Aufgenommenen die Wahrheit erkennen zu k?nnen; oder sie sind der Ansicht, dass die Wahrheit nur zu dem Menschen kommen k?nne, wenn sie ihm durch ein ?bermenschliches Wesen offenbart werde, oder endlich, sie wollen durch Kr?fte besonderer Natur, durch Ekstase oder mystisches Schauen in den Besitz der h?chsten Einsichten kommen, die ihnen, nach ihrer Ansicht, die dem Denken zug?ngliche Ideenwelt nicht darbieten kann. Den Offenbarungsgl?ubigen und den Mystikern reihen sich noch die Metaphysiker an. Diese suchen zwar durch das Denken sich Begriffe von der Wahrheit zu bilden. Aber sie suchen den Inhalt f?r diese Begriffe nicht in der menschlichen Ideenwelt, sondern in einer hinter den Dingen liegenden zweiten Wirklichkeit. Sie meinen, durch reine Begriffe ?ber einen solchen Inhalt entweder etwas Sicheres ausmachen zu k?nnen, oder wenigstens durch Hypothesen sich Vorstellungen von ihm bilden zu k?nnen. Ich spreche hier zun?chst von der zuerst angef?hrten Art von Menschen, von den Tatsachenfanatikern. Ihnen kommt es zuweilen zum Bewusstsein, dass in dem Z?hlen und Rechnen bereits eine Verarbeitung des Anschauungsinhaltes mit Hilfe des Denkens stattfindet. Dann aber sagen sie, die Gedankenarbeit sei bloss das Mittel, durch das der Mensch den Zusammenhang der Tatsachen zu erkennen bestrebt ist. Was aus dem Denken bei Bearbeitung der Aussenwelt fliesst, gilt ihnen als bloss subjektiv; als objektiven Wahrheitsgehalt, als wertvollen Erkenntnisinhalt sehen sie nur das an, was mit Hilfe des Denkens von aussen an sie herankommt. Sie fangen zwar die Tatsachen in ihre Gedankennetze ein, lassen aber nur das Eingefangene als objektiv gelten. Sie ?bersehen, dass dieses Eingefangene durch das Denken eine Auslegung, Zurechtr?ckung, eine Interpretation erf?hrt, die es in der blossen Anschauung nicht hat. Die Mathematik ist ein Ergebnis reiner Gedankenprozesse, ihr Inhalt ist ein geistiger, subjektiver. Und der Mechaniker, der die Naturvorg?nge in mathematischen Zusammenh?ngen vorstellt, kann dies nur unter der Voraussetzung, dass diese Zusammenh?nge in dem Wesen dieser Vorg?nge begr?ndet sind. Das heisst aber nichts anderes als: in der Anschauung ist eine mathematische Ordnung verborgen, die nur derjenige sieht, der die mathematischen Gesetze in seinem Geiste ausbildet. Zwischen den mathematischen Raum- und Zahlenvorstellungen und den intimsten, geistigsten Erlebnissen ist aber kein Art-, sondern nur ein Gradunterschied. Und mit demselben Rechte wie die Ergebnisse der mathematischen Forschung kann der Mensch andere innere Erlebnisse, andere Gebiete seiner Ideenwelt auf die Anschauungen ?bertragen. Nur scheinbar stellt der Tatsachenfanatiker rein ?ussere Vorg?nge fest. Er denkt zumeist ?ber die Natur seiner Ideenwelt und ihren Charakter, als subjektives Erlebnis, nicht nach. Auch sind seine inneren Erlebnisse inhaltsarme, blutleere Abstraktionen, die von dem kraftvollen Tatsacheninhalt verdunkelt werden. Die T?uschung, der er sich hingiebt, kann nur so lange bestehen, als er auf der untersten Stufe der Naturinterpretation stehen bleibt, solange er bloss z?hlt, w?gt, berechnet. Auf den h?heren Stufen dr?ngt sich die wahre Natur der Erkenntnis bald auf. Man kann es aber an den Tatsachenfanatikern beobachten, dass sie sich vorz?glich an die unteren Stufen halten. Sie gleichen dadurch einem Aesthetiker, der ein Musikst?ck bloss darnach beurteilen will, was an ihm berechnet und gez?hlt werden kann. Sie wollen die Erscheinungen der Natur von dem Menschen absondern. Nichts Subjektives soll in die Beobachtung einfliessen. Goethe verurteilt dieses Verfahren mit den Worten: "Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der gr?sste und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das gr?sste Unheil der neueren Physik, dass man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloss in dem, was k?nstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschr?nken und beweisen will." Es ist die Angst vor dem Subjektiven, die zu solcher Verfahrungsweise f?hrt, und die aus einer Verkennung der wahrhaften Natur desselben herr?hrt. "Daf?r steht ja aber der Mensch so hoch, dass sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja man kann sagen, was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst b?ndigen und modifizieren muss, um sie sich einigermassen assimilieren zu k?nnen?" Nach Goethes Ansicht soll der Naturforscher nicht allein darauf aufmerksam sein, wie die Dinge erscheinen, sondern wie sie erscheinen w?rden, wenn alles, was in ihnen als ideelle Triebkr?fte wirkt, auch wirklich zur ?usseren Erscheinung k?me. Erst wenn sich der leibliche und geistige Organismus des Menschen den Erscheinungen gegen?berstellt, dann enth?llen sie ihr Inneres.

Wer mit freiem, offenem Beobachtungsgeist und mit einem entwickelten Innenleben, in dem die Ideen der Dinge sich offenbaren, an die Erscheinungen herantritt, dem enth?llen diese, nach Goethes Meinung, alles, was an ihnen ist. Goethes Weltanschauung entgegengesetzt ist daher diejenige, welche das Wesen der Dinge nicht innerhalb der Erfahrungswirklichkeit, sondern in einer hinter derselben liegenden zweiten Wirklichkeit sucht. Ein Bekenner einer solchen Weltanschauung trat Goethe in Fr. H. Jacobi entgegen. Er macht seinem Unwillen in einer Bemerkung der Tag- und Jahreshefte Luft: "Jacobi von den g?ttlichen Dingen machte mir nicht wohl; wie konnte mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die These durchgef?hrt sehen sollte: die Natur verberge Gott! Musste bei meiner reinen, tiefen, angeborenen und ge?bten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbr?chlich gelehrt hatte, so dass diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz ausmachte, musste nicht ein so seltsamer, einseitig beschr?nkter Ausspruch mich dem Geiste nach, von dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, f?r ewig entfernen". Goethes Anschauungsweise gibt ihm die Sicherheit, dass er in der ideellen Durchdringung der Natur das ewig Gesetzm?ssige in ihr unmittelbar anschaut. Und dieses ewig Gesetzm?ssige ist ihm mit dem G?ttlichen identisch. Wenn das G?ttliche hinter den Naturdingen sich verbergen w?rde und doch das sch?pferische Element in ihnen bildete, k?nnte es nicht angeschaut werden; der Mensch m?sste an dasselbe glauben. In einem Briefe an Jacobi nimmt Goethe sein Schauen gegen?ber dem Glauben in Schutz: "Gott hat Dich mit der Metaphysik gestraft und Dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich mit der Physik gesegnet. Ich halte mich an die Gottesverehrung des Atheisten und ?berlasse Euch alles, was ihr Religion heisst und heissen m?gt. Du h?ltst aufs Glauben an Gott; ich aufs Schauen." Wo dieses Schauen aufh?rt, da hat der menschliche Geist nichts zu suchen. In den Spr?chen in Prosa lesen wir: "Der Mensch ist wirklich in die Mitte einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, dass er das Wirkliche und nebenbei das M?gliche erkennen und hervorbringen kann. Alle gesunden Menschen haben die ?berzeugung ihres Daseins und eines Daseienden um sich her. Indessen giebt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn, d. h. eine Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegelt, wie denn auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er sich darin, so verf?llt er in eine Geisteskrankheit, ahnet hier Dinge einer andern Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begrenzung haben, sondern als leere Nacht-R?umlichkeiten ?ngstigen und den, der sich nicht losreisst, mehr als gespensterhaft verfolgen." Aus derselben Gesinnung heraus ist der Ausspruch: "Das H?chste w?re, zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. Die Bl?ue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Ph?nomenen; sie selbst sind die Lehre."

Kant spricht dem Menschen die F?higkeit ab, in das Gebiet der Natur einzudringen, in dem ihre sch?pferischen Kr?fte unmittelbar anschaulich werden. Nach seiner Meinung sind die Begriffe abstrakte Einheiten, in die der menschliche Verstand die mannigfaltigen Einzelheiten der Natur zusammenfasst, die aber nichts zu thun haben mit der lebendigen Einheit, mit dem schaffenden Ganzen der Natur, aus der diese Einzelheiten wirklich hervorgehen. Der Mensch erlebt in dem Zusammenfassen nur eine subjektive Operation. Er kann seine allgemeinen Begriffe auf die empirische Anschauung beziehen; aber diese Begriffe sind nicht in sich lebendig, produktiv, so dass der Mensch das Hervorgehen des Individuellen aus ihnen anschauen k?nnte. Eine tote, bloss im Menschen vorhandene Einheit sind f?r Kant die Begriffe. "Unser Verstand ist ein Verm?gen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand, f?r den es freilich zuf?llig sein muss, welcherlei und wie verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden kann und was unter seine Begriffe gebracht werden kann." Dies ist Kants Charakteristik des Verstandes . Aus ihr ergiebt sich folgendes mit Notwendigkeit: "Es liegt der Vernunft unendlich viel daran, den Mechanismus der Natur in ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und in der Erkl?rung derselben nicht vorbei zu gehen; weil ohne diesen keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden kann. Wenn man uns gleich einr?umt: dass ein h?chster Architekt die Formen der Natur, so wie sie von jeher da sind, unmittelbar geschaffen, oder die, so sich in ihrem Laufe kontinuirlich nach eben demselben Muster bilden, pr?determinirt habe, so ist doch dadurch unsere Erkenntnis der Natur nicht im mindesten gef?rdert; weil wir jenes Wesens Handlungsart und die Ideen desselben, welche die Prinzipien der M?glichkeit der Naturwesen enthalten sollen, gar nicht kennen, und von demselben als von oben herab die Natur nicht erkl?ren k?nnen" . Goethe ist der ?berzeugung, dass der Mensch in seiner Ideenwelt die Handlungsart des sch?pferischen Naturwesens unmittelbar erlebt. "Wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen ann?hern sollen: so d?rft es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, dass wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen w?rdig machten." Ein wirkliches Hineinleben in das Schaffen und Walten der Natur ist f?r Goethe die Erkenntnis des Menschen. Ihr ist es gegeben: "zu erforschen, zu erfahren, wie Natur im Schaffen lebt".

Es widerspricht dem Geist der Goetheschen Weltanschauung, von Wesenheiten zu sprechen, die ausserhalb der dem menschlichen Geiste zug?nglichen Erfahrungs- und Ideenwelt liegen und die doch die Gr?nde dieser Welt enthalten sollen. Alle Metaphysik wird von dieser Weltanschauung abgelehnt. Es gibt keine Fragen der Erkenntnis, die, richtig gestellt, nicht auch beantwortet werden k?nnen. Wenn die Wissenschaft zu irgend einer Zeit ?ber ein gewisses Erscheinungsgebiet nichts ausmachen kann, so liegt das nicht an der Natur des menschlichen Geistes, sondern an dem zuf?lligen Umstande, dass die Erfahrung ?ber dieses Gebiet zu dieser Zeit noch nicht vollst?ndig vorliegt. Hypothesen k?nnen nicht ?ber Dinge aufgestellt werden, die ausserhalb des Gebietes m?glicher Erfahrung liegen, sondern nur ?ber solche, die einmal in dieses Gebiet eintreten k?nnen. Eine Hypothese kann immer nur besagen: es ist wahrscheinlich, dass innerhalb eines Erscheinungsgebietes diese oder jene Erfahrung gemacht werden wird. ?ber Dinge und Vorg?nge, die nicht innerhalb des Feldes der Beobachtung liegen, kann innerhalb dieser Denkungsart gar nicht gesprochen werden. Die Annahme eines "Dinges an sich", das die Wahrnehmungen in dem Menschen bewirkt, aber nie selbst wahrgenommen werden kann, ist eine unstatthafte Hypothese. "Hypothesen sind Ger?ste, die man vor dem Geb?ude auff?hrt, und die man abtr?gt, wenn das Geb?ude fertig ist; sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muss er das Ger?ste nicht f?r das Geb?ude ansehen." Einem Erscheinungsgebiete gegen?ber, f?r das alle Wahrnehmungen vorliegen und das ideell durchdrungen ist, erkl?rt sich der menschliche Geist befriedigt. Er hat alles, was er f?r eine Erkl?rung braucht.

Die befriedigende Grundstimmung, die Goethes Weltanschauung f?r ihn hat, ist derjenigen ?hnlich, die man bei den Mystikern beobachten kann. Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den Urgrund der Dinge, die Gottheit, zu finden. Der Mystiker ist gerade so wie Goethe davon ?berzeugt, dass ihm in inneren Erlebnissen das Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt ihm die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das innere Erlebnis, auf das es ankommt. ?ber die klaren Ideen der Vernunft hat er ungef?hr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen f?r ihn ausserhalb des schaffenden Ganzen der Natur und geh?ren nur dem menschlichen Verstande an. Der Mystiker sucht deshalb zu den h?chsten Erkenntnissen durch Erweckung besonderer Kr?fte zu gelangen. Er sucht durch Entwicklung ungew?hnlicher Zust?nde, z. B. durch Ekstase, zu einem Schauen h?herer Art zu gelangen. Er t?tet die sinnliche Beobachtung und das vernunftgem?sse Denken in sich ab, und sucht sein Gef?hlsleben zu steigern. Dann meint er in sich die wirkende Gottheit unmittelbar zu f?hlen. Er glaubt in Augenblicken, in denen ihm das gelingt, Gott lebe in ihm. Eine ?hnliche Empfindung ruft auch die Goethesche Weltanschauung in dem hervor, der sich zu ihr bekennt. Nur sch?pft sie ihre Erkenntnisse nicht aus Erlebnissen, die nach Ert?tung von Beobachtung und Denken eintreten, sondern eben aus diesen beiden Th?tigkeiten. Sie fl?chtet nicht zu abnormen Zust?nden des menschlichen Geisteslebens, sondern sie ist der Ansicht, dass die gew?hnlichen naiven Verfahrungsarten des Geistes einer solchen Vervollkommnung f?hig sind, dass der Mensch das Schaffen der Natur in sich erleben kann. "Es sind am Ende doch nur, wie mich d?nkt, die praktischen und sich selbst rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer h?heren Sph?re zu ?ben wagt." In eine Welt unklarer Empfindungen und Gef?hle versenkt sich der Mystiker; in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese Klarheit f?r oberfl?chlich. Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert den Mystiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt. Er sucht einen Weltinhalt, der W?rme ausstr?mt. Aber der, welchen er findet, kl?rt ?ber die Welt nicht auf. Er besteht nur in subjektiven Erregungen, in verworrenen Vorstellungen. Wer von der K?lte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der f?hlt in sich das Wesen der Welt in einer W?rme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist. Er f?hlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern. So hat Goethe empfunden, als ihm die Anschauung der wirkenden Natur in Italien aufging. Damals wusste er, wie jene Sehnsucht zu stillen ist, die er in Frankfurt seinen Faust mit den Worten aussprechen l?sst:

"Wo fass' ich dich, unendliche Natur? Euch Br?ste, wo? Ihr Quellen alles Lebens, An denen Himmel und Erde h?ngt, Dahin die welke Brust sich dr?ngt --".

DIE METAMORPHOSE DER WELTERSCHEINUNGEN.

Den h?chsten Grad der Reife erlangte Goethes Weltanschauung, als ihm die Anschauung der zwei grossen Triebr?der der Natur: die Bedeutung der Begriffe von Polarit?t und von Steigerung aufgieng. Die Polarit?t ist den Erscheinungen der Natur eigen, insofern wir sie materiell denken. Sie besteht darin, dass sich alles Materielle in zwei entgegengesetzten Zust?nden ?ussert, wie der Magnet in einem Nordpol und einem S?dpol. Diese Zust?nde der Materie liegen entweder offen vor Augen, oder sie schlummern in dem Materiellen und k?nnen durch geeignete Mittel in demselben erweckt werden. Die Steigerung kommt den Erscheinungen zu, insofern wir sie geistig denken. Sie kann beobachtet werden bei den Naturvorg?ngen, die unter die Idee der Entwicklung fallen. Auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung zeigen diese Vorg?nge die ihnen zu Grunde liegende Idee mehr oder weniger deutlich in ihrer ?usseren Erscheinung. In der Frucht ist die Idee der Pflanze, das vegetabilische Gesetz, nur undeutlich in der Erscheinung ausgepr?gt. Die Idee, die der Geist erkennt, und die Wahrnehmung sind einander un?hnlich. "In den Bl?ten tritt das vegetabilische Gesetz in seine h?chste Erscheinung, und die Rose w?re nur wieder der Gipfel dieser Erscheinung." In der Herausarbeitung des Geistigen aus dem Materiellen durch die schaffende Natur besteht das, was Goethe Steigerung nennt. Die Natur ist "in immerstrebendem Aufsteigen" begriffen, heisst, sie sucht Gebilde zu schaffen, die, in aufsteigender Ordnung, die Ideen der Dinge auch in der ?usseren Erscheinung immer mehr zur Darstellung bringen. Goethe ist der Ansicht, dass "die Natur kein Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen stellt". Die Natur kann Erscheinungen hervorbringen, von denen sich die Ideen f?r ein grosses Gebiet verwandter Vorg?nge unmittelbar ablesen lassen. Es sind die Erscheinungen, in denen die Steigerung ihr Ziel erreicht hat, in denen die Idee unmittelbare Wahrnehmung wird. Der sch?pferische Geist der Natur tritt hier an die Oberfl?che der Dinge; was an den grob-materiellen Erscheinungen nur dem Denken erfassbar ist, was nur mit geistigen Augen geschaut werden kann: das wird in den gesteigerten dem leiblichen Auge sichtbar. Alles Sinnliche ist hier auch geistig und alles Geistige sinnlich. Durchgeistigt denkt sich Goethe die ganze Natur. Ihre Formen sind dadurch verschieden, dass der Geist in ihnen mehr oder weniger auch ?usserlich sichtbar wird. Eine tote geistlose Materie kennt Goethe nicht. Als solche erscheinen diejenigen Dinge, in denen sich der Geist der Natur eine seinem ideellen Wesen un?hnliche ?ussere Form gibt. Weil ein Geist in der Natur und im menschlichen Innern wirkt, deshalb kann der Mensch sich zur Teilnahme an den Produktionen der Natur erheben. "Vom Ziegelstein, der dem Dache entst?rzt, bis zum leuchtenden Geistesblitz, der dir aufgeht und den du mitteilst" gilt f?r Goethe alles im Weltall als Wirkung, als Manifestation Eines sch?pferischen Geistes. "Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, h?ngen auf die stetigste Weise zusammen, gehen ineinander ?ber; sie undulieren von der ersten bis zur letzten." "Ein Ziegelstein l?st sich vom Dache los: wir nennen dies im gemeinen Sinne zuf?llig; er trifft die Schultern eines Vor?bergehenden, doch wohl mechanisch; allein nicht ganz mechanisch, er folgt den Gesetzen der Schwere, und so wirkt er physisch. Die zerrissenen Lebensgef?sse geben sogleich ihre Funktion auf; im Augenblicke wirken die S?fte chemisch, die elementaren Eigenschaften treten hervor. Allein das gest?rte organische Leben widersetzt sich eben so schnell und sucht sich herzustellen; indessen ist das menschliche Ganze mehr oder weniger bewusstlos und psychisch zerr?ttet. Die sich wiedererkennende Person f?hlt sich ethisch im tiefsten verletzt; sie beklagt ihre gest?rte Th?tigkeit, von welcher Art sie auch sei, aber ungern erg?be der Mensch sich in Geduld. Religi?s hingegen wird ihm leicht, diesen Fall einer h?heren Schickung zuzuschreiben, ihn als Bewahrung vor gr?sserem ?bel, als Einleitung zu h?herem Guten anzusehen. Dies reicht hin f?r den Leidenden; aber der Genesende erhebt sich genial, vertraut Gott und sich selbst und f?hlt sich gerettet, ergreift auch wohl das Zuf?llige, wendets zu seinem Vorteil, um einen ewig frischen Lebenskreis zu beginnen." Als Modifikationen des Geistes erscheinen Goethe alle Weltwirkungen, und der Mensch, der sich in sie vertieft und sie beobachtet von der Stufe des Zuf?lligen bis zu der des Genialen, durchlebt die Metamorphose des Geistes von der Gestalt, in der sich dieser in einer ihm un?hnlichen ?usseren Erscheinung darstellt, bis zu der, wo er in seiner ihm ureigensten Form erscheint. Einheitlich wirkend sind im Sinne der Goetheschen Weltanschauung alle sch?pferischen Kr?fte. Ein Ganzes, das sich in einer Stufenfolge von verwandten Mannigfaltigkeiten offenbart, sind sie. Goethe war aber nie geneigt, die Einheit der Welt sich als einf?rmig vorzustellen. Oft verfallen die Anh?nger des Einheitsgedankens in den Fehler, die Gesetzm?ssigkeit, die sich auf einem Erscheinungsgebiete beobachten l?sst, auf die ganze Natur auszudehnen. In diesem Falle ist z. B. die mechanistische Weltanschauung. Sie hat ein besonderes Auge und Verst?ndnis f?r das, was sich mechanisch erkl?ren l?sst. Deshalb erscheint ihr das Mechanische als das einzig Naturgem?sse. Sie sucht auch die Erscheinungen der organischen Natur auf mechanische Gesetzm?ssigkeit zur?ckzuf?hren. Ein Lebendiges ist ihr nur eine complicierte Form des Zusammenwirkens mechanischer Vorg?nge. In besonders abstossender Form fand Goethe eine solche Weltanschauung in Holbachs "Syst?me de la nature" ausgesprochen, das ihm in Strassburg in die H?nde fiel. "Eine Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Ph?nomene des Daseins hervorbringen. Dies alles w?ren wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor unsern Augen aufgebaut h?tte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als wir; denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verl?sst er sie sogleich, um dasjenige, was h?her als die Natur, oder was als h?here Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben" . In ?hnlicher Weise h?tte sich Goethe ge?ussert, wenn er den Satz du Bois-Reymonds h?tte h?ren k?nnen: "Naturerkennen ist Zur?ckf?hrung der Ver?nderungen in der K?rperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabh?ngige Centralkr?fte bewirkt werden, oder Aufl?sung der Naturvorg?nge in Mechanik der Atome." Goethe dachte sich die Arten von Naturwirkungen mit einander verwandt und in einander ?bergehend; aber er wollte sie nie auf eine einzige Art zur?ckf?hren. Er trachtete nicht nach einem abstrakten Prinzip, auf das alle Naturerscheinungen zur?ckgef?hrt werden sollen, sondern nach Beobachtung der charakteristischen Art, wie sich die sch?pferische Natur in jedem einzelnen ihrer Erscheinungsgebiete durch besondere Formen ihrer allgemeinen Gesetzm?ssigkeit offenbart. Nicht eine Gedankenform wollte er s?mtlichen Naturerscheinungen aufzw?ngen, sondern durch Einleben in verschiedene Gedankenformen wollte er sich den Geist so lebendig und biegsam erhalten, wie die Natur selbst ist. Wenn die Empfindung von der grossen Einheit alles Naturwirkens in ihm m?chtig war, dann war er Pantheist. "Ich f?r mich kann bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und K?nstler bin ich Polytheist, Pantheist als Naturforscher, und eines so entschieden als das andere. Bedarf ich eines Gottes f?r meine Pers?nlichkeit als sittlicher Mensch, so ist daf?r auch schon gesorgt." . Als K?nstler wandte sich Goethe an jene Naturerscheinungen, in denen die Idee in unmittelbarer Anschauung gegenw?rtig ist. Das Einzelne erschien hier unmittelbar g?ttlich; die Welt als eine Vielheit g?ttlicher Individualit?ten. Als Naturforscher musste Goethe auch in den Erscheinungen, deren Idee nicht in ihrem individuellen Dasein sichtbar wird, die Kr?fte der Natur verfolgen. Als Dichter konnte er sich bei der Vielheit des G?ttlichen beruhigen; als Naturforscher musste er die einheitlich wirkenden Naturideen suchen. "Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der gr?ssten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen, bringt das Objektiv-Sch?ne hervor, welches freilich w?rdige Subjekte finden muss, von denen es aufgefasst wird." Dieses Objektiv-Sch?ne im einzelnen Gesch?pf will Goethe als K?nstler anschauen; aber als Naturforscher will er "die Gesetze kennen, nach welchen die allgemeine Natur handeln will." Polytheismus ist die Denkweise, die in dem Einzelnen ein Geistiges sieht und verehrt; Pantheismus die andere, die den Geist des Ganzen erfasst. Beide Denkweisen k?nnen nebeneinander bestehen; die eine oder die andere macht sich geltend, je nachdem der Blick auf das Naturganze gerichtet ist, das Leben und Folge ist aus einem Mittelpunkte, oder auf diejenigen Individuen, in denen die Natur in einer Form vereinigt, was sie in der Regel ?ber ein ganzes Reich ausbreitet. Solche Formen entstehen, wenn z. B. die sch?pferischen Naturkr?fte nach "tausendf?ltigen Pflanzen" noch eine machen, worin "alle ?brigen enthalten", oder "nach tausendf?ltigen Tieren ein Wesen, das sie alle enth?lt: den Menschen."

Goethe macht einmal die Bemerkung: "Wer meine Schriften und mein Wesen ?berhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen m?ssen, dass er eine gewisse innere Freiheit gewonnen." Damit hat er auf die wirkende Kraft hingedeutet, die sich in allem menschlichen Erkenntnisstreben geltend macht. Solange der Mensch dabei stehen bleibt, die Gegenst?nde um sich her wahrzunehmen und ihre Gesetze als ihnen eingepflanzte Prinzipien zu betrachten, von denen sie beherrscht werden, hat er das Gef?hl, dass sie ihm als unbekannte M?chte gegen?berstehen, die auf ihn wirken und ihm die Gedanken ihrer Gesetze aufdr?ngen. Er f?hlt sich den Dingen gegen?ber unfrei; er empfindet die Gesetzm?ssigkeit der Natur als starre Notwendigkeit, der er sich zu f?gen hat. Erst wenn der Mensch gewahr wird, dass die Naturkr?fte nichts anderes sind als Formen des Geistes, der in ihm selbst wirkt, geht ihm die Einsicht auf, dass er der Freiheit teilhaftig ist. Die Naturgesetzlichkeit wird nur so lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde Gewalt ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern beth?tigt; man empfindet sich als produktiv mitwirkendes Element beim Werden und Wesen der Dinge. Man ist Du und Du mit aller Werdekraft. Man hat in sein eigenes Thun das aufgenommen, was man sonst nur als ?usseren Antrieb empfindet. Dies ist der Befreiungsprozess, den im Sinne der Goetheschen Weltanschauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die Ideen des Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den italienischen Kunstwerken entgegenblickten. Eine klare Empfindung hatte er auch von der befreienden Wirkung, die das Innehaben dieser Ideen auf den Menschen aus?bt. Eine Folge dieser Empfindung ist seine Schilderung derjenigen Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister bezeichnet. "Die Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen k?nnte, verhalten sich im h?chsten Sinne produktiv; indem sie n?mlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermassen nachher die Sache der Natur sich in diese Idee zu f?gen." Zu der unmittelbaren Anschauung des Befreiungsaktes hat es aber Goethe nie gebracht. Diese Anschauung kann nur derjenige haben, der sich selbst bei seinem Erkennen belauscht. Goethe hat zwar die h?chste Erkenntnisart ausge?bt; aber er hat diese Erkenntnisart nicht an sich beobachtet. Gesteht er doch selbst:

"Wie hast du's denn so weit gebracht? Sie sagen, du habest es gut vollbracht!" Mein Kind! Ich hab' es klug gemacht; Ich habe nie ?ber das Denken gedacht.

Aber so wie die sch?pferischen Naturkr?fte "nach tausendf?ltigen Pflanzen" noch eine machen, worin "alle ?brigen enthalten" sind, so bringen sie auch nach tausendf?ltigen Ideen noch eine hervor, worin die ganze Ideenwelt enthalten ist. Und diese Idee erfasst der Mensch, wenn er ?ber sein Denken nachdenkt. Eben weil Goethes Denken stets mit den Gegenst?nden der Anschauung erf?llt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des Denkens. An dem Zustandekommen aller ?brigen Anschauungen ist der Mensch unbeteiligt. In ihm leben die Ideen dieser Anschauungen auf. Diese Ideen w?rden aber nicht da sein, wenn in ihm nicht die produktive Kraft vorhanden w?re, sie zur Erscheinung zu bringen. Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen sind, was in den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie durch die menschliche Th?tigkeit. Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Th?tigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung ausserhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozess restlos in seinem Innern gegenw?rtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen; denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Der Mensch, der diese in sich selbst ruhende Th?tigkeit anschaut, f?hlt die Freiheit. Goethe hat diese Empfindung zwar erlebt, aber nie in der h?chsten Form. Er ?bte in seiner Naturbetrachtung eine freie Th?tigkeit; aber sie wurde ihm nie gegenst?ndlich. Er hat nie hinter die Kulissen des menschlichen Erkennens geschaut, und deshalb die Idee des Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner h?chsten Metamorphose nie in sein Bewusstsein aufgenommen. Sobald der Mensch zur Anschauung dieser Metamorphose gelangt, bewegt er sich sicher im Reich der Dinge. Er hat in dem Mittelpunkte seiner Pers?nlichkeit den wahren Ausgangspunkt f?r alle Weltbetrachtung gewonnen. Er wird nicht mehr nach unbekannten Gr?nden, nach g?ttlichen Ursachen der Dinge forschen; er weiss, dass das h?chste Erlebnis, dessen er f?hig ist, in der Selbstbetrachtung der eigenen Wesenheit besteht. Wer ganz durchdrungen ist von den Gef?hlen, die dieses Erlebnis hervorruft, der wird die wahrsten Verh?ltnisse zu den Dingen gewinnen. Bei wem das nicht der Fall ist, der wird die h?chste Form des Daseins anderswo suchen, und, da er sie in der Erfahrung nicht finden kann, in einem unbekannten Gebiet der Wirklichkeit vermuten. Seine Betrachtung der Dinge wird etwas Unsicheres bekommen; er wird sich bei der Beantwortung der Fragen, die ihm die Natur stellt, fortw?hrend auf ein Unerforschliches berufen. Weil Goethe durch sein Leben in der Ideenwelt ein Gef?hl hatte von dem festen Mittelpunkt innerhalb der Pers?nlichkeit, ist es ihm gelungen innerhalb bestimmter Grenzen im Naturbetrachten zu sicheren Begriffen zu kommen. Weil ihm aber die unmittelbare Anschauung des innersten Erlebnisses abging, tastet er ausserhalb dieser Grenzen unsicher umher. Er redet aus diesem Grunde davon, dass der Mensch nicht geboren sei, die "Probleme der Welt zu l?sen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten." Er sagt: "Kant hat unstreitig am meisten gen?tzt, indem er Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen f?hig sei, und dass er die unaufl?slichen Probleme liegen liess." H?tte ihm die Anschauung des h?chsten Erlebnisses Sicherheit in der Betrachtung der Dinge gegeben, so h?tte er auf seinem Wege mehr gekonnt als "durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverl?ssigkeit gelangen". Statt geradewegs durch die Erfahrung durchzuschreiten in dem Bewusstsein, dass das Wahre nur eine Bedeutung hat, insoweit es von der menschlichen Natur gefordert wird, gelangt er doch zu der ?berzeugung, dass "ein h?herer Einfluss die Standhaften, die Th?tigen, die Verst?ndigen, die Geregelten und Regelnden, die Menschlichen, die Frommen" beg?nstige und dass sich "die moralische Weltordnung" am sch?nsten da zeige, wo sie "dem Guten, dem wacker Leidenden mittelbar zu Hilfe kommt."

Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kannte, war es ihm unm?glich, zu den Gedanken ?ber die sittliche Weltordnung zu gelangen, die zu seiner Naturanschauung notwendig geh?ren. Die Ideen der Dinge sind der Inhalt des in den Dingen Wirksamen und Schaffenden. Die sittlichen Ideen erlebt der Mensch unmittelbar in der Ideenform. Wer zu erleben imstande ist, wie in der Anschauung der Ideenwelt das Ideelle sich selbst zum Inhalt wird, sich mit sich selbst erf?llt, der ist auch in der Lage, die Produktion des Sittlichen innerhalb der menschlichen Natur zu erleben. Wer die Naturideen nur in ihrem Verh?ltnis zu der Anschauungswelt kennt, der wird auch die sittlichen Begriffe auf etwas ihnen ?usseres beziehen wollen. Er wird eine ?hnliche Wirklichkeit f?r diese Begriffe suchen, wie sie f?r die aus der Erfahrung gewonnenen Begriffe vorhanden ist. Wer aber Ideen in ihrer eigensten Wesenheit anzuschauen vermag, der wird bei den sittlichen gewahr, dass nichts ?usseres ihnen entspricht, dass sie unmittelbar als Ideen produziert werden. Ihm ist klar, dass weder ein g?ttlicher Wille, noch eine sittliche Weltordnung wirksam sind, um diese Ideen zu erzeugen. Denn es ist in ihnen nichts von einem Bezug auf solche Gewalten zu bemerken. Alles was sie aussprechen, ist in ihrer reinen Ideenform auch eingeschlossen. Nur durch ihren eigenen Inhalt wirken sie auf den Menschen als sittliche M?chte. Kein kategorischer Imperativ steht mit der Peitsche hinter ihnen und dr?ngt den Menschen, ihnen zu folgen. Der Mensch empfindet, dass er sie selbst hervorgebracht hat und liebt sie, wie man sein Kind liebt. Die Liebe ist das Motiv des Handelns. Die Lust am eigenen Erzeugnis ist der Quell des Sittlichen.

Es gibt Menschen, die keine sittlichen Ideen zu produzieren verm?gen. Sie nehmen diejenigen anderer Menschen durch ?berlieferung in sich auf. Und wenn sie kein Anschauungsverm?gen f?r Ideen als solche haben, erkennen sie den menschlichen Ursprung des Sittlichen nicht. Sie suchen ihn in einem ?bermenschlichen, g?ttlichen Willen. Oder sie glauben, dass eine ausserhalb des Menschen bestehende objektive sittliche Weltordnung bestehe, aus der die moralischen Ideen stammen. In dem Gewissen des Menschen wird oft das Sprachorgan dieser Weltordnung gesucht. Wie in seiner ?brigen Weltanschauung ist Goethe auch in seinen Gedanken ?ber den Ursprung des Sittlichen unsicher. Auch hier treibt sein Gef?hl f?r das Ideengem?sse S?tze hervor, die den Forderungen seiner Natur gem?ss sind. "Pflicht: wo man liebt, was man sich selbst befiehlt." Nur wer die Gr?nde des Sittlichen rein in dem Inhalt der sittlichen Ideen sieht, sollte sagen: "Lessing, der mancherlei Beschr?nkung unwillig f?hlte, l?sst eine seiner Personen sagen: Niemand muss m?ssen. Ein geistreicher, frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der muss. Ein dritter, freilich ein Gebildeter, f?gte hinzu: Wer einsieht, der will auch. Und so glaubte man den ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und M?ssens abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntnis des Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Thun und Lassen; deswegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln zu sehen." Dass in Goethe ein Gef?hl f?r die echte Natur des Sittlichen herrscht, welches sich nur nicht zur klaren Anschauung erhebt, zeigt folgender Ausspruch: "Der Wille muss, um vollkommen zu werden, sich im Sittlichen dem Gewissen, das nicht irrt, f?gen ... Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, mit ihm ist alles gegeben; es hat nur mit der eigenen innern Welt zu thun." Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, kann nur heissen: der Mensch findet in sich keinen sittlichen Inhalt urspr?nglich vor; er gibt sich ihn selbst. Diesen Ausspr?chen stehen andere gegen?ber, die den Ursprung des Sittlichen in ein Gebiet ausserhalb des Menschen verlegen: "Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick sehnend zum Himmel auf, weil er tief und klar in sich f?hlt, dass er ein B?rger jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen, noch aufzugeben verm?gen." "Was gar nicht aufzul?sen ist, ?berlassen wir Gott als dem allbedingenden und allbefreienden Wesen."

F?r die Betrachtung der innersten Menschennatur, f?r die Selbstbeschauung fehlt Goethe das Organ. "Hierbei bekenne ich, dass mir von jeher die grosse und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer verd?chtig vorkam, als eine List geheim verb?ndeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Th?tigkeit gegen die Aussenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schliesst ein neues Organ in uns auf." Davon ist gerade das Umgekehrte wahr: der Mensch kennt die Welt nur, insofern er sich kennt. Denn in seinem Innern offenbart sich in ureigenster Gestalt, was in den Aussendingen nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol als Anschauung vorhanden ist. Wovon der Mensch sonst nur als von einem Unergr?ndlichen, Unerforschlichen, G?ttlichen sprechen kann: das tritt ihm in der Selbstanschauung in wahrer Gestalt vor Augen. Weil er in der Selbstanschauung das Ideelle in unmittelbarer Gestalt sieht, gewinnt er die Kraft und F?higkeit, dieses Ideelle auch in aller ?usseren Erscheinung, in der ganzen Natur aufzusuchen und anzuerkennen. Wer den Augenblick der Selbstanschauung erlebt hat, denkt nicht mehr daran, hinter den Erscheinungen einen verborgenen Gott zu suchen; er ergreift das G?ttliche in seinen verschiedenen Metamorphosen in der Natur. Goethe bemerkt in Beziehung auf Schelling: "Ich w?rde ihn ?fters sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerst?rt bei mir die Poesie, und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt treibt, indem ich mich nie rein spekulativ erhalten kann, sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muss und deshalb gleich in die Natur hinaus fliehe." Die h?chste Anschauung, die Anschauung der Ideenwelt selbst, hat er eben nicht finden k?nnen. Sie kann die Poesie nicht zerst?ren, denn sie befreit den Geist nur von allen Vermutungen, dass in der Natur ein Unbekanntes, Unergr?ndliches sein k?nne. Daf?r aber macht sie ihn f?hig, sich unbefangen, ganz den Dingen hinzugeben; denn sie gibt ihm die ?berzeugung, dass aus der Natur alles zu entnehmen ist, was der Geist von ihr nur w?nschen kann.

Die h?chste Anschauung befreit aber den Menschengeist auch von allem Abh?ngigkeitsgef?hl. Er f?hlt sich durch ihren Besitz souver?n im Reiche der sittlichen Weltordnung. Er weiss, dass die Triebkraft, die alles hervorbringt, in seinem Innern als sein eigener Wille wirkt, und dass die h?chsten Entscheidungen ?ber Sittliches in ihm selbst liegen. Denn diese h?chsten Entscheidungen fliessen aus der Welt der sittlichen Ideen, die der Mensch selbst produziert. Mag der Mensch im einzelnen sich beschr?nkt f?hlen, mag er auch von tausend Dingen abh?ngig sein; im ganzen gibt er sich sein sittliches Ziel und seine sittliche Richtung. Das Wirksame aller ?brigen Dinge kommt im Menschen als Idee zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die er selbst hervorbringt. In jeder einzelnen menschlichen Individualit?t vollzieht sich der Prozess, der im Ganzen der Natur sich abspielt: die Sch?pfung eines Tats?chlichen aus der Idee heraus. Und der Mensch selbst ist der Sch?pfer. Denn auf dem Grunde seiner Pers?nlichkeit lebt die Idee, die sich selbst einen Inhalt gibt. ?ber Goethe hinausgehend, muss man seinen Satz erweitern, die Natur sei "in dem Reichtum der Sch?pfung so gross, nach tausendf?ltigen Pflanzen eine zu machen, worin alle ?brigen enthalten sind, und nach tausendf?ltigen Tieren ein Wesen, das sie alle enth?lt, den Menschen". Die Natur ist in ihrer Sch?pfung so gross, dass sie den Prozess, durch den sie frei aus der Idee heraus alle Gesch?pfe hervorbringt, in jedem Menschenindividuum wiederholt, indem die sittlichen Handlungen aus dem ideellen Grunde der Pers?nlichkeit entspringen. Was der Mensch auch als objektiven Grund seines Handelns empfindet, es ist alles nur Umschreibung und zugleich Verkennung seiner eigenen Wesenheit. Sich selbst realisiert der Mensch in seinem sittlichen Handeln. In lapidaren S?tzen hat Max Stirner diese Erkenntnis in seiner Schrift "Der Einzige und sein Eigentum" ausgesprochen. "Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin es dann, wenn ich mich als Einzigen weiss. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein sch?pferisches Nichts zur?ck, aus welchem er geboren wird. Jedes h?here Wesen ?ber mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schw?cht das Gef?hl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell' ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem verg?nglichen, dem sterblichen Sch?pfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt." Aber zugleich darf ich, wie Faust zu Mephistopheles sagen: "In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden", denn in meinem Innern wohnt in individueller Bildung die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All schafft. So lange der Mensch in sich diese Wirkungskraft nicht geschaut hat, wird er sich ihr gegen?ber erscheinen wie Faust dem Erdgeist gegen?ber. Sie wird ihm stets die Worte zurufen: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!" Erst die Anschauung des tiefsten Innenlebens zaubert diesen Geist hervor, der von sich sagt:

In Lebensfluten, im Thatensturm Wall' ich auf und ab, Webe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein gl?hend Leben. So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Ich habe in meiner "Philosophie der Freiheit" darzustellen versucht, wie die Erkenntnis, dass der Mensch in seinem Tun auf sich selbst gestellt ist, hervorgeht aus dem innersten Erlebnis, aus der Anschauung der eigenen Wesenheit. Stirner hat bereits 1844 die Ansicht verteidigt, dass der Mensch, wenn er sich wahrhaft versteht, nur in sich selbst den Grund f?r seine Wirksamkeit sehen k?nne. Bei ihm geht aber diese Erkenntnis nicht aus der Anschauung des innersten Erlebnisses, sondern aus dem Gef?hle der Freiheit und Ungebundenheit gegen?ber allen, Zwang heischenden Weltm?chten hervor. Stirner bleibt bei der Forderung der Freiheit stehen; ich versuche das Leben in der Freiheit zu schildern, indem ich zeige, was der Mensch erblickt, wenn er auf den Grund seiner Seele sieht. Goethe ist bis zu der Anschauung der Freiheit nicht gekommen, weil er eine Abneigung gegen die Selbsterkenntnis hatte. W?re das nicht der Fall gewesen, so h?tte die Erkenntnis des Menschen als einer freien, auf sich selbst gegr?ndeten Pers?nlichkeit die Spitze seiner Weltanschauung bilden m?ssen. Die Keime zu dieser Erkenntnis treten uns bei ihm ?berall entgegen; sie sind zugleich die Keime seiner Naturansicht.

Innerhalb seiner eigentlichen Naturstudien spricht Goethe nirgends von unerforschlichen Gr?nden, von verborgenen Triebkr?ften der Erscheinungen. Er begn?gt sich damit, die Erscheinungen in ihrer Folge zu beobachten und sie mit Hilfe derjenigen Elemente zu erkl?ren, die sich den Sinnen und dem Geiste bei der Beobachtung offenbaren. Am 5. Mai 1786 schreibt er in diesem Sinne an Jacobi, dass er den Mut habe, sein "ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen, die er reichen" und von deren Wesenheit er sich "eine ad?quate Idee zu bilden hoffen kann", ohne sich im mindesten zu bek?mmern, wie weit er kommen werde, und was ihm zugeschnitten ist. Wer sich dem G?ttlichen in dem einzelnen Naturdinge zu n?hern glaubt, der braucht sich nicht mehr eine besondere Vorstellung von einem Gotte zu bilden, der ausser und neben den Dingen existiert. Nur wenn Goethe das Gebiet der Natur verl?sst, dann h?lt auch sein Gef?hl f?r die Wesenheit der Dinge nicht mehr stand. Dann f?hrt ihn der Mangel an menschlicher Selbsterkenntnis zu Behauptungen, die weder mit seiner ihm angeborenen Denkweise, noch mit der Richtung seiner Naturstudien zu vereinigen sind. Wer Neigung hat, sich auf solche Behauptungen zu berufen, der mag annehmen, dass Goethe an einen pers?nlichen Gott und eine individuelle Fortdauer des Individuums geglaubt habe. Mit seinen Naturstudien steht ein solcher Glaube im Widerspruch. Sie h?tten nie die Richtung nehmen k?nnen, die sie genommen haben, wenn sich Goethe bei ihnen von diesem Glauben h?tte bestimmen lassen. Es wird Aufgabe einer besonderen Schrift sein, die psychologischen Gr?nde blosszulegen, die Goethe trotz der Richtung seiner Naturstudien zu Ausspr?chen f?hrten, die auf einen bei ihm vorhandenen Glauben an einen pers?nlichen Gott und an eine individuelle Fortdauer deuten. Als die Naturstudien in Goethes Lebensf?hrung zur?cktraten, nahm er christliche und selbst mystische Elemente in sein Vorstellungsleben auf. Und mit zunehmendem Alter nahmen auch diese Elemente an Bedeutung f?r seine Weltanschauung zu. Hier habe ich mir weder die Aufgabe gestellt, die aufsteigende Entwicklung Goethes zu zeigen, die darin besteht, dass sein eigenes Wesen den Einfluss der christlich-religi?sen und philosophisch-platonischen Vorstellungen, die in seiner Jugend an ihn herantraten, allm?hlich ?berwand und sich selbst herausarbeitete; noch wollte ich die absteigende Entwicklung charakterisieren, die ihn wieder zu christlichen und mystischen Vorstellungen hinf?hrte. Er selbst sah die ?nderung der Weltanschauung als Folge der verschiedenen Lebensalter an. Als F?rster die Ansicht aussprach, die L?sung des Faust-Problems werde sich aus dem Worte ergeben: "Ein guter Mensch in seinem dunkelen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst" entgegnete Goethe: "Das w?re ja Aufkl?rung; Faust endet als Greis, und im Greisenalter werden wir Mystiker" . Und in den Prosaspr?chen lesen wir: "Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie. Das Kind erscheint als Realist; denn es findet sich so ?berzeugt von dem Dasein der Birnen und ?pfel als von dem seinigen. Der J?ngling, von inneren Leidenschaften best?rmt, muss auf sich selbst merken, sich vorf?hlen, er wird zum Idealisten umgewandelt. Dagegen ein Sceptiker zu werden, hat der Mann alle Ursache; er thut wohl zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke gew?hlt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln, im Handeln hat er alle Ursache, den Verstand beweglich zu erhalten, damit er nicht nachher sich ?ber eine falsche Wahl zu betr?ben habe. Der Greis jedoch wird sich immer zum Mysticismus bekennen; er sieht, dass so vieles vom Zufall abzuh?ngen scheint; das Unvern?nftige gelingt, das Vern?nftige schl?gt fehl, Gl?ck und Ungl?ck stellen sich unerwartet ins gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem: der da ist, der da war und der da sein wird" .

Ich habe in dieser Schrift die Weltanschauung Goethes im Auge, aus der seine Einsichten in das Leben der Natur hervorgewachsen sind und welche die treibende Kraft in ihm war von der Entdeckung des Zwischenknochens beim Menschen bis zur Vollendung der Farbenlehre. Und ich glaube gezeigt zu haben, dass diese Weltanschauung vollkommener der Gesamtpers?nlichkeit Goethes entspricht, als die Ansichten seiner Jugend- und auch die seiner Altersepoche. Ich glaube, Goethe hat in seinen Naturstudien, wenn auch nicht geleitet von einer klaren, ideengem?ssen Selbsterkenntnis, so doch von einem richtigen Gef?hle, eine freie aus dem wahren Verh?ltnis der menschlichen Natur zur Aussenwelt fliessende Verfahrungsweise beobachtet. Goethe ist sich selbst dar?ber klar, dass in seiner Denkweise etwas Unvollendetes liegt: "Ich war mir edler, grosser Zwecke bewusst, konnte aber niemals die Bedingungen begreifen, unter denen ich wirkte; was mir mangelte, merkte ich wohl, was an mir zu viel sei, gleichfalls; deshalb unterliess ich es nicht, mich zu bilden, nach aussen und von innen. Und doch blieb es beim Alten. Ich verfolgte jeden Zweck mit Ernst, Gewalt und Treue; dabei gelang mir oft, widerspenstige Bedingungen vollkommen zu ?berwinden, oft aber auch scheiterte ich daran, weil ich nachgeben und umgehen nicht lernen konnte. Und so ging mein Leben hin unter Thun und Geniessen, Leiden und Widerstreben, unter Liebe, Zufriedenheit, Hass und Missfallen Anderer. Hieran spiegele sich, dem das gleiche Schicksal geworden!"

DIE ANSCHAUUNGEN ?BER NATUR UND ENTWICKLUNG DER LEBEWESEN.

DIE METAMORPHOSENLEHRE.

Man kann Goethes Verh?ltnis zu den Naturwissenschaften nicht verstehen, wenn man sich bloss an die Einzelentdeckungen h?lt, die er gemacht hat. Ich sehe als leitenden Gesichtspunkt f?r die Betrachtung dieses Verh?ltnisses die Worte an, die Goethe am 18. August 1787 von Italien aus an Knebel gerichtet hat: "Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, w?rde ich, wenn ich zehn Jahre j?nger w?re, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen." Auf die Art, wie Goethe die ihm bekannten Naturerscheinungen in einer seiner Denkungsart gem?ssen Naturansicht zusammengefasst hat, scheint es mir anzukommen. Wenn alle die Einzelentdeckungen, die ihm gelungen sind, schon vor ihm gemacht gewesen w?ren, und er uns nichts als seine Naturansicht gegeben h?tte, so schm?lerte dies die Bedeutung seiner Naturstudien nicht im geringsten. Ich bin mit du Bois-Reymond einer Meinung dar?ber, dass "auch ohne Goethes Beteiligung die Wissenschaft heute so weit w?re, wie sie ist", dass "die ihm gelungenen Schritte fr?her oder sp?ter andere gethan h?tten." . Ich kann diese Worte nur nicht, wie es du Bois-Reymond tut, auf den ganzen Umfang von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten beziehen. Ich beschr?nke sie auf die in ihrem Verlaufe gemachten Einzelentdeckungen. Keine einzige derselben w?rde uns wahrscheinlich heute fehlen, wenn Goethe sich nie mit Botanik, mit Anatomie u. s. w. besch?ftigt h?tte. Seine Naturansicht aber ist ein Ausfluss seiner Pers?nlichkeit; kein Anderer h?tte zu ihr kommen k?nnen. Ihn interessierten auch nicht die Einzelentdeckungen. Sie dr?ngten sich ihm w?hrend seiner Studien von selbst auf, weil ?ber die Tatsachen, die sie betreffen, zu seiner Zeit Ansichten Geltung hatten, die unvereinbar mit seiner Art, die Dinge anzusehen, waren. H?tte er mit dem, was die Naturwissenschaft ihm ?berlieferte, seine Anschauung aufbauen k?nnen: so w?rde er sich nie mit Detailstudien besch?ftigt haben. Er musste ins Einzelne gehen, weil das, was ihm ?ber das Einzelne von den Naturforschern gesagt wurde, seinen Forderungen nicht entsprach. Und nur wie zuf?llig ergaben sich bei diesen Detailstudien die Einzelentdeckungen. Ihn besch?ftigte zun?chst nicht die Frage: ob der Mensch wie die ?brigen Tiere einen Zwischenkieferknochen in der oberen Kinnlade habe. Er wollte den Plan entdecken, nach dem die Natur die Stufenfolge der Tiere und auf der H?he dieser Stufenfolge den Menschen bildet. Das gemeinsame Urbild, das allen Tiergattungen und zuletzt in seiner h?chsten Vollkommenheit auch der Menschengattung zu Grunde liegt, wollte er finden. Die Naturforscher sagten ihm: es besteht ein Unterschied im Bau des tierischen und des menschlichen K?rpers. Die Tiere haben in der oberen Kinnlade den Zwischenknochen, der Mensch hat ihn nicht. Seine Ansicht war, dass sich der menschliche Bau nur dem Grade der Vollkommenheit nach von dem tierischen unterscheiden k?nne, nicht aber in Einzelheiten. Denn, wenn das letztere der Fall w?re, k?nnte nicht ein gemeinsames Urbild der tierischen und der menschlichen Organisation zu Grunde liegen. Er konnte mit der Behauptung der Naturforscher nichts anfangen. Deshalb suchte er nach dem Zwischenknochen beim Menschen und fand ihn. ?hnliches ist bei allen seinen Einzelentdeckungen zu beobachten. Sie sind ihm nie Selbstzweck. Sie m?ssen gemacht werden, um seine Vorstellungen ?ber die Naturerscheinungen als berechtigt erscheinen zu lassen.

Im Gebiete der organischen Naturerscheinungen ist das Bedeutsame in Goethes Ansicht die Vorstellung, die er vom Wesen des Lebens ausbildete. Nicht auf die Betonung der Tatsache, dass Blatt, Kelch, Krone u. s. w. Organe an der Pflanze sind, die mit einander identisch sind, und sich aus einem gemeinschaftlichen Grundgebilde entwickeln, kommt es an. Sondern darauf, welche Vorstellung Goethe von dem Ganzen der Pflanzennatur als einem Lebendigen hatte und wie er sich das Einzelne aus diesem Ganzen hervorgehend dachte. Seine Idee von dem Wesen des Organismus ist seine ureigenste zentrale Entdeckung im Gebiete der Biologie zu nennen. Dass sich in der Pflanze, in dem Tiere etwas anschauen lasse, was der blossen Sinnenbeobachtung nicht zug?nglich ist, war Goethes Grund?berzeugung. Was das leibliche Auge an dem Organismus beobachten kann, scheint Goethe nur die Folge zu sein des lebendigen Ganzen durcheinander wirkender Bildungsgesetze, die dem geistigen Auge allein zug?nglich sind. Was er mit dem geistigen Auge an der Pflanze, an dem Tier erschaut, das hat er beschrieben. Nur wer ebenso wie er zu sehen f?hig ist, kann seine Idee von dem Wesen des Organismus nachdenken. Wer bei dem stehen bleibt, was die Sinne und das Experiment liefern, der kann Goethe nicht verstehen. Wenn wir seine beiden Gedichte lesen "die Metamorphose der Pflanzen" und "die Metamorphose der Tiere", so scheint es zun?chst, als ob die Worte uns nur von einem Glied des Organismus zum andern f?hrten, als ob bloss ?usserlich Tats?chliches verkn?pft werden sollte. Wenn wir uns aber durchdringen mit dem, was Goethe als Idee des Lebewesens vorschwebt, dann f?hlen wir uns in die Sph?re des Lebendig-Organischen versetzt, und aus einer centralen Vorstellung wachsen die Vorstellungen ?ber die einzelnen Organe hervor.

Als Goethe anfieng selbst?ndig ?ber die Erscheinungen der Natur nachzusinnen, nahm vor allem Andern der Begriff des Lebens seine Aufmerksamkeit in Anspruch. In einem Briefe aus der Strassburger Zeit vom 14. Juli 1770 schreibt er von einem Schmetterling: "Das arme Tier zittert im Netz, streift sich die sch?nsten Farben ab; und wenn man es ja unversehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es geh?rt noch etwas dazu, noch ein Hauptst?ck und bei der Gelegenheit, wie bei jeder andern, ein haupts?chliches Hauptst?ck: das Leben." -- Dass ein Organismus nicht wie ein totes Naturprodukt betrachtet werden kann, dass noch mehr darin steckt als die Kr?fte, die auch in der unorganischen Natur leben, war Goethe von vornherein klar. Wenn du Bois-Reymond meint, dass "die rein mechanische Weltkonstruktion, welche heute die Wissenschaft ausmacht, dem Weimarschen Dichterf?rsten nicht minder verhasst gewesen w?re, als einst Friederikens Freund das syst?me de la nature", so hat er unzweifelhaft Recht; und nicht minder hat er Recht mit den andern Worten: von dieser Weltkonstruktion, die "durch die Urzeugung an die Kant-Laplacesche Theorie grenzt, von der Entstehung des Menschen aus dem Chaos durch das von Ewigkeit zu Ewigkeit mathematisch bestimmte Spiel der Atome, von dem eisigen Weltende -- von diesen Bildern, welche unser Geschlecht so unf?hlend ins Auge fasst, wie es sich an die Schrecknisse des Eisenbahnfahrens gew?hnte -- h?tte Goethe sich schaudernd abgewandt" . Gewiss h?tte er sich schaudernd abgewandt, weil er einen h?hern Begriff des Lebendigen suchte und ihn auch fand als den eines komplizierten, mathematisch bestimmten Mechanismus. Nur wer unf?hig ist, einen solchen h?hern Begriff zu fassen und das Lebendige mit dem Mechanischen identifiziert, weil er am Organismus nur das Mechanische zu sehen vermag, der wird sich f?r die mechanische Weltkonstruktion und ihr Spiel der Atome erw?rmen und unf?hlend die Bilder ins Auge fassen, die du Bois-Reymond entwirft. Wer aber den Begriff des Organischen im Sinne Goethes in sich aufnehmen kann, der wird ?ber seine Berechtigung ebensowenig streiten wie ?ber das Vorhandensein des Mechanischen. Man streitet ja auch nicht mit dem Farbenblinden ?ber die Farbenwelt. Alle Anschauungen, welche das Organische sich mechanisch vorstellen, verfallen dem Richterspruch, den Goethe seinen Faust sagen l?sst:

"Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben Sucht erst den Geist herauszutreiben; Dann hat er die Teile in der Hand, Fehlt, leider! nur das geistige Band."

Die M?glichkeit, sich intimer mit dem Leben der Pflanzen zu besch?ftigen, fand sich f?r Goethe, als ihm der Herzog Karl August am 21. April 1776 einen Garten schenkte. Auch durch die Streifz?ge im Th?ringerwald, auf denen er die Lebenserscheinungen der niederen Organismen beobachten konnte, wird Goethe angeregt. Moose und Flechten nehmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Am 31. Oktober bittet er Frau von Stein um Moose von allen Sorten, wom?glich mit den Wurzeln und feucht, damit er sie ben?tzen k?nne, um die Fortpflanzung zu beobachten. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass Goethe sich im Anfange seiner botanischen Studien mit den niederen Pflanzenformen besch?ftigte. Denn er hat sp?ter bei der Konzeption seiner Idee der Urpflanze nur die h?heren Pflanzen ber?cksichtigt. Dies kann also nicht davon herr?hren, dass ihm das Gebiet der niederen fremd war, sondern davon, dass er die Geheimnisse der Pflanzennatur an den h?heren deutlicher ausgepr?gt glaubte. Er wollte die Idee der Natur da aufsuchen, wo sie sich am klarsten offenbart und dann von dem Vollkommenen zum Unvollkommenen herabsteigen, um dieses aus jenem zu begreifen. Nicht das Zusammengesetzte wollte er durch das Einfache erkl?ren; sondern jenes mit einem Blick als wirkendes Ganzes ?berschauen und dann das Einfache und Unvollkommene als einseitige Ausbildung des Zusammengesetzten und Vollkommenen erkl?ren. Wenn die Natur f?hig ist, nach unz?hligen Pflanzenformen noch eine zu machen, die sie alle enth?lt, so muss auch dem Geiste beim Anschauen dieser vollkommenen Form das Geheimnis der Pflanzenbildung in unmittelbarer Anschauung aufgehen, und er wird dann leicht das an dem Vollkommenen Beobachtete auf das Unvollkommene anwenden k?nnen. Umgekehrt machen es die Naturforscher, die das Vollkommene nur als eine mechanische Summe der einfachen Vorg?nge ansehen. Sie gehen von diesem Einfachen aus und leiten das Vollkommene von demselben ab.

Als sich Goethe nach einem wissenschaftlichen F?hrer f?r seine botanischen Studien umsah, konnte er keinen andren finden als Linn?. Wir erfahren von seiner Besch?ftigung mit Linn? zuerst aus den Briefen an Frau von Stein vom Jahre 1782. Wie ernst es Goethe mit seinen naturwissenschaftlichen Bestrebungen war, geht aus dem Interesse hervor, das er an Linn?s Schriften genommen hat. Er gesteht, dass nach Shakespeare und Spinoza auf ihn die gr?sste Wirkung von Linn? ausgegangen ist. Aber wie wenig konnte ihn Linn? befriedigen. Goethe wollte die verschiedenen Pflanzenformen beobachten, um das Gemeinsame, das in ihnen lebt, zu erkennen. Er wollte wissen, was alle diese Gebilde zu Pflanzen macht. Und Linn? hatte sich damit begn?gt, die mannigfaltigsten Pflanzenformen in einer bestimmten Ordnung nebeneinander zu stellen und zu beschreiben. Hier stiess Goethes naive, unbefangene Naturbeobachtung in einem einzelnen Falle auf die durch den Platonismus beeinflusste Denkweise der Wissenschaft. Diese Denkweise sieht in den einzelnen Formen Verwirklichungen urspr?nglicher, nebeneinander bestehender platonischer Ideen oder Sch?pfungsgedanken. Goethe sieht in dem einzelnen Gebilde nur eine besondere Ausgestaltung eines ideellen Urwesens, das in allen Formen lebt. Jene Denkweise will m?glichst genau die einzelnen Formen unterscheiden, um die Vielgliedrigkeit der Ideenformen, oder des Sch?pfungsplanes zu erkennen; Goethe will die Vielgliedrigkeit des Besonderen aus der urspr?nglichen Einheit erkl?ren. Dass vieles in mannigfaltigen Formen da ist, ist f?r jene Denkungsart ohne weiteres klar, denn schon die idealen Urbilder sind f?r sie das Mannigfaltige. F?r Goethe ist das nicht klar, denn das Viele geh?rt nach seiner Ansicht nur zusammen, wenn sich Eines darin offenbart. Goethe sagt deshalb, was Linn? "mit Gewalt auseinander zu halten suchte, musste, nach dem innersten Bed?rfnis meines Wesens, zur Vereinigung anstreben". Linn? nimmt die vorhandenen Formen einfach hin, ohne darnach zu fragen, wie sie aus einer Grundform geworden sind: "Spezies z?hlen wir so viele, als verschiedene Formen im Prinzip geschaffen worden sind:" dies ist sein Grundsatz. Goethe sucht im Pflanzenreich das Wirksame, das durch Spezifizierung der Grundform das Einzelne schafft.

Ein naiveres Verh?ltnis zur Pflanzenwelt als bei Linn? fand Goethe bei Rousseau. Am 16. Juni 1782 schreibt er an Karl August: "In Rousseaus Werken finden sich allerliebste Briefe ?ber die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf das fasslichste und zierlichste einer Dame vortr?gt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und eine Beilage zum Emil. Ich nehme daher Anlass, das sch?ne Reich der Blumen meinen sch?nen Freundinnen aufs neue zu empfehlen." In seiner "Geschichte meines botanischen Studiums" legt Goethe dar, was ihn zu Rousseaus botanischen Ideen hingezogen hat: "Sein Verh?ltnis zu Pflanzenfreunden und Kennern, besonders zu der Herzogin von Portland, mag seinen Scharfblick mehr in die Breite gewiesen haben, und ein Geist wie der seinige, der den Nationen Ordnung und Gesetz vorzuschreiben sich berufen f?hlt, musste doch zu der Vermutung gelangen, dass in dem unermesslichen Pflanzenreiche keine so grosse Mannigfaltigkeit der Formen erscheinen k?nnte, ohne dass ein Grundgesetz, es sei noch so verborgen, sie wieder s?mtlich zur Einheit zur?ckbr?chte." Ein solches Grundgesetz, das die Mannigfaltigkeit zur Einheit zur?ckbringt, von der sie urspr?nglich ausgegangen ist, sucht auch Goethe.

Zwei Schriften vom Freiherrn von Gleichen, genannt Russwurm, fielen damals in Goethes geistigen Horizont. Sie behandeln beide das Leben der Pflanze in einer Weise, die f?r ihn fruchtbar werden konnte: "Das Neueste aus dem Reiche der Pflanzen" und "Auserlesene mikroskopische Entdeckungen bei den Pflanzen" . Sie besch?ftigen sich mit den Befruchtungsvorg?ngen der Pflanzen. Bl?tenstaub, Staubf?den und Stempel sind in ihnen sorgf?ltig beschrieben und in gut ausgef?hrten Tafeln die Vorg?nge bei der Befruchtung dargestellt. Goethe macht nun selbst Versuche, um die von Gleichen-Russwurm beschriebenen Ergebnisse mit eigenen Augen zu beobachten. Er schreibt am 12. Januar 1785 an Frau von Stein: "Mein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des Gleichen, genannt Russwurm, mit Fr?hlingsantritt nachzubeobachten und zu kontrollieren." Zur selben Zeit studiert er die Wesenheit des Samens, wie aus einem Bericht an Knebel vom 2. April 1785 hervorgeht: "Die Materie vom Samen habe ich durchgedacht, so weit meine Erfahrungen reichen." Diese Beobachtungen Goethes erscheinen erst im rechten Lichte wenn man ber?cksichtigt, dass er schon dazumal nicht bei ihnen stehen geblieben ist, sondern eine Gesamtanschauung der Naturvorg?nge zu gewinnen suchte, der sie zur St?tze und Bekr?ftigung dienen sollten. Am 8. April desselben Jahres meldet er Knebel, dass er nicht nur Thatsachen beobachtet, sondern auch "h?bsche Kombinationen" ?ber diese Thatsachen gemacht habe.

Von wesentlichem Einfluss auf die Ausbildung der Ideen Goethes ?ber organische Naturwirkungen war der Anteil, den er an Lavaters grossem Werke: "Physiognomische Fragmente zur Bef?rderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe", nahm, das in den Jahren 1775 bis 1778 erschienen ist. Er hat selbst Beitr?ge zu diesem Werke geliefert. In der Art, wie er sich in diesen Beitr?gen ausspricht, ist seine sp?tere Weise, das Organische anzusehen, schon vorgebildet. Lavater blieb dabei stehen, die Gestalt des menschlichen Organismus als Ausdruck der Seele zu behandeln. Er wollte aus den Formen der K?rper die Charaktere der Seelen deuten. Goethe fieng bereits damals an, die ?ussere Gestalt um ihrer selbst willen zu betrachten, ihre eigene Gesetzm?ssigkeit und Bildungskraft zu studieren. Er besch?ftigt sich zugleich mit den Schriften des Aristoteles ?ber die Physiognomik und versucht es, auf Grundlage des Studiums der organischen Gestalt, den Unterschied des Menschen von den Tieren festzustellen. Er findet diesen in dem durch das Ganze des menschlichen Baues bedingten Hervortreten des Kopfes, in der vollkommenen Ausbildung des menschlichen Gehirns, zu dem alle Teile wie zu einem Organ hindeuten, auf das sie gestimmt sind. Im Gegenteil ist bei dem Tiere der Kopf an den R?ckgrat bloss angeh?ngt, das Gehirn, das R?ckenmark haben nicht mehr Umfang als zur Auswirkung der untergeordneten Lebensgeister und zur Leitung der bloss sinnlichen Verrichtungen unbedingt notwendig ist. Goethe sucht schon damals den Unterschied des Menschen von den Tieren nicht in irgend einem Einzelnen, sondern in dem verschiedenen Grade der Vollkommenheit, den das gleiche Grundgebilde in dem einen oder andern Falle erreicht. Es schwebt ihm bereits das Bild eines Typus vor, der sowohl bei den Tieren wie beim Menschen sich findet, der bei den ersteren so ausgebildet ist, dass der ganze Bau den animalischen Funktionen dient, w?hrend bei letzterem der Bau das Grundger?ste f?r die Entwicklung des Geistes abgibt.

Aus solchen Betrachtungen heraus erw?chst Goethes Spezialstudium der Anatomie. Am 22. Januar 1776 berichtet er an Lavater: "Der Herzog hat mir sechs Sch?del kommen lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Euer Hochw?rden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht ohne mich fanden." Im Tagebuche Goethes lesen wir unter dem 15. Oktober 1781, dass er in Jena mit dem alten Einsiedel Anatomie trieb, und in demselben Jahre fing er an, sich von Loder in diese Wissenschaft genauer einf?hren zu lassen. Er erz?hlt davon in Briefen an Frau von Stein vom 29. Oktober 1781 und an den Herzog vom 4. November. Er hat auch die Absicht, den jungen Leuten an der Zeichenakademie "das Skelett zu erkl?ren und sie zur Kenntnis des menschlichen K?rpers anzuf?hren" -- "Ich thue es," sagt er, "um meinet- und ihretwillen; die Methode, die ich gew?hlt habe, wird sie diesen Winter ?ber v?llig mit den Grunds?ulen des K?rpers bekannt machen." Er hat, wie aus dem Tagebuch zu ersehen, diese Vorlesungen auch gehalten. Auch mit Loder hat er in dieser Zeit ?ber den Bau des menschlichen K?rpers manches Gespr?ch gef?hrt. Und wieder ist es seine allgemeine Naturansicht, die als treibende Kraft und als eigentliches Ziel dieser Studien erscheint. Er behandelt "die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anh?ngen l?sst" . Vorstellungen ?ber das Wirken des Organischen, ?ber den Zusammenhang der menschlichen Bildung mit der tierischen besch?ftigen damals seinen Geist. Dass der menschliche Bau nur die h?chste Stufe des tierischen ist, und dass er durch diesen vollkommeneren Grad des Tierischen die sittliche Welt aus sich hervorbringt, ist eine Idee, die bereits in der Ode "das G?ttliche" vom Jahre 1782 niedergelegt ist.

Edel sei der Mensch Hilfreich und gut! Denn das allein Unterscheidet ihn Von allen Wesen, Die wir kennen. -- -- -- -- -- Nach ewigen, ehrnen, Grossen Gesetzen M?ssen wir alle Unsers Daseins Kreise vollenden.

Die "ewigen, ehrnen Gesetze" wirken im Menschen gerade so wie in der ?brigen Organismenwelt; sie erreichen in ihm nur eine Vollkommenheit, durch die es ihm m?glich ist "edel, hilfreich und gut" zu sein.

W?hrend in Goethe sich solche Ideen immer mehr festsetzten, arbeitete Herder an seinen "Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit". Alle Gedanken dieses Buches wurden von den beiden durchgesprochen. Goethe war von Herders Auffassung der Natur befriedigt. Sie fiel mit seinen eigenen Vorstellungen zusammen. "Herders Schrift macht wahrscheinlich, dass wir erst Pflanzen und Tiere waren ... Goethe gr?belt jetzt gar denkreich in diesen Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen ist, wird ?usserst interessant," schreibt am 1. Mai 1784 Frau von Stein an Knebel. Wie sehr man berechtigt ist, von Herders Ideen auf die Goethes zu schliessen, zeigen die Worte, die Goethe am 8. Dezember 1783 an Knebel richtet: "Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte, wie Du Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten Kapitel haben wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind k?stlich." S?tze wie die folgenden liegen ganz in Goethes Denkrichtung. "Das Menschengeschlecht ist der grosse Zusammenfluss niederer organischer Kr?fte." "Und so k?nnen wir annehmen, dass der Mensch ein Mittelgesch?pf unter den Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Z?ge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln."

Mit solchen Vorstellungen war allerdings die Ansicht der damaligen Anatomen nicht zu vereinigen, dass der kleine Knochen, den die Tiere in der oberen Kinnlade haben, der Zwischenkiefer, der die oberen Schneidez?hne enth?lt, dem Menschen fehle. S?mmering, einer der bedeutendsten Anatomen der damaligen Zeit, schrieb am 8. Oktober 1782 an Merck: "Ich w?nschte, dass Sie Blumenbach nachs?hen, wegen des ossis intermaxillaris, der ceteris paribus der einzige Knochen ist, den alle Tiere vom Affen an, selbst der Orang-Utang eingeschlossen, haben, der sich hingegen nie beim Menschen findet; wenn Sie diesen Knochen abrechnen, so fehlt Ihnen nichts, um nicht alles vom Menschen auf die Tiere transferieren zu k?nnen. Ich lege deshalb einen Kopf von einer Hirschkuh bei, um Sie zu ?berzeugen, dass dieses os intermaxillare oder os incisivum selbst bei Tieren vorhanden ist, die keine Schneidez?hne haben." Das war die allgemeine Meinung der Zeit. Auch der ber?hmte Camper, f?r den Merck und Goethe die innigste Verehrung hatten, bekannte sich zu ihr. Der Umstand, dass der Zwischenknochen beim Menschen links und rechts mit den Oberkieferknochen verwachsen ist, ohne dass bei einem normal gebildeten Individuum eine deutliche Grenze zu sehen ist, hat zu dieser Ansicht gef?hrt. H?tten die Gelehrten Recht gehabt mit derselben, dann w?re es unm?glich, ein gemeinsames Urbild f?r den Bau des tierischen und menschlichen Organismus aufzustellen; eine Grenze zwischen den beiden Formen m?sste angenommen werden. Der Mensch w?re nicht nach dem Urbilde geschaffen, das auch den Tieren zu Grunde liegt. Dieses Hindernis seiner Weltanschauung musste Goethe hinwegr?umen. Es gelang ihm im Fr?hling 1784 in Gemeinschaft mit Loder. Nach seinem allgemeinen Grundsatze, dass die Natur kein Geheimnis habe, was "sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor Augen stellt", gieng Goethe vor. Er fand bei einzelnen abnorm gebildeten Sch?deln die Grenze zwischen Ober- und Zwischenkiefer wirklich vorhanden. Freudig berichtet er von dem Fund am 27. M?rz an Herder und Frau von Stein. An Herder schreibt er: "Es soll Dich auch herzlich freuen; denn es ist wie der Schlussstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie!" "Ich habe mirs auch in Verbindung gedacht mit Deinem Ganzen, wie sch?n es da wird." Und als Goethe die Abhandlung, die er ?ber die Sache geschrieben hat, im November 1784 an Knebel schickt, deutet er die Bedeutung, die er der Entdeckung f?r seine ganze Vorstellungswelt beilegt, mit den Worten an: "Ich habe mich enthalten, das Resultat, worauf schon Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzt merken zu lassen, dass man n?mlich den Unterschied des Menschen vom Tier in nichts Einzelnem finden k?nne." Goethe konnte erst Vertrauen zu seiner Naturansicht gewinnen, als die irrt?mliche Ansicht ?ber das fatale Kn?chelchen beseitigt war. Er gewann allm?hlich den Mut, seine Ideen ?ber die Art, wie die Natur, mit einer Hauptform gleichsam spielend, das mannigfaltige Leben hervorbringt, "auf alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich" auszudehnen. In diesem Sinne schreibt er im Jahre 1786 an Frau von Stein.

Immer lesbarer wird Goethe das Buch der Natur, nachdem er den einen Buchstaben richtig entziffert hat. "Mein langes Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt wirkts auf einmal und meine stille Freude ist unaussprechlich," schreibt er der Frau von Stein am 15. Mai 1785. Er h?lt sich jetzt auch bereits f?r f?hig, eine kleine botanische Abhandlung f?r Knebel zu schreiben. Die Reise, die er 1785 nach Karlsbad mit diesem zusammen unternimmt, wird zu einer f?rmlichen botanischen Studienreise. Nach der R?ckkehr werden mit Hilfe Linn?s die Reiche der Pilze, Moose, Flechten und Algen durchgegangen. Er teilt am 9. November der Frau von Stein mit: "Ich lese Linn? fort, ich muss wohl, ich habe kein anderes Buch bei mir; es ist die beste Art, ein Buch gewissenhaft zu lesen, die ich ?fter praktizieren muss, da ich nicht leicht ein Buch auslese. Das ist nicht zum Lesen, sondern zur Rekapitulation gemacht und that mir die trefflichsten Dienste, da ich ?ber die meisten Punkte selbst gedacht hatte." W?hrend dieser Studien bekommt auch die Grundform, aus welcher die Natur alle mannigfaltigen Pflanzengebilde herausarbeitet, einzelne, wenn auch noch nicht deutliche Umrisse in seinem Geiste. In einem Briefe an die Frau von Stein vom 9. Juli 1786 sind die Worte enthalten: "Es ist ein Gewahrwerden der Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt."

Im April und Mai 1786 beobachtete Goethe durch das Mikroskop die niederen Organismen, die sich in Aufg?ssen verschiedener Substanzen entwickeln. Er notiert sorgf?ltig die Vorg?nge, die er an diesen Lebewesen beobachtet und verfertigt Zeichnungen dieser organischen Formen . Man kann auch aus diesen Notizen ersehen, dass Goethe der Erkenntnis des Lebens nicht durch solche Beobachtung niederer und einfacher Organismen n?her zu kommen sucht. Es ist ganz offenbar, dass er die wesentlichen Z?ge der Lebensvorg?nge an den h?heren Organismen ebenso zu erfassen glaubt wie an den niederen. Er ist der Ansicht, dass sich an dem Infusionstierchen dieselbe Art von Gesetzm?ssigkeit wiederholt, die das Auge des Geistes an dem Hund wahrnimmt. Die Beobachtung durch das Mikroskop lehrt nur Vorg?nge kennen, die im Kleinen das sind, was das unbewaffnete Auge im Grossen sieht. Sie bietet eine Bereicherung der sinnlichen Erfahrung. Einer h?heren Art des Anschauens, nicht einer Verfolgung der den Sinnen zug?nglichen Vorg?nge bis in ihre kleinsten Bestandteile, offenbart sich das Wesen des Lebens. Goethe sucht dieses Wesen durch die Betrachtung der h?heren Pflanzen und Tiere zu erkennen. Er w?rde diese Erkenntnis ohne Zweifel in derselben Weise gesucht haben, auch wenn zu seiner Zeit die Pflanzen- und Tieranatomie schon ebenso weit vorgeschritten gewesen w?re, wie sie gegenw?rtig ist. Wenn Goethe die Zellen, aus denen sich der Pflanzen- und Tierk?rper aufbaut, h?tte beobachten k?nnen, so w?rde er erkl?rt haben, dass sich an diesen elementaren organischen Formen dieselbe Gesetzm?ssigkeit zeigt, die auch am Zusammengesetzten wahrzunehmen ist. Er h?tte sich durch dieselben Ideen, durch die er sich die Lebensvorg?nge der h?heren Organismen erkl?rte, auch die Erscheinungen an diesen kleinen Wesen begreiflich gemacht.

Den l?senden Gedanken des R?tsels, das ihm die organische Bildung und Umbildung aufgegeben hat, findet Goethe erst in Italien. Am 3. September verl?sst er Karlsbad. In wenigen, aber bedeutsamen S?tzen schildert er in seiner "Geschichte meines botanischen Studiums" die Gedanken, welche die Beobachtung der Pflanzenwelt in ihm aufregt bis zu dem Augenblicke, da ihm in Sizilien eine klare Vorstellung dar?ber sich offenbart, wie es m?glich ist, dass den Pflanzenformen "bei einer eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartn?ckigkeit eine gl?ckliche Mobilit?t und Biegsamkeit verliehen ist, um in so viele Bedingungen, die ?ber den Erdkreis auf sie einwirken, sich zu f?gen und darnach bilden und umbilden zu k?nnen". Beim ?bergang ?ber die Alpen, im botanischen Garten von Padua und an andern Orten zeigte sich ihm das "Wechselhafte der Pflanzengestalten". "Wenn in der tiefern Gegend Zweige und Stengel st?rker und massiger waren, die Augen n?her aneinander standen und die Bl?tter breit waren, so wurden h?her ins Gebirg hinauf Zweige und Stengel zarter, die Augen r?ckten auseinander, sodass von Knoten zu Knoten ein gr?sserer Zwischenraum stattfand und die Bl?tter sich lanzenf?rmiger bildeten. Ich bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und ?berzeugte mich, dass es nicht etwa verschiedene Arten w?ren. Auch am Walchensee bemerkte ich l?ngere und schlankere Binsen als im Unterlande" . Am 8. Oktober findet er in Venedig am Meere verschiedene Pflanzen, an denen ihm die Wechselbeziehung des Organischen zu seiner Umgebung besonders anschaulich wird. "Sie sind alle zugleich mastig und streng, saftig und z?h, und es ist offenbar, dass das alte Salz des Sandbodens, mehr aber die salzige Luft ihnen diese Eigenschaft gibt; sie strotzen von S?ften wie Wasserpflanzen, sie sind fett und z?h wie Bergpflanzen; wenn ihre Bl?tterenden eine Neigung zu Stacheln haben, wie Disteln tun, sind sie gewaltig spitz und stark. Ich fand einen solchen Busch Bl?tter; er erschien mir wie unser unschuldiger Huflattig, hier aber mit scharfen Waffen bewaffnet, und das Blatt wie Leder, so auch die Samenkapseln, die Stiele, alles mastig und fett" . Im botanischen Garten zu Padua bekommt der Gedanke in Goethes Geiste eine bestimmtere Gestalt, wie man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln k?nne ; im November teilt er Knebel mit: "So freut mich doch mein bischen Botanik erst recht in diesem Lande, wo eine frohere, weniger unterbrochene Vegetation zu Hause ist. Ich habe schon recht artige, ins allgemeine gehende Bemerkungen gemacht, die auch Dir in der Folge angenehm sein werden." Am 25. M?rz 1787 kommt ihm "eine gute Erleuchtung ?ber botanische Gegenst?nde". Er bittet "Herdern zu sagen, dass er mit der Urpflanze bald zu stande sei". Nur f?rchtet er, dass "niemand die ?brige Pflanzenwelt darin wird erkennen wollen" . Am 17. April geht er mit dem "festen, ruhigen Vorsatz, seine dichterischen Tr?ume fortzusetzen, nach dem ?ffentlichen Garten". Allein ehe er sichs versieht, erhascht ihn das Pflanzenwesen wie ein Gespenst. "Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in K?beln und T?pfen, ja die gr?sste Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung erf?llen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes, fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken k?nnte? Eine solche muss es denn doch geben: woran w?rde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet w?ren?" Er bem?ht sich die abweichenden Gestalten zu unterscheiden, aber immer wieder werden seine Gedanken zu dem einen Urbild, das ihnen allen zu Grunde liegt, hingelenkt . Goethe legt sich ein botanisches Tagebuch an, in dem er alle w?hrend der Reise ?ber das Pflanzenreich gemachten Erfahrungen und Reflexionen einzeichnet . Diese Tagebuchbl?tter zeigen, wie unerm?dlich er damit besch?ftigt ist, Pflanzenexemplare ausfindig zu machen, die geeignet sind, auf die Gesetze des Wachstums und der Fortpflanzung hinzuleiten. Glaubt er irgend einem Gesetze auf der Spur zu sein, so stellt er es zun?chst in hypothetischer Form auf, um es sich dann im Verlauf seiner weiteren Erfahrungen best?tigen zu lassen. Die Vorg?nge der Keimung, der Befruchtung, des Wachstums notiert er sorgf?ltig. Dass das Blatt das Grundorgan der Pflanze ist, und dass die Formen aller ?brigen Pflanzenorgane am besten zu verstehen sind, wenn man sie als umgewandelte Bl?tter betrachtet, leuchtet ihm immer mehr ein. Er schreibt in das Tagebuch: "Hypothese: Alles ist Blatt und durch diese Einfachheit wird die gr?sste Mannigfaltigkeit m?glich." Und am 17. Mai teilt er Herder mit: "Ferner muss ich Dir vertrauen, dass ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und dass es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die sch?nsten Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden, alles ?brige sehe ich auch schon im ganzen, und nur noch einige Punkte m?ssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Gesch?pf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schl?ssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins unendliche erfinden, die konsequent sein m?ssen, das heisst, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren k?nnten, und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles ?brige Lebendige anwenden lassen." .... "Vorw?rts und r?ckw?rts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem k?nftigen Keime so unzertrennlich vereint, dass man eins ohne das andere nicht denken darf. Einen solchen Begriff zu fassen, zu ertragen, ihn in der Natur aufzufinden, ist eine Aufgabe, die uns in einen peinlich s?ssen Zustand versetzt" .

Goethe nimmt zur Erkl?rung der Lebenserscheinungen einen Weg, der g?nzlich verschieden ist von denen, welche die Naturforscher gew?hnlich gehen. Diese scheiden sich in zwei Parteien. Es gibt Verteidiger einer in den organischen Wesen wirkenden Lebenskraft, die gegen?ber anderen Naturursachen eine besondere, h?here Kr?fteform darstellt. Wie es Schwerkraft, chemische Anziehung und Abstossung, Magnetismus u. s. w. gibt, so soll es auch eine Lebenskraft geben, welche die Stoffe des Organismus in eine solche Wechselwirkung bringt, dass dieser sich erhalten, wachsen, ern?hren und fortpflanzen kann. Die Naturforscher, welche dieser Meinung sind, sagen: in dem Organismus wirken dieselben Kr?fte wie in der ?brigen Natur; aber sie wirken nicht wie in einer leblosen Maschine. Sie werden von der Lebenskraft gleichsam eingefangen und auf eine h?here Stufe des Wirkens gehoben. Den Bekennern dieser Meinung stehen andere Naturforscher gegen?ber, welche glauben, dass in den Organismen keine besondere Kraft wirke. Sie halten die Lebenserscheinungen f?r komplizierte chemische und physikalische Vorg?nge und geben sich der Hoffnung hin, dass es einst vielleicht gelingen werde, einen Organismus ebenso durch Zur?ckf?hrung auf unorganische Kraftwirkungen zu erkl?ren wie eine Maschine. Die erstere Ansicht wird als Vitalismus, die andere als Mechanismus bezeichnet. Von beiden ist die Goethesche Auffassungsweise durchaus verschieden. Dass in dem Organismus noch etwas anderes wirksam ist als die Kr?fte der unorganischen Natur, erscheint ihm selbstverst?ndlich. Zur mechanischen Auffassung der Lebenserscheinungen kann er sich nicht bekennen. Ebensowenig sucht er, um die Wirkungen im Organismus zu erkl?ren, nach einer besonderen Lebenskraft. Er ist ?berzeugt, dass zur Erfassung der Lebensvorg?nge eine Anschauung geh?rt, die anderer Art ist als diejenige, durch welche die Erscheinungen der unorganischen Natur wahrgenommen werden. Wer zur Annahme einer Lebenskraft sich entschliesst, der sieht zwar ein, dass die organischen Wirkungen nicht mechanistisch sind, aber es fehlt ihm zugleich die F?higkeit, jene andere Art der Anschauung in sich auszubilden, durch die ihm das Organische erkennbar werden k?nnte. Die Vorstellung der Lebenskraft bleibt dunkel und unbestimmt. Ein neuerer Anh?nger des Vitalismus, Gustav Bunge, meint: "In der kleinsten Zelle -- da stecken schon alle R?tsel des Lebens drin, und bei der Erforschung der kleinsten Zelle -- da sind wir mit den bisherigen Hilfsmitteln bereits an der Grenze angelangt" . Es ist durchaus im Sinne der Goetheschen Denkweise, darauf zu antworten: Dasjenige Anschauungsverm?gen, welches nur das Wesen der unorganischen Erscheinungen erkennt, ist mit seinen Hilfsmitteln an der Grenze angelangt. Dieses wird aber nie innerhalb seines Bereiches Mittel finden, die zur Erkl?rung des Lebens der kleinsten Zelle geeignet sein k?nnen. Wie zur Wahrnehmung der Farbenerscheinungen das Auge geh?rt, so geh?rt zur Auffassung des Lebens die F?higkeit, in dem Sinnlichen ein ?bersinnliches unmittelbar anzuschauen. Dieses ?bersinnliche wird demjenigen immer entschl?pfen, der nur die Sinne auf die organischen Formen richtet. Goethe sucht die sinnliche Anschauung der Pflanzengestalten auf eine h?here Art zu beleben und sich die sinnliche Form einer ?bersinnlichen Urpflanze vorzustellen . Der Vitalist nimmt seine Zuflucht zu dem inhaltleeren Begriff der Lebenskraft, weil er das, was seine Sinne im Organismus nicht wahrnehmen k?nnen, ?berhaupt nicht sieht. Goethe sieht das Sinnliche von einem ?bersinnlichen so durchdrungen, wie eine gef?rbte Fl?che von der Farbe.

Die Anh?nger des Mechanismus sind der Ansicht, dass es einmal gelingen k?nne, lebende Substanzen auf k?nstlichem Wege aus unorganischen Stoffen herzustellen. Sie sagen, vor noch nicht vielen Jahren wurde behauptet, dass es im Organismus Substanzen gebe, die nicht auf k?nstlichem Wege, sondern nur durch die Wirkung der Lebenskraft entstehen k?nnen. Gegenw?rtig ist man bereits im stande, einige dieser Substanzen k?nstlich im Laboratorium zu erzeugen. Ebenso k?nne es dereinst m?glich sein, aus Kohlens?ure, Ammoniak, Wasser und Salzen ein lebendiges Eiweiss herzustellen, welches die Grundsubstanz der einfachsten Organismen ist. Dann, meinen die Mechanisten, werde unbestreitbar erwiesen sein, dass Leben nichts weiter ist als eine Kombination unorganischer Vorg?nge, der Organismus nichts weiter als eine auf nat?rlichem Wege entstandene Maschine.

Vom Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung ist darauf zu erwidern: die Mechanisten sprechen in einer Weise von Stoffen und Kr?ften, die durch keine Erfahrung gerechtfertigt ist. Und man hat sich an diese Weise, zu sprechen, so gew?hnt, dass es sehr schwer wird, diesen Begriffen gegen?ber die reinen Ausspr?che der Erfahrung geltend zu machen. Man betrachte aber doch einen Vorgang der Aussenwelt unbefangen. Man nehme ein Quantum Wasser von einer bestimmten Temperatur. Wodurch weiss man etwas von diesem Wasser? Man sieht es an und bemerkt, dass es einen Raum einnimmt und zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen ist. Man steckt den Finger oder ein Thermometer hinein, und findet es mit einem bestimmten Grade von W?rme behaftet. Man dr?ckt gegen seine Oberfl?che und erf?hrt, dass es fl?ssig ist. Das sind Ausspr?che, welche die Sinne ?ber den Zustand des Wassers machen. Nun erhitze man das Wasser. Es wird sieden und zuletzt sich in Dampf verwandeln. Wieder kann man sich durch die Wahrnehmung der Sinne von den Beschaffenheiten des K?rpers, des Dampfes, in den sich das Wasser verwandelt hat, Kenntnis verschaffen. Statt das Wasser zu erhitzen, kann man es dem elektrischen Strom unter gewissen Bedingungen aussetzen. Es verwandelt sich in zwei K?rper, Wasserstoff und Sauerstoff. Auch ?ber die Beschaffenheit dieser beiden K?rper kann man sich durch die Aussagen der Sinne belehren. Man nimmt also in der K?rperwelt Zust?nde wahr und beobachtet zugleich, dass diese Zust?nde unter gewissen Bedingungen in andere ?bergehen. ?ber die Zust?nde unterrichten die Sinne. Wenn man noch von etwas anderem als von Zust?nden, die sich verwandeln, spricht, so beschr?nkt man sich nicht mehr auf den reinen Tatbestand, sondern man f?gt zu demselben Begriffe hinzu. Sagt man, der Sauerstoff und der Wasserstoff, die sich durch den elektrischen Strom aus dem Wasser entwickelt haben seien schon im Wasser enthalten gewesen, nur so innig mit einander verbunden, dass sie in ihrer Selbst?ndigkeit nicht wahrzunehmen waren, so hat man zu der Wahrnehmung einen Begriff hinzugef?gt, durch den man sich das Hervorgehen der beiden K?rper aus dem einen erkl?rt. Und wenn man weitergeht und behauptet, Sauerstoff und Wasserstoff seien Stoffe, was man schon durch die Namen tut, die man ihnen beilegt, so hat man ebenfalls zu dem Wahrgenommenen einen Begriff hinzugef?gt. Denn tats?chlich ist in dem Raume, der vom Sauerstoff eingenommen wird, nur eine Summe von Zust?nden wahrzunehmen. Zu diesen Zust?nden denkt man den Stoff hinzu, an dem sie haften sollen. Was man von dem Sauerstoff und dem Wasserstoff im Wasser schon vorhanden denkt, das Stoffliche, ist ein Gedachtes, das zu dem Wahrnehmungsinhalt hinzugef?gt ist. Wenn man Wasserstoff und Sauerstoff durch einen chemischen Prozess zu Wasser vereinigt, so kann man beobachten, dass eine Summe von Zust?nden in eine andere ?bergeht. Wenn man sagt: es haben sich zwei einfache Stoffe zu einem zusammengesetzten vereinigt, so hat man eine begriffliche Auslegung des Beobachtungsinhaltes versucht. Die Vorstellung "Stoff" erh?lt ihren Inhalt nicht aus der Wahrnehmung, sondern aus dem Denken. Ein ?hnliches wie vom "Stoffe" gilt von der "Kraft". Man sieht einen Stein zur Erde fallen. Was ist der Inhalt der Wahrnehmung. Eine Summe von Sinneseindr?cken, Zust?nden, die an aufeinanderfolgenden Orten auftreten. Man sucht sich diese Ver?nderung in der Sinneswelt zu erkl?ren, und sagt: die Erde ziehe den Stein an. Sie habe eine "Kraft", durch die sie ihn zu sich hinzwingt. Wieder hat unser Geist eine Vorstellung zu dem Tatbestande hinzugef?gt und derselben einen Inhalt gegeben, der nicht aus der Wahrnehmung stammt. Nicht Stoffe und Kr?fte nimmt man wahr, sondern Zust?nde und deren ?berg?nge in einander. Man erkl?rt sich diese Zustands?nderungen durch Hinzuf?gung von Begriffen zu den Wahrnehmungen.

Man nehme einmal an, es gebe ein Wesen, das Sauerstoff und Wasserstoff wahrnehmen k?nnte, nicht aber Wasser. Wenn wir vor den Augen eines solchen Wesens den Sauerstoff und Wasserstoff zu Wasser vereinigten, so verschw?nden vor ihm die Zust?nde, die es an den beiden Stoffen wahrgenommen hat, in Nichts. Wenn wir ihm nun die Zust?nde auch beschrieben, die wir am Wasser wahrnehmen: es k?nnte sich von ihnen keine Vorstellung machen. Das beweist, dass in den Wahrnehmungsinhalten des Sauerstoffs und des Wasserstoffs nichts liegt, aus dem der Wahrnehmungsinhalt Wasser abzuleiten ist. Ein Ding entsteht aus zwei oder mehreren andern heisst: es haben sich zwei oder mehrere Wahrnehmungsinhalte in einen zusammenh?ngenden, aber den ersteren gegen?ber durchaus neuen, verwandelt.

Was w?re also erreicht, wenn es gel?nge, Kohlens?ure, Ammoniak, Wasser und Salze k?nstlich zu einer lebenden Eiweisssubstanz im Laboratorium zu vereinigen? Man w?sste, dass die Wahrnehmungsinhalte der vielerlei Stoffe sich zu einem Wahrnehmungsinhalt vereinigen k?nnen. Aber dieser Wahrnehmungsinhalt ist aus jenen durchaus nicht abzuleiten. Der Zustand des lebenden Eiweisses kann nur an diesem selbst beobachtet, nicht aus den Zust?nden der Kohlens?ure, des Ammoniaks, des Wassers und der Salze herausentwickelt werden. Im Organismus hat man etwas von den unorganischen Bestandteilen, aus denen er aufgebaut werden kann, v?llig verschiedenes vor sich. Die sinnlichen Wahrnehmungsinhalte verwandeln sich bei der Entstehung des Lebewesens in sinnlich-?bersinnliche. Und wer nicht die F?higkeit hat, sich sinnlich-?bersinnliche Vorstellungen zu machen, der kann von dem Wesen eines Organismus ebensowenig etwas wissen, wie jemand vom Wasser etwas erfahren k?nnte, wenn ihm die sinnliche Wahrnehmung desselben unzug?nglich w?re.

Die Keimung, das Wachstum, die Umwandlung der Organe, die Ern?hrung und Fortpflanzung des Organismus sich als sinnlich-?bersinnlichen Vorgang vorzustellen, war Goethes Bestreben bei seinen Studien ?ber die Pflanzen- und die Tierwelt. Er bemerkte, dass dieser sinnlich-?bersinnliche Vorgang in der Idee bei allen Pflanzen derselbe ist, und dass er nur in der ?usseren Erscheinung verschiedene Formen annimmt. Dasselbe konnte Goethe f?r die Tierwelt feststellen. Hat man die Idee der sinnlich-?bersinnlichen Urpflanze in sich ausgebildet, so wird man sie in allen einzelnen Pflanzenformen wiederfinden. Die Mannigfaltigkeit entsteht dadurch, dass das der Idee nach Gleiche in der Wahrnehmungswelt in verschiedenen Gestalten existieren kann. Der einzelne Organismus besteht aus Organen, die auf ein Grundorgan zur?ckzuf?hren sind. Das Grundorgan der Pflanze ist das Blatt mit dem Knoten, an dem es sich entwickelt. Dieses Organ nimmt in der ?usseren Erscheinung verschiedene Gestalten an: Keimblatt, Laubblatt, Kelchblatt, Kronenblatt u. s. w. "Es mag die Pflanze sprossen, bl?hen oder Fr?chte tragen, so sind es doch immer nur dieselbigen Organe, welche in vielf?ltigen Bestimmungen und unter oft ver?nderten Gestalten die Vorschrift der Natur erf?llen."

Um ein vollst?ndiges Bild der Urpflanze zu erhalten, musste Goethe die Formen im allgemeinen verfolgen, welche das Grundorgan im Fortgang des Wachstums einer Pflanze von der Keimung bis zur Samenreife durchmacht. Im Anfang ihrer Entwicklung ruht die ganze Pflanzengestalt in dem Samen. In diesem hat die Urpflanze eine Gestalt angenommen, durch die sie ihren ideellen Inhalt gleichsam in der ?usseren Erscheinung verbirgt.

"Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild Lag, verschlossen in sich, unter die H?lle gebeugt, Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos; Trocken erh?lt so der Kern ruhiges Leben bewahrt, Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend, Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht."

Aus dem Samen entwickelt die Pflanze die ersten Organe, die Kotyledonen, nachdem sie "ihre H?llen mehr oder weniger in der Erde" zur?ckgelassen und "die Wurzel in den Boden" befestigt hat. Und nun folgt im weiteren Verlauf des Wachstums Trieb auf Trieb; Knoten auf Knoten t?rmt sich ?bereinander, und an jedem Knoten findet sich ein Blatt. Die Bl?tter erscheinen in verschiedenen Gestalten. Die unteren noch einfach, die oberen mannigfach gekerbt, eingeschnitten, aus mehreren Bl?ttchen zusammengesetzt. Die Urpflanze breitet auf dieser Stufe der Entwicklung ihren sinnlich-?bersinnlichen Inhalt im Raume als ?ussere sinnliche Erscheinung aus. Goethe stellt sich vor, dass die Bl?tter ihre fortschreitende Ausbildung und Verfeinerung dem Lichte und der Luft schuldig sind. "Wenn wir jene in der verschlossenen Samenh?lle erzeugten Kotyledonen, mit einem rohen Safte nur gleichsam ausgestopft, fast gar nicht oder nur grob organisiert und ungebildet finden, so zeigen sich uns die Bl?tter der Pflanzen, welche unter dem Wasser wachsen, gr?ber organisiert als andere, der freien Luft ausgesetzte; ja, sogar entwickelt dieselbige Pflanzenart gl?ttere und weniger verfeinerte Bl?tter, wenn sie in tiefen, feuchten Orten w?chst, da sie hingegen, in h?here Gegenden versetzt, rauhe, mit Haaren versehene, feiner ausgebildete Bl?tter hervorbringt" . In der zweiten Epoche des Wachstums zieht die Pflanze wieder in einen engeren Raum zusammen, was sie vorher ausgebreitet hat.

"M?ssiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gef?sse, Und gleich zeigt die Gestalt z?rtere Wirkungen an. Stille zieht sich der Trieb der strebenden R?nder zur?cke, Und die Rippe des Stiels bildet sich v?lliger aus. Blattlos aber und schnell hebt sich der z?rtere Stengel, Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an. Rings im Kreise stellet sich nun, gez?hlet und ohne Zahl, das kleinere Blatt neben dem ?hnlichen hin. Um die Achse gedr?ngt, entscheidet der bergende Kelch sich, Der zur h?chsten Gestalt farbige Kronen entl?sst."

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