Read Ebook: Goethes Weltanschauung by Steiner Rudolf
Font size:
Background color:
Text color:
Add to tbrJar First Page Next Page Prev Page
Ebook has 141 lines and 35688 words, and 3 pages
"M?ssiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gef?sse, Und gleich zeigt die Gestalt z?rtere Wirkungen an. Stille zieht sich der Trieb der strebenden R?nder zur?cke, Und die Rippe des Stiels bildet sich v?lliger aus. Blattlos aber und schnell hebt sich der z?rtere Stengel, Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an. Rings im Kreise stellet sich nun, gez?hlet und ohne Zahl, das kleinere Blatt neben dem ?hnlichen hin. Um die Achse gedr?ngt, entscheidet der bergende Kelch sich, Der zur h?chsten Gestalt farbige Kronen entl?sst."
Im Kelch zieht sich die Pflanzengestalt zusammen; in der Blumenkrone breitet sie sich wieder aus. Nun folgt die n?chste Zusammenziehung in den Staubgef?ssen und dem Stempel, den Organen der Fortpflanzung. Die Bildungskraft der Pflanze entwickelte in den vorhergehenden Wachstumsperioden in einerlei Organen als Trieb, das Grundgebilde zu wiederholen. Dieselbe Kraft verteilt sich auf dieser Stufe der Zusammenziehung auf zwei Organe. Das Getrennte sucht sich wieder zusammenzufinden. Dies geschieht im Befruchtungsvorgang. Der in dem Staubgef?ss vorhandene m?nnliche Bl?tenstaub vereinigt sich mit der weiblichen Substanz, die im Stempel enthalten ist; und damit ist der Keim zu einer neuen Pflanze gegeben. Goethe nennt die Befruchtung eine geistige Anastomose und sieht in ihr nur eine andere Form des Vorgangs, der in der Entwicklung von einem Knoten zum andern stattfindet. "An allen K?rpern, die wir lebendig nennen, bemerken wir die Kraft, ihresgleichen hervorzubringen. Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr werden, bezeichnen wir sie unter dem Namen der beiden Geschlechter" . Von Knoten zu Knoten bringt die Pflanze ihresgleichen hervor. Denn Knoten und Blatt sind die einfache Form der Urpflanze. In dieser Form heisst die Hervorbringung Wachstum. Ist die Fortpflanzungskraft auf zwei Organe verteilt, so spricht man von zwei Geschlechtern. Auf diese Weise glaubt Goethe die Begriffe von Wachstum und Zeugung einander n?her ger?ckt zu haben. In dem Stadium der Fruchtbildung erlangt die Pflanze ihre letzte Ausdehnung; in dem Samen erscheint sie wieder zusammengezogen. In diesen sechs Schritten vollendet die Natur einen Kreis von Pflanzenentwicklung, und sie beginnt den ganzen Vorgang wieder von vorne. In dem Samen sieht Goethe nur eine andere Form des Auges, das sich an den Laubbl?ttern entwickelt. Die aus den Augen sich entfaltenden Seitenzweige sind ganze Pflanzen, die, statt in der Erde, auf einer Mutterpflanze stehen. Die Vorstellung von dem sich stufenweise, wie auf einer "geistigen Leiter" vom Samen bis zur Frucht sich umbildenden Grundorgan ist die Idee der Urpflanze. Gleichsam um die Verwandlungsf?higkeit des Grundorgans f?r die sinnliche Anschauung zu beweisen, l?sst die Natur unter gewissen Bedingungen auf einer Stufe statt des Organs, das nach dem regelm?ssigen Wachstumsverlaufe entstehen sollte, ein anderes sich entwickeln. Bei den gef?llten Mohnen z. B. treten an der Stelle, wo die Staubgef?sse entstehen sollten, Blumenbl?tter auf. Das Organ, das der Idee nach zum Staubgef?ss bestimmt war, ist ein Blumenblatt geworden. In dem Organ, das im regelm?ssigen Fortgang der Pflanzenentwicklung eine bestimmte Form hat, ist die M?glichkeit enthalten, auch eine andere anzunehmen.
Als Illustration seiner Idee von der Urpflanze betrachtet Goethe das Bryophyllum calycinum, die gemeine Keim-Zumpe, eine Pflanzenart, die von den Molukkeninseln nach Kalkutta und von da nach Europa gekommen ist. Aus den Kerben der fetten Bl?tter dieser Pflanzen entwickeln sich frische Pfl?nzchen, die, nach ihrer Abl?sung, zu vollst?ndigen Pflanzen auswachsen. Goethe sieht in diesem Vorgang sinnlich-anschaulich dargestellt, dass in dem Blatte eine ganze Pflanze der Idee nach ruht .
Wer die Vorstellung der Urpflanze in sich ausbildet und so beweglich erh?lt, dass er sie in allen m?glichen Formen denken kann, die ihr Inhalt zul?sst, der kann mit ihrer Hilfe sich alle Gestaltungen im Pflanzenreiche erkl?ren. Er wird die Entwicklung der einzelnen Pflanze begreifen; aber er wird auch finden, dass alle Geschlechter, Arten und Variet?ten nach diesem Urbilde geformt sind. Diese Anschauungen hat Goethe in Italien ausgebildet und in seiner 1790 erschienenen Schrift: "Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erkl?ren" niedergelegt.
Auch in der Entwicklung seiner Ideen ?ber den menschlichen Organismus schreitet Goethe in Italien vor. Am 20. Januar schreibt er an Knebel: "Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet, und ich habe mir die Kenntnis des menschlichen K?rpers, bis auf einen gewissen Grad, nicht ohne M?he erworben. Hier wird man durch die ewige Betrachtung der Statuen immerfort, aber auf eine h?here Weise hingewiesen. Bei unserer medizinisch-chirurgischen Akademie kommt es bloss darauf an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein k?mmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts heissen, wenn sie nicht zugleich eine edle sch?ne Form darbieten. -- In dem grossen Lazarett San Spirito hat man den K?nstlern zulieb einen sehr sch?nen Muskelk?rper dergestalt bereitet, dass die Sch?nheit desselben in Verwunderung setzt. Er k?nnte wirklich f?r einen geschundenen Halbgott, f?r einen Marsyas gelten. -- So pflegt man auch nach Anleitung der Alten das Skelett nicht als eine k?nstlich zusammengereihte Knochenmaske zu studieren, vielmehr zugleich mit den B?ndern, wodurch es schon Leben und Bewegung erh?lt." Auch nach seiner R?ckkehr aus Italien treibt Goethe fleissig anatomische Studien. Es dr?ngt ihn, die Bildungsgesetze der tierischen Gestalt ebenso zu erkennen, wie ihm dies f?r diejenigen der Pflanze gelungen war. Er ist ?berzeugt, dass auch die Einheit des Tier-Organismus auf einem Grundorgan beruht, welches in der ?usseren Erscheinung verschiedene Formen annehmen kann. Verbirgt sich die Idee des Grundorgans, so erscheint dieses ungeformt. Es stellt dann die einfacheren Organe des Tieres dar; bem?chtigt sich die Idee des Stoffes so, dass sie ihn sich v?llig ?hnlich macht, dann entstehen die h?heren, die edleren Organe. Was in den einfacheren Organen der Idee nach vorhanden ist, das schliesst sich in den h?heren nach aussen auf. Es ist Goethe nicht gegl?ckt, die Gesetzm?ssigkeit der ganzen tierischen Gestalt in eine einzige Vorstellung zu fassen, wie er es f?r die Pflanzenform erreicht hat. Nur f?r einen Teil dieser Gestalt hat er das Bildungsgesetz gefunden, f?r das R?ckenmark und Gehirn mit den diese Organe einschliessenden Knochen. In dem Gehirn sieht er eine h?here Ausbildung des R?ckenmarks. Jedes Nervenzentrum der Ganglien gilt ihm als ein auf niederer Stufe stehengebliebenes Gehirn . Und die das Gehirn einschliessenden Sch?delknochen deutet er als Umformungen der Wirbelknochen, die das R?ckenmark umh?llen. Dass er die hintern Sch?delknochen als drei umgebildete Wirbel anzusehen hat, ist ihm schon fr?her aufgegangen; f?r die vorderen Sch?delknochen behauptet er dasselbe, als er im Jahre 1790 auf den D?nen des Lido einen Schafsch?del findet, der so gl?cklich geborsten ist, dass in dem Gaumbein, der oberen Kinnlade und dem Zwischenknochen drei Wirbel in verwandelter Gestalt unmittelbar sinnlich sich darzustellen scheinen.
Die Anatomie der Tiere war zu Goethes Zeit noch nicht so weit vorgeschritten, dass er ein Lebewesen h?tte anf?hren k?nnen, welches wirklich an Stelle von entwickelten Sch?delknochen Wirbel hat, und das also im sinnlichen Bilde das zeigt, was bei den vollkommenen Tieren nur der Idee nach vorhanden ist. Durch die Untersuchungen Carl Gegenbauers, die im Jahre 1872 ver?ffentlicht worden sind, ist es gelungen, eine solche Tierform anzugeben. Die Urfische oder Selachier haben Sch?delknochen und ein Gehirn, die sich deutlich als Endglieder der Wirbels?ule und des R?ckenmarkes erweisen. Nach dem Befund an diesen Tieren scheint allerdings eine gr?ssere Zahl von Wirbeln in die Kopfbildung eingegangen zu sein , als Goethe angenommen hat. Dieser Irrtum ?ber die Zahl der Wirbel und auch noch die Tatsache, dass im Embryonalzustand der Sch?del der h?heren Tiere keine Spur einer Zusammensetzung aus wirbelartigen Teilen zeigt, sondern sich aus einer einfachen knorpeligen Blase entwickelt, ist gegen den Wert der Goetheschen Idee von der Umwandlung des R?ckenmarks und der Wirbels?ule angef?hrt worden. Man giebt zwar zu, dass der Sch?del aus Wirbeln entstanden ist. Aber man leugnet, dass die Kopfknochen in der Form, in der sie sich bei den h?heren Tieren zeigen, umgebildete Wirbel seien. Man sagt, dass eine vollkommene Verschmelzung der Wirbel zu einer knorpeligen Blase stattgefunden habe, in der die urspr?ngliche Wirbelstruktur vollst?ndig verschwunden sei. Aus dieser Knorpelkapsel haben sich dann die Knochenformen herausgebildet, die an h?heren Tieren wahrzunehmen sind. Diese Formen haben sich nicht nach dem Urbilde des Wirbels gebildet, sondern entsprechend den Aufgaben, die sie am entwickelten Kopfe zu erf?llen haben. Man h?tte also, wenn man nach einem Erkl?rungsgrund f?r irgend eine Sch?delknochenform sucht, nicht zu fragen: wie hat sich ein Wirbel umgebildet, um zu dem Kopfknochen zu werden; sondern welche Bedingungen haben dazu gef?hrt, dass sich diese oder jene Knochengestalt aus der einfachen Knorpelkapsel herausgetrennt hat? Man glaubt an die Bildung neuer Gestalten, nach neuen Bildungsgesetzen, nachdem die urspr?ngliche Wirbelform in eine strukturlose Kapsel aufgegangen ist. Ein Widerspruch zwischen dieser Auffassung und der Goetheschen kann nur vom Standpunkte des Tatsachenfanatismus aus gefunden werden. Was in der Knorpelkapsel des Sch?dels nicht mehr sinnlich-wahrnehmbar ist, die Wirbelstruktur, ist in ihr gleichwohl der Idee nach vorhanden und tritt wieder in die Erscheinung, sobald die Bedingungen dazu vorhanden sind. In der knorpeligen Sch?delkapsel verbirgt sich die Idee des wirbelf?rmigen Grundorgans innerhalb der sinnlichen Materie; in den ausgebildeten Sch?delknochen tritt sie wieder in die ?ussere Erscheinung.
Goethe hofft, dass sich ihm die Bildungsgesetze der ?brigen Teile des tierischen Organismus in derselben Weise offenbaren werden, wie es diejenigen des Gehirns, R?ckenmarks und ihrer Umh?llungsorgane getan haben. ?ber die am Lido gemachte Entdeckung l?sst er am 30. April Herdern durch Frau von Kalb sagen, dass er "der Tiergestalt und ihren mancherlei Umbildungen um eine ganze Formel n?her ger?ckt ist und zwar durch den sonderbarsten Zufall" . Er glaubt, seinem Ziele so nahe zu sein, dass er noch in demselben Jahre, das ihm den Fund gebracht hat, eine Schrift ?ber die tierische Bildung vollenden will, die sich der "Metamorphose der Pflanzen" an die Seite stellen l?sst. In Schlesien, wohin er im Juli 1790 reist, treibt er Studien zur vergleichenden Anatomie und beginnt an einem Aufsatz "?ber die Gestalt der Tiere" zu schreiben. . Es ist Goethe nicht gelungen, von dem gl?cklich gewonnenen Ausgangspunkte aus zu den Bildungsgesetzen der ganzen Tiergestalt fortzuschreiten. So viel Ans?tze er auch dazu macht, den Typus der tierischen Gestalt zu finden: etwas der Idee der Urpflanze Analoges ist nicht zu stande gekommen. Er vergleicht die Tiere untereinander und mit dem Menschen und sucht ein allgemeines Bild des tierischen Baues zu gewinnen, nach welchem, als einem Muster, die Natur die einzelnen Gestalten formt. Eine lebendige Vorstellung, die sich nach den Grundgesetzen der tierischen Bildung mit einem Gehalt erf?llt und so das Urtier der Natur gleichsam nachschafft, ist dieses allgemeine Bild des tierischen Typus nicht. Ein allgemeiner Begriff ist es nur, der von den besonderen Erscheinungen abgezogen ist. Er stellt das Gemeinsame in den mannigfaltigen Tierformen fest; aber er enth?lt nicht die Gesetzm?ssigkeit der Tierheit.
"Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen, Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild."
Wie dieses Urbild durch gesetzm?ssige Umformung eines Grundgliedes sich als die vielgliedrige Urform des tierischen Organismus entwickelt, davon konnte Goethe eine einheitliche Vorstellung nicht entwickeln. Sowohl der Versuch ?ber "die Gestalt der Tiere" als auch der 1795 in Jena entstandene "Entwurf einer vergleichenden Anatomie, ausgehend von der Osteologie" und seine sp?tere ausf?hrlichere Gestalt "Vortr?ge ?ber die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie" enthalten nur Anleitungen dar?ber, wie die Tiere zweckm?ssig zu vergleichen sind, um ein allgemeines Schema zu gewinnen, nach dem die schaffende Gewalt die "organischen Naturen erzeugt und entwickelt", eine Norm, nach welcher die "Beschreibungen auszuarbeiten" und auf welche, indem "solche von der Gestalt der verschiedenen Tiere abgezogen w?re, die verschiedensten Gestalten wieder" zur?ckzuf?hren sind . Bei der Pflanze hingegen hat Goethe gezeigt, wie ein Urgebilde durch aufeinanderfolgende Modifikationen sich gesetzm?ssig zu der vollkommenen organischen Gestalt ausbildet.
Wenn er auch nicht die schaffende Naturgewalt in ihrer Bildungs- und Umbildungskraft durch die verschiedenen Glieder des tierischen Organismus hindurch verfolgen konnte, so ist es Goethe doch gelungen, einzelne Gesetze zu finden, an die sich die Natur bei der Bildung der tierischen Formen h?lt, welche die allgemeine Norm zwar festhalten, doch aber in der Erscheinung verschieden sind. Er stellt sich vor, dass die Natur nicht die F?higkeit habe, das allgemeine Bild beliebig zu ver?ndern. Wenn sie in einer Form ein Glied in besonders vollkommener Form ausbildet, so kann dies nur auf Kosten eines andern geschehen. Im Urorganismus sind alle Glieder enthalten, die bei irgend einem Tiere vorkommen k?nnen. Bei der einzelnen Tierform ist das eine ausgebildet, das andere nur angedeutet; das eine besonders vollkommen entwickelt, das andere vielleicht f?r die sinnliche Beobachtung gar nicht wahrzunehmen. F?r den letztern Fall ist Goethe ?berzeugt, dass in jedem Tiere das, was von dem allgemeinen Typus an ihm nicht sichtbar, doch in der Idee vorhanden ist.
"Siehst du also dem einen Gesch?pf besonderen Vorzug Irgend geg?nnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste. Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schl?ssel. Denn so hat kein Tier, dem s?mtliche Z?hne den obern Kiefer umz?unen, ein Horn auf seiner Stirn getragen, Und daher ist den L?wen geh?rnt der ewigen Mutter Ganz unm?glich zu bilden und b?te sie alle Gewalt auf; Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Z?hne V?llig zu pflanzen und auch ein Geweih und H?rner zu treiben."
Im Urorganismus sind alle Glieder ausgebildet und halten sich das Gleichgewicht; die Mannigfaltigkeit des Einzelnen entsteht dadurch, dass die Kraft der Bildung sich auf das eine Glied wirft und daf?r ein anderes in der ?ussern Erscheinung gar nicht oder nur andeutungsweise entwickelt. Dieses Gesetz des tierischen Organismus nennt man heute das von der Korrelation oder Kompensation der Organe.
Goethe denkt sich in der Urpflanze die ganze Pflanzenwelt, in dem Urtiere die ganze Tierwelt der Idee nach enthalten. Aus diesem Gedanken entsteht die Frage: wie kommt es, dass in dem einen Falle diese bestimmten Pflanzen- oder Tierformen, in dem andern Falle jene entstehen? Unter welchen Bedingungen wird aus dem Urtiere ein Fisch? Unter welchen ein Vogel? Goethe findet zur Erkl?rung des Baues der Organismen in der Wissenschaft eine Vorstellungsart vor, die ihm zuwider ist. Die Anh?nger dieser Vorstellungsart fragen bei jedem Organ: wozu dient es dem Lebewesen, an dem es vorkommt? Einer solchen Frage liegt der allgemeine Gedanke zu Grunde, dass ein g?ttlicher Sch?pfer oder die Natur jedem Wesen einen bestimmten Lebenszweck vorgesetzt und ihm dann einen solchen Bau gegeben habe, dass es diesen Zweck erf?llen kann. Goethe findet eine solche Frage ebenso ungereimt, wie etwa die: zu welchem Zwecke bewegt sich eine elastische Kugel, wenn sie von einer andern gestossen wird? Eine Erkl?rung der Bewegung kann nur gegeben werden durch Auffinden des Gesetzes, nach welchem die Kugel durch einen Stoss oder eine andere Ursache in Bewegung versetzt worden ist. Man fragt nicht: wozu dient die Bewegung der Kugel, sondern: woher entspringt sie? Ebenso soll man, nach Goethes Meinung, nicht fragen: wozu hat der Stier H?rner, sondern: wie kann er H?rner haben. Durch welche Gesetze tritt in dem Stiere das Urtier als h?rnertragende Form auf? Goethe hat die Idee der Urpflanze und des Urtieres gesucht, um in ihnen die Erkl?rungsgr?nde f?r die Mannigfaltigkeit der organischen Formen zu finden. Die Urpflanze ist das schaffende Element in der Pflanzenwelt. Will man eine einzelne Pflanzenart erkl?ren, so muss man zeigen, wie dieses schaffende Element in dem besonderen Falle wirkt. Die Vorstellung, ein organisches Wesen verdanke seine Gestalt nicht den in ihm wirkenden und bildenden Kr?ften, sondern sie sei ihm zu gewissen Zwecken von aussen aufgedr?ngt, wirkt auf Goethe geradezu abstossend. Er schreibt: "Neulich fand ich in einer leidig apostolisch kapuzinerm?ssigen Deklamation des Z?richer Propheten die unsinnigen Worte: Alles, was Leben hat, lebt durch etwas ausser sich -- oder so ungef?hr klang's. Das kann nun so ein Heidenbekehrer hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht beim ?rmel" . Goethe denkt sich das organische Wesen als eine kleine Welt, die durch sich selbst da ist und sich nach ihren Gesetzen gestaltet. "Die Vorstellungsart, dass ein lebendiges Wesen zu gewissen Zwecken nach aussen hervorgebracht sei und seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft dazu determiniert werde, hat uns in der philosophischen Betrachtung der nat?rlichen Dinge schon mehrere Jahrhunderte aufgehalten, und h?lt uns noch auf, obgleich einzelne M?nner diese Vorstellungsart eifrig bestritten, die Hindernisse, welche sie in den Weg legt, gezeigt haben ... Es ist, wenn man sich so ausdr?cken darf, eine triviale Vorstellungsart, die eben deswegen, wie alle trivialen Dinge, trivial ist, weil sie der menschlichen Natur im ganzen bequem und zureichend ist" . Es ist allerdings bequem zu sagen: ein Sch?pfer hat bei Erschaffung einer organischen Art einen gewissen Zweckgedanken zu Grunde gelegt, und ihr deswegen eine bestimmte Gestalt gegeben. Goethe will aber die Natur nicht aus den Absichten irgend eines g?ttlichen Wesens, sondern aus den in ihr selbst liegenden Bildungsgesetzen erkl?ren. Eine einzelne organische Form entsteht dadurch, dass Urpflanze oder Urtier in einem besonderen Falle sich eine bestimmte Gestalt geben. Diese Gestalt muss eine solche sein, dass die Form innerhalb der Bedingungen, in denen sie lebt, auch leben kann. "Die Existenz eines Gesch?pfes, das wir Fisch nennen, ist nur unter der Bedingung eines Elementes, das wir Wasser nennen, m?glich" . Will Goethe begreifen, welche Bildungsgesetze eine bestimmte organische Form hervorbringen, so h?lt er sich an seinen Urorganismus. In ihm liegt die Kraft, sich in den mannigfaltigsten ?usseren Gestalten zu verwirklichen. Um einen Fisch zu erkl?ren, w?rde Goethe untersuchen, welche Bildungskr?fte das Urtier anwendet, um von allen Gestalten, die der Idee nach in ihm liegen, gerade die Fischgestalt hervorzubringen. W?rde das Urtier innerhalb gewisser Verh?ltnisse sich in einer Gestalt verwirklichen, in der es nicht leben kann, so ginge es zu Grunde. Erhalten kann sich eine organische Form innerhalb gewisser Lebensbedingungen nur, wenn es denselben angepasst ist.
"Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres, Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten M?chtig zur?ck. So zeiget sich fest die geordnete Bildung, Welche zum Wechsel sich neigt durch ?usserlich wirkende Wesen."
Die in einem gewissen Lebenselemente dauernden organischen Formen sind durch die Natur dieses Elementes bedingt. Wenn eine organische Form aus einem Lebenselemente in ein anderes k?me, so m?sste sie sich entsprechend ver?ndern. Das wird in bestimmten F?llen eintreten k?nnen, denn der ihr zu Grunde liegende Urorganismus hat die F?higkeit, sich in unz?hligen Gestalten zu verwirklichen. Die Umwandlung der einen Form in die andere ist aber, nach Goethes Ansicht, nicht so zu denken, dass die ?usseren Verh?ltnisse die Form unmittelbar nach sich umbilden, sondern so, dass sie die Veranlassung werden, durch die sich die innere Wesenheit verwandelt. Ver?nderte Lebensbedingungen reizen die organische Form, sich nach inneren Gesetzen in einer gewissen Weise umzubilden. Die ?usseren Einfl?sse wirken mittelbar, nicht unmittelbar auf die Lebewesen. Unz?hlige Lebensformen sind in Urpflanze und Urtier der Idee nach enthalten; diejenigen kommen zur thats?chlichen Existenz, auf welche ?ussere Einfl?sse als Reize wirken.
Die Vorstellung, dass eine Pflanzen- oder Tierart sich im Laufe der Zeiten durch gewisse Bedingungen in eine andere verwandelt, hat innerhalb der Goetheschen Naturanschauung ihre volle Berechtigung. Goethe stellt sich vor, dass die Kraft, welche im Fortpflanzungsvorgang ein neues Individuum hervorbringt, nur eine Umwandlung derjenigen Kraftform ist, die auch die fortschreitende Umbildung der Organe im Verlaufe des Wachstums bewirkt. Die Fortpflanzung ist ein Wachstum ?ber das Individuum hinaus. Wie das Grundorgan w?hrend des Wachstums eine Folge von Ver?nderungen durchl?uft, die der Idee nach gleich sind, so kann auch bei der Fortpflanzung eine Umwandlung der ?usseren Gestalt unter Festhaltung des ideellen Urbildes stattfinden. Wenn eine urspr?ngliche Organismenform vorhanden war, so konnten die Nachkommen derselben im Laufe grosser Zeitr?ume durch allm?hliche Umwandlung in die gegenw?rtig die Erde bev?lkernden mannigfaltigen Formen ?bergehen. Der Gedanke einer tats?chlichen Blutsverwandtschaft aller organischen Formen fliesst aus den Grundanschauungen Goethes. Er h?tte ihn sogleich nach der Konzeption seiner Ideen von Urtier und Urpflanze in vollkommener Form aussprechen k?nnen. Aber er dr?ckt sich, wo er diesen Gedanken ber?hrt, zur?ckhaltend, ja unbestimmt aus. In dem Aufsatz: "Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre", der nicht lange nach der "Metamorphose der Pflanzen" entstanden sein d?rfte, ist zu lesen: "Und wie w?rdig ist es der Natur, dass sie sich immer derselben Mittel bedienen muss, um ein Gesch?pf hervorzubringen und es zu ern?hren! So wird man auf eben diesen Wegen fortschreiten und, wie man nur erst die unorganisierten, undeterminierten Elemente als Vehikel der organisierten Wesen angesehen, so wird man sich nunmehr in der Betrachtung erheben und wird die organisierte Welt wieder als einen Zusammenhang von vielen Elementen ansehen. Das ganze Pflanzenreich z. B. wird uns wieder als ein ungeheures Meer erscheinen, welches ebensogut zur bedingten Existenz der Insekten n?tig ist als das Weltmeer und die Fl?sse zur bedingten Existenz der Fische, und wir werden sehen, dass eine ungeheure Anzahl lebender Gesch?pfe in diesem Pflanzenozean geboren und ern?hrt werde, ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder nur als ein grosses Element ansehen, wo ein Geschlecht auf dem andern und durch das andere, wo nicht entsteht, doch sich erh?lt." R?ckhaltloser ist folgender Satz der "Vortr?ge ?ber die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie" : "Dies also h?tten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu k?nnen, dass alle vollkommenern organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, V?gel, S?ugetiere und an der Spitze der letztern den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen best?ndigen Teilen mehr oder weniger hin- und herneigt und sich noch t?glich durch Fortpflanzung aus- und umbildet." Goethes Vorsicht dem Umwandlungsgedanken gegen?ber ist begreiflich. Der Zeit, in welcher er seine Ideen ausbildete, war dieser Gedanke nicht fremd. Aber sie hatte ihn in der w?stesten Weise ausgebildet. "Die damalige Zeit jedoch war dunkler, als man es sich jetzt vorstellen kann. Man behauptete zum Beispiel, es h?nge nur vom Menschen ab, bequem auf allen vieren zu gehen, und B?ren, wenn sie sich eine Zeit lang aufrecht hielten, k?nnten zu Menschen werden. Der verwegene Diderot wagte gewisse Vorschl?ge, wie man ziegenf?ssige Faune hervorbringen k?nne, um solche in Livr?e, zu besonderem Staat und Auszeichnung, den Grossen und Reichen auf die Kutsche zu stiften." Mit solchen unklaren Vorstellungen wollte Goethe nichts zu thun haben. Ihm lag daran, eine Idee von den Grundgesetzen des Lebendigen zu gewinnen. Dabei wurde ihm klar, dass die Gestalten des Lebendigen nichts Starres, Unver?nderliches, sondern dass sie in einer fortw?hrenden Umbildung begriffen sind. Wie diese Umbildung sich im einzelnen vollzieht, festzustellen, dazu fehlten ihm die Beobachtungen. Erst Darwins Forschungen und H?ckels geistvolle Reflexionen haben einiges Licht auf die tats?chlichen Verwandtschaftsverh?ltnisse einzelner organischer Formen geworfen. Vom Standpunkt der Goetheschen Weltanschauung kann man sich den Behauptungen des Darwinismus gegen?ber, soweit sie das tats?chliche Hervorgehen einer organischen Art aus der andren betreffen, nur zustimmend verhalten. Goethes Ideen dringen aber tiefer in das Wesen des Organischen ein als der Darwinismus der Gegenwart. Dieser glaubt die im Organischen gelegenen inneren Triebkr?fte, die sich Goethe unter dem sinnlich-?bersinnlichen Bilde vorstellt, entbehren zu k?nnen. Ja er spricht Goethe sogar die Berechtigung ab, von seinen Voraussetzungen aus von einer wirklichen Umwandlung der Organe und Organismen zu sprechen. Jul. Sachs weist Goethes Gedanken mit den Worten zur?ck, er ?bertrage "die vom Verstand vollzogene Abstraktion auf das Objekt selbst, indem er diesem eine Metamorphose zuschreibt, die sich im Grunde genommen nur in unserem Begriffe vollzogen hat." Goethe soll, nach dieser Ansicht, nichts weiter gethan haben als Laubbl?tter, Kelchbl?tter, Blumenbl?tter u. s. w. unter einen allgemeinen Begriff gebracht und mit dem Namen Blatt bezeichnet haben. "Ganz anders freilich w?re die Sache, wenn ... wir annehmen d?rften, dass bei den Vorfahren der uns vorliegenden Pflanzenform die Staubf?den gew?hnliche Bl?tter waren u. s. w." . Diese Ansicht entspringt dem Tatsachenfanatismus, der nicht einsehen kann, dass die Ideen ebenso objektiv zu den Dingen geh?ren, wie das, was man mit den Sinnen wahrnehmen kann. Goethe ist der Ansicht, dass von Verwandlung eines Organes in das andere nur gesprochen werden kann, wenn beide ausser ihrer ?usseren Erscheinung noch etwas enthalten, das ihnen gemeinsam ist. Dies ist die sinnlich-?bersinnliche Form. Das Staubgef?ss einer uns vorliegenden Pflanzenform kann nur dann als das umgewandelte Blatt der Vorfahren bezeichnet werden, wenn in beiden die gleiche sinnlich-?bersinnliche Form lebt. Ist das nicht der Fall, entwickelt sich an der uns vorliegenden Pflanzenform einfach an derselben Stelle ein Staubgef?ss, an der sich bei den Vorfahren ein Blatt entwickelt hat, dann hat sich nichts verwandelt, sondern es ist an die Stelle des einen Organs ein anderes getreten. Der Zoologe Oskar Schmidt fragt: "Was sollte denn auch nach Goethes Anschauungen umgebildet werden? Das Urbild doch nicht" . Gewiss wandelt sich nicht das Urbild um, denn dieses ist ja in allen Formen das gleiche. Aber eben weil dieses gleich bleibt, k?nnen die ?usseren Gestalten verschieden sein und doch ein einheitliches Ganzes darstellen. K?nnte man nicht in zwei auseinander entwickelten Formen das gleiche ideelle Urbild erkennen, so k?nnte keine Beziehung zwischen ihnen angenommen werden. Erst durch die Vorstellung der ideellen Urform kann man mit der Behauptung, die organischen Formen entstehen durch Umbildung auseinander, einen wirklichen Sinn verbinden. Wer nicht zu dieser Vorstellung sich erhebt, der bleibt innerhalb der blossen Tatsachen stecken. In ihr liegen die Gesetze der organischen Entwicklung. Wie durch Kepplers drei Grundgesetze die Vorg?nge im Sonnensystem begreiflich sind, so durch Goethes ideelle Urbilder die Gestalten der organischen Natur.
Kant, der dem menschlichen Geiste die F?higkeit abspricht, ein Ganzes ideell zu durchdringen, durch welches ein Mannigfaltiges in der Erscheinung bestimmt wird, nennt es ein "gewagtes Abenteuer der Vernunft", wenn jemand die einzelnen Formen der organischen Welt aus einem Urorganismus erkl?ren wollte. F?r ihn ist der Mensch nur im stande, die mannigfaltigen Einzelerscheinungen in einen allgemeinen Begriff zusammenzufassen, durch den sich der Verstand ein Bild macht von der Einheit. Dieses Bild ist aber nur im menschlichen Geiste vorhanden und hat nichts zu thun mit der schaffenden Gewalt, durch welche die Einheit wirklich die Mannigfaltigkeit aus sich hervorgehen l?sst. Das "gewagte Abenteuer der Vernunft" best?nde darin, dass jemand ann?hme, die Erde liesse aus ihrem Mutterschoss erst einfache Organismen von minder zweckm?ssiger Bildung hervorgehen, die aus sich zweckm?ssigere Formen geb?ren. Dass ferner aus diesen noch h?here sich entwickeln bis hinauf zu den vollkommensten Lebewesen. Wenn auch jemand eine solche Annahme machte, meint Kant, so k?nne er doch nur eine absichtsvolle Sch?pferkraft zu Grunde legen, welche der Entwicklung einen solchen Anstoss gegeben hat, dass sich alle ihre einzelnen Glieder zweckm?ssig entwickeln. Der Mensch nimmt eben eine Vielheit mannigfaltiger Organismen wahr; und da er nicht in sie hineindringen kann, um zu sehen, wie sie sich selbst eine Form geben, die dem Lebenselement angepasst ist, in dem sie sich entwickeln, so muss er sich vorstellen, sie seien von aussen her so eingerichtet, dass sie innerhalb ihrer Bedingungen leben k?nnen. Goethe legt sich die F?higkeit bei, zu erkennen, wie die Natur aus dem Ganzen das Einzelne, aus dem Innern das ?ussere schafft. Was Kant "Abenteuer der Vernunft" nennt, will er deshalb mutig bestehen . Wenn wir keinen anderen Beweis daf?r h?tten, dass Goethe den Gedanken einer Blutsverwandtschaft aller organischen Formen als berechtigt anerkennt, wir m?ssten es aus diesem Urteil ?ber Kants "Abenteuer der Vernunft" folgern.
Ein noch vorhandener skizzenhafter "Entwurf einer Morphologie" l?sst erraten, dass Goethe den Plan hatte, die besonderen Gestalten in ihrer Stufenfolge darzustellen, die seine Urpflanze und sein Urtier in den Hauptformen der Lebewesen annehmen . Er wollte zuerst das Wesen des Organischen schildern, wie es ihm bei seinem Nachdenken ?ber Tiere und Pflanzen aufgegangen. Dann "aus einem Punkte ausgehend" zeigen, wie das organische Urwesen sich nach der einen Seite zu der mannigfaltigen Pflanzenwelt, nach der andern zu der Vielheit der Tierformen entwickelt, wie besonderen Formen der W?rmer, Insekten, der h?heren Tiere und die Form des Menschen aus dem allgemeinen Urbilde abgeleitet werden k?nnen. Auch auf die Physiognomik und Sch?dellehre sollte ein Licht fallen. Die ?ussere Gestalt im Zusammenhange mit den inneren geistigen F?higkeiten darzustellen, machte sich Goethe zur Aufgabe. Es dr?ngte ihn, den organischen Bildungstrieb, der sich in den niederen Organismen in einer einfachen ?usseren Erscheinung darbietet, zu verfolgen in seinem Streben, sich stufenweise in immer vollkommeneren Gestalten zu verwirklichen, bis er sich in dem Menschen eine Form giebt, die diesen zum Sch?pfer der geistigsten Erzeugnisse geeignet macht.
Dieser Plan Goethes ist ebensowenig zur Ausf?hrung gekommen wie ein anderer, zu dem das Fragment "Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen" ein Anlauf ist . Goethe wollte zeigen, wie alle einzelnen Zweige des Naturerkennens: Naturgeschichte, Naturlehre, Anatomie, Chemie, Zoonomie und Physiologie zusammenwirken m?ssen, um von einer h?heren Anschauungsweise dazu verwendet zu werden, Gestalten und Vorg?nge der Lebewesen zu erkl?ren. Er wollte eine neue Wissenschaft, eine allgemeine Morphologie der Organismen aufstellen, zwar "nicht dem Gegenstande nach, denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigene Gestalt geben muss, als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz anzuweisen hat." Was die Anatomie, Naturgeschichte, Naturlehre, Chemie, Zoonomie, Physiologie an einzelnen Naturgesetzen darbieten, soll von der lebendigen Vorstellung des Organischen ebenso aufgenommen und auf eine h?here Stufe gestellt werden, wie das Lebewesen selbst die einzelnen Naturvorg?nge in den Kreis seiner Bildung aufnimmt und auf eine h?here Stufe des Wirkens stellt.
Goethe ist zu den Ideen, die ihm durch das Labyrinth der lebendigen Gestalten durchhalfen, auf eigenen Wegen gelangt. Die herrschenden Anschauungen ?ber wichtige Gebiete des Naturwirkens widersprachen seiner allgemeinen Weltanschauung. Deshalb musste er sich selbst ?ber solche Gebiete Vorstellungen ausbilden, die seinem Wesen gem?ss waren. Er war aber ?berzeugt, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe, und dass man "gar wohl in ?berlieferungen schon angedeutet finden k?nne, was man selbst gewahr wird". Er teilt gelehrten Freunden aus diesem Grunde seine Schrift ?ber die "Metamorphose der Pflanzen" mit und bittet sie, ihm dar?ber Auskunft zu geben, ob ?ber den behandelten Gegenstand schon etwas geschrieben oder ?berliefert ist. Er hat die Freude, dass ihn Friedrich August Wolf, auf einen "trefflichen Vorarbeiter", Kaspar Friedrich Wolf aufmerksam macht. Goethe macht sich mit dessen 1759 erschienenen Theoria generationis bekannt. Gerade an diesem Vorarbeiter aber ist zu beobachten, wie jemand eine richtige Ansicht ?ber die Tatsachen haben und doch nicht zur vollendeten Idee der organischen Bildung kommen kann, wenn er nicht f?hig ist, sich durch ein h?heres als das sinnliche Anschauungsverm?gen in den Besitz der sinnlich-?bersinnlichen Form des Lebens zu setzen. Wolf ist ein ausgezeichneter Beobachter. Er sucht durch mikroskopische Untersuchungen sich ?ber die Anf?nge des Lebens aufzukl?ren. Er erkennt in dem Kelch, der Blumenkrone, den Staubgef?ssen, dem Stempel, dem Samen umgewandelte Bl?tter. Aber er schreibt die Umwandlung einer allm?hlichen Abnahme der Lebenskraft zu, die in dem Masse sich vermindern soll, als die Vegetation l?nger fortgesetzt wird, um endlich ganz zu verschwinden. Kelch, Krone u. s. w. sind ihm daher eine unvollkommene Ausbildung der Bl?tter. Wolf ist als Gegner Hallers aufgetreten, der die Pr?formations- oder Einschachtelungslehre vertrat. Nach dieser sollten alle Glieder eines ausgewachsenen Organismus im Keim schon im Kleinen vorgebildet sein, und zwar in derselben Gestalt und gegenseitigen Anordnung wie im vollendeten Lebewesen. Die Entwicklung eines Organismus ist demzufolge nur eine Auswicklung des schon Vorhandenen. Wolf liess nur das gelten, was er mit Augen sah. Und da der eingeschachtelte Zustand eines Lebewesens auch durch die sorgf?ltigsten Beobachtungen nicht zu entdecken war, betrachtete er die Entwicklung als eine wirkliche Neubildung. Die Gestalt eines organischen Wesens ist, nach seiner Ansicht, im Keime noch nicht vorhanden. Goethe ist derselben Meinung in Bezug auf die ?ussere Erscheinung. Auch er lehnt die Einschachtelungslehre Hallers ab. F?r Goethe ist der Organismus im Keime zwar vorgebildet, aber nicht der ?usseren Erscheinung, sondern der Idee nach. Die ?ussere Erscheinung betrachtet auch er als eine Neubildung. Aber er wirft Wolf vor, dass dieser da, wo er nichts mit den Augen des Leibes sieht, auch mit Geistes-Augen nichts wahrnimmt. Wolf hatte keine Vorstellung davon, dass etwas der Idee nach doch vorhanden sein kann, auch wenn es nicht in die ?ussere Erscheinung tritt. "Deshalb ist er immer bem?ht, auf die Anf?nge der Lebensbildung durch mikroskopische Untersuchungen zu dringen, und so die organischen Embryonen von ihrer fr?hesten Erscheinung bis zur Ausbildung zu verfolgen. Wie vortrefflich diese Methode auch sei, durch die er soviel geleistet hat; so dachte der treffliche Mann doch nicht, dass es ein Unterschied sei zwischen Sehen und Sehen, dass die Geistes-Augen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr ger?t zu sehen und doch vorbeizusehen. -- Bei der Pflanzenverwandlung sah er dasselbige Organ sich immerfort zusammenziehen, sich verkleinern; dass aber dieses Zusammenziehen mit einer Ausdehnung abwechsele, sah er nicht. Er sah, dass es sich an Volum verringere, und bemerkte nicht, dass es sich zugleich veredle, und schrieb daher den Weg zur Vollendung, widersinnig, einer Verk?mmerung zu" .
Bis zu seinem Lebensende stand Goethe mit zahlreichen Naturforschern in pers?nlichem und schriftlichem Verkehre. Er beobachtete die Fortschritte der Wissenschaft von den Lebewesen mit dem regsten Interesse; er sah mit Freuden, wie in diesem Erkenntnisgebiete Vorstellungsarten Eingang fanden, die sich der seinigen n?herten und wie auch seine Metamorphosenlehre von einzelnen Forschern anerkannt und fruchtbar gemacht wurde. Im Jahre 1817 begann er seine Arbeiten zu sammeln und in einer Zeitschrift, die er unter dem Titel "Zur Morphologie" begr?ndete, herauszugeben. Zu einer Weiterbildung seiner Ideen ?ber organische Bildung durch eigene Beobachtung oder Reflexion kam er trotz alledem nicht mehr. Zu einer eingehenderen Besch?ftigung mit solchen Ideen fand er sich nur noch zweimal angeregt. In beiden F?llen fesselten ihn wissenschaftliche Erscheinungen, in denen er eine Best?tigung seiner Gedanken fand. Die eine waren die Vortr?ge, die K. F. Ph. Martius ?ber die "Vertikal- und Spiraltendenz der Vegetation" auf den Naturforscherversammlungen in den Jahren 1828 und 29 hielt und von denen die Zeitschrift "Isis" Ausz?ge brachte; die andere ein naturwissenschaftlicher Streit in der franz?sischen Akademie, der im Jahre 1830 zwischen Geoffroy de Saint-Hilaire und Cuvier ausbrach.
Martius dachte sich das Wachstum der Pflanze von zwei Tendenzen beherrscht, von einem Streben in der senkrechten Richtung, wovon Wurzel und Stengel beherrscht werden; und von einem anderen, wodurch Bl?tter-, Bl?tenorgane u. s. w. veranlasst werden, sich gem?ss der Form einer Spirallinie an die senkrechten Organe anzugliedern. Goethe griff diese Ideen auf und brachte sie mit seiner Vorstellung von der Metamorphose in Verbindung. Er schrieb einen l?ngeren Aufsatz , in dem er alle seine Erfahrungen ?ber die Pflanzenwelt zusammenstellte, die ihm auf das Vorhandensein der zwei Tendenzen hinzudeuten schienen. Er glaubt, dass er diese Tendenzen in seine Idee der Metamorphose aufnehmen m?sse. "Wir mussten annehmen: es walte in der Vegetation eine allgemeine Spiraltendenz, wodurch in Verbindung mit dem vertikalen Streben aller Bau, jede Bildung der Pflanzen nach dem Gesetze der Metamorphose vollbracht wird." Das Vorhandensein der Spiralgef?sse in einzelnen Pflanzenorganen fasst Goethe als Beweis auf, dass die Spiraltendenz das Leben der Pflanze durchgreifend beherrscht. "Nichts ist der Natur gem?sser, als dass sie das, was sie im ganzen intentioniert, durch das Einzelnste in Wirksamkeit versetzt." "Man trete zur Sommerszeit vor eine im Gartenboden eingesteckte Stange, an welcher eine Winde von unten an sich fortschl?ngelnd in die H?he steigt, sich fest anschliessend ihren lebendigen Wachstum verfolgt. Man denke sich Winde und Stange, beide gleich lebendig, aus einer Wurzel aufsteigend, sich wechselweise hervorbringend und so unaufhaltsam fortschreitend. Wer sich diesen Anblick in ein inneres Anschauen verwandeln kann, der wird sich den Begriff sehr erleichtert haben. Die rankende Pflanze sucht das ausser sich, was sie sich selbst geben sollte und nicht vermag." Dasselbe Gleichnis wendet Goethe am 15. M?rz 1832 in einem Briefe an den Grafen Sternberg an und setzt die Worte hinzu: "Freilich passt dies Gleichnis nicht ganz, denn im Anfang musste die Schlingpflanze sich um den sich erhebenden Stamm in kaum merklichen Kreisen herumwinden. Je mehr sie sich aber der oberen Spitze n?herte, desto schneller musste die Schraubenlinie sich drehen, um endlich in einem Kreise auf einen Discus sich zu versammeln, dem Tanze ?hnlich, wo man sich in der Jugend gar oft Brust an Brust, Herz an Herz mit den liebensw?rdigsten Kindern selbst wider Willen gedr?ckt sah. Verzeih diese Anthropomorphismen." Ferdinand Cohn bemerkt zu dieser Stelle: "H?tte Goethe nur noch Darwin erlebt! ... wie w?rde er sich des Mannes erfreut haben, der durch streng induktive Methode klare und ?berzeugende Beweise f?r seine Ideen zu finden wusste." Darwin hat von fast allen Pflanzenorganen gezeigt, dass sie in der Zeit ihres Wachstums die Tendenz zu schraubenf?rmigen Bewegungen haben, die er circummutation nennt.
Im September 1830 spricht sich Goethe in einem Aufsatz ?ber den Streit der beiden Naturforscher Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire aus; im M?rz 1832 setzt er diesen Aufsatz fort. Der Tatsachenfanatiker Cuvier trat im Februar und M?rz 1830 in der franz?sischen Akademie gegen die Ausf?hrungen Geoffroy St. Hilaires auf, der, nach Goethes Meinung, zu "einer hohen der Idee gem?ssen Denkweise gelangt" war. Cuvier ist ein Meister im Unterscheiden der einzelnen organischen Formen. Geoffroy bem?ht sich, die Analogien in diesen Formen aufzusuchen und den Nachweis zu f?hren, die Organisation der Tiere sei "einem allgemeinen, nur hier und da modifizierten Plan, woher die Unterscheidung derselben abzuleiten sei, unterworfen". Er strebt die Verwandtschaft der Gesch?pfe zu erkennen und ist der ?berzeugung, das Einzelne k?nne aus dem Ganzen nach und nach entwickelt werden. Goethe betrachtet Geoffroy als Gesinnungsgenossen; er spricht das am 2. August 1830 zu Eckermann mit den Worten aus: "Jetzt ist Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle bedeutenden Sch?ler und Anh?nger Frankreichs. Dieses Ereignis ist f?r mich von ganz unglaublichem Wert und ich juble mit Recht ?ber den endlichen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die vorz?glich auch die meinige ist." Geoffroy ?bt eine Denkweise, die auch die Goethes ist, er sucht in der Erfahrung mit dem sinnlich Mannigfaltigen zugleich auch die Idee der Einheit zu ergreifen; Cuvier h?lt sich an das Mannigfaltige, an das Einzelne, weil ihm bei dessen Betrachtung die Idee nicht zugleich aufgeht. Geoffroy hat eine richtige Empfindung von dem Verh?ltnisse des Sinnlichen zur Idee; Cuvier hat sie nicht. Deshalb bezeichnet er Geoffroys einziges Prinzip als anmasslich, ja erkl?rt es sogar f?r untergeordnet. Man kann besonders an Naturforschern die Erfahrung machen, dass sie absprechend ?ber ein "bloss" Ideelles, Gedachtes sprechen. Sie haben kein Organ f?r das Ideelle und kennen daher dessen Wirkungsweise nicht. Goethe wurde dadurch, dass er dieses Organ in besonders vollkommener Ausbildung besass, von seiner allgemeinen Weltanschauung aus zu seinen tiefen Einsichten in das Wesen des Lebendigen gef?hrt. Seine F?higkeit, die Geistes-Augen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde wirken zu lassen, machte es ihm m?glich, die einheitliche sinnlich-?bersinnliche Wesenheit anzuschauen, die sich durch die organische Entwicklung hindurchzieht, und diese Wesenheit auch da anzuerkennen, wo ein Organ sich aus dem andern herausbildet, durch Umbildung seine Verwandtschaft, seine Gleichheit mit dem vorhergehenden verbirgt, verleugnet, und sich in Bestimmung wie in Bildung in dem Grade ver?ndert, dass keine Vergleichung nach ?usseren Kennzeichen mehr mit dem vorhergehenden stattfinden k?nne . Das Sehen mit den Augen des Leibes vermittelt die Erkenntnis des Sinnlichen und Materiellen; das Sehen mit Geistes-Augen f?hrt zur Anschauung der Vorg?nge im menschlichen Bewusstsein, zur Beobachtung der Gedanken-, Gef?hls- und Willenswelt; der lebendige Bund zwischen geistigem und leiblichem Auge bef?higt zur Erkenntnis des Organischen, das als sinnlich-?bersinnliches Element zwischen dem rein Sinnlichen und rein Geistigen in der Mitte liegt.
DIE BETRACHTUNG DER FARBENWELT.
DIE ERSCHEINUNGEN DER FARBENWELT.
Goethe wird durch die Empfindung, dass "die hohen Kunstwerke von Menschen nach wahren und nat?rlichen Gesetzen hervorgebracht" sind, fortw?hrend angeregt, diese wahren und nat?rlichen Gesetze des k?nstlerischen Schaffens aufzusuchen. Er ist ?berzeugt, die Wirkung eines Kunstwerkes m?sse darauf beruhen, dass aus demselben eine nat?rliche Gesetzm?ssigkeit herausleuchtet. Er will diese Gesetzm?ssigkeit erkennen. Er will wissen, aus welchem Grunde die h?chsten Kunstwerke zugleich die h?chsten Naturwerke sind. Es wird ihm klar, dass die Griechen nach eben den Gesetzen verfuhren, nach denen die Natur verf?hrt, als sie "aus der menschlichen Gestalt den Kreis g?ttlicher Bildung" entwickelten. . Er will sehen, wie die Natur diese Bildung zu stande bringt. Um sie in den Kunstwerken verstehen zu k?nnen. Goethe schildert, wie es ihm in Italien allm?hlich gelungen ist, zu einer Einsicht in die nat?rliche Gesetzm?ssigkeit des k?nstlerischen Schaffens zu kommen . "Zum Gl?ck konnte ich mich an einigen von der Poesie her?bergebrachten, mir durch inneres Gef?hl und langen Gebrauch bew?hrten Maximen festhalten, so dass es mir zwar schwer, aber nicht unm?glich ward, durch ununterbrochenes Anschauen der Natur und Kunst, durch lebendiges wirksames Gespr?ch mit mehr oder weniger einsichtigen Kennern, durch stetes Leben mit mehr oder weniger praktischen oder denkenden K?nstlern, nach und nach mir die Kunst ?berhaupt einzuteilen, ohne sie zu zerst?ckeln, und ihre verschiedenen ineinander greifenden Elemente gewahr zu werden." Nur ein einziges Element will ihm nicht die nat?rlichen Gesetze offenbaren, nach denen es im Kunstwerke wirkt: das Kolorit. Mehrere Gem?lde werden "in seiner Gegenwart erfunden und komponiert, die Teile, der Stellung und der Form nach, sorgf?ltig durchstudiert". Die K?nstler k?nnen ihm Rechenschaft geben, wie sie bei der Komposition verfahren. Sobald aber die Rede aufs Kolorit kommt, da scheint alles von der Willk?r abzuh?ngen. Niemand weiss, welcher Bezug zwischen Farbe und Helldunkel, und zwischen den einzelnen Farben herrscht. Worauf es beruht, dass Gelb einen warmen und behaglichen Eindruck macht, Blau die Empfindung der K?lte hervorruft, dass Gelb und Rotblau nebeneinander eine harmonische Wirkung hervorbringen, dar?ber kann Goethe keinen Aufschluss gewinnen. Er sieht ein, dass er sich mit der Gesetzm?ssigkeit der Farbenwelt in der Natur erst bekannt machen muss, um von da aus in die Geheimnisse des Kolorits einzudringen.
Weder die Begriffe ?ber die physische Natur der Farbenerscheinungen, die Goethe von seiner Studienzeit her noch im Ged?chtnis hatte, noch die physikalischen Kompendien, die er um Rat fragte, erwiesen sich f?r seinen Zweck als fruchtbar. "Wie alle Welt, war ich ?berzeugt, dass die s?mtlichen Farben im Licht enthalten seien; nie war es mir anders gesagt worden, und niemals hatte ich die geringste Ursache gefunden, daran zu zweifeln, weil ich bei der Sache nicht weiter interessiert war" . Als er aber anfing, interessiert zu sein, da fand er, dass er aus dieser Ansicht "nichts f?r seinen Zweck entwickeln konnte". Der Begr?nder dieser Ansicht, die Goethe bei den Naturforschern herrschend fand, und die heute noch dieselbe Stellung einnimmt, ist Newton. Sie behauptet, das weisse Licht, wie es von der Sonne ausgeht, ist aus farbigen Lichtern zusammengesetzt. Die Farben entstehen dadurch, dass die einzelnen Bestandteile aus dem weissen Lichte ausgesondert werden. L?sst man durch eine kleine runde ?ffnung Sonnenlicht in ein dunkles Zimmer treten, und f?ngt es auf einem weissen Schirme, der senkrecht gegen die Richtung des einfallenden Lichtes gestellt wird, auf, so erh?lt man ein weisses Sonnenbild. Stellt man zwischen die ?ffnung und den Schirm ein Glasprisma, durch welches das Licht durchstrahlt, so ver?ndert sich das weisse runde Sonnenbild. Es erscheint verschoben, in die L?nge gezogen und farbig. Man nennt dieses Bild Sonnenspektrum. Bringt man das Prisma so an, dass die oberen Partien des Lichtes einen k?rzeren Weg innerhalb der Glasmasse zur?ckzulegen haben als die unteren, so ist das farbige Bild nach unten verschoben. Der obere Rand des Bildes ist rot, der untere violett; das Rote geht nach unten in Gelb, das Violette nach oben in Blau ?ber; die mittlere Partie des Bildes ist im allgemeinen weiss. Nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes vom Prisma verschwindet das Weisse in der Mitte vollst?ndig; das ganze Bild erscheint farbig, und zwar von oben nach unten in der Folge: rot, orange, gelb, gr?n, hellblau, indigo, violett. Aus diesem Versuche schliessen Newton und seine Anh?nger, dass die Farben urspr?nglich in dem weissen Lichte enthalten seien, aber miteinander vermischt. Durch das Prisma werden sie voneinander gesondert. Sie haben die Eigenschaft, beim Durchgange durch einen durchsichtigen K?rper verschieden stark von ihrer Richtung abgelenkt, das heisst gebrochen zu werden. Das rote Licht wird am wenigsten, das violette am meisten gebrochen. Nach der Stufenfolge ihrer Brechbarkeit erscheinen sie im Spektrum. Betrachtet man einen schmalen Papierstreifen auf schwarzem Grunde durch ein Prisma, so erscheint derselbe ebenfalls abgelenkt. Er ist zugleich breiter und an seinen R?ndern farbig. Der obere Rand erscheint violett, der untere rot; das Violette geht auch hier ins Blaue, das Rote ins Gelbe ?ber; die Mitte ist im allgemeinen weiss. Nur bei einer gewissen Entfernung des Prismas von dem Streifen erscheint dieser ganz farbig. In der Mitte erscheint wieder das Gr?n. Auch hier soll das Weisse des Papierstreifens in seine farbigen Bestandteile zerlegt sein. Dass nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes oder Streifens vom Prisma alle Farben erscheinen, w?hrend sonst die Mitte weiss ist, erkl?ren die Newtonianer einfach. Sie sagen: In der Mitte fallen die st?rker abgelenkten Lichter vom oberen Teil des Bildes mit den schw?cher abgelenkten vom unteren zusammen und vermischen sich zu Weiss. Nur an den R?ndern erscheinen die Farben, weil hier in die am schw?chsten abgelenkten Lichtteile keine st?rker abgelenkten von oben und in die am st?rksten abgelenkten keine schw?cher abgelenkten von unten hineinfallen k?nnen.
Dies ist die Ansicht, aus der Goethe f?r seinen Zweck nichts entwickeln kann. Er will deshalb die Erscheinungen selbst beobachten. Er wendet sich an Hofrat B?ttner in Jena, der ihm die Apparate leihweise ?berl?sst, mit denen er die n?tigen Versuche anstellen kann. Er ist zun?chst mit andern Arbeiten besch?ftigt und will, auf B?ttners Dr?ngen, die Apparate wieder zur?ckgeben. Vorher nimmt er doch noch ein Prisma zur Hand, um durch dasselbe auf eine v?llig geweisste Wand zu sehen. Er erwartet, dass sie in verschiedenen Stufen gef?rbt erscheine. Aber sie bleibt weiss. Nur an den Stellen, wo das Weisse an Dunkles st?sst, treten Farben auf. Die Fensterst?be erscheinen in den allerlebhaftesten Farben. Aus diesen Beobachtungen glaubt Goethe zu erkennen, dass die Newtonsche Anschauung falsch sei, dass die Farben nicht im weissen Lichte enthalten seien. Die Grenze, das Dunkle, m?sse mit der Entstehung der Farben etwas zu tun haben. Er setzt die Versuche fort. Weisse Fl?chen auf schwarzem und schwarze Fl?chen auf weissem Grunde werden betrachtet. Allm?hlich bildet er sich eine eigene Ansicht. Eine weisse Scheibe auf schwarzem Grunde erscheint beim Durchblicken durch das Prisma verschoben. Die oberen Partien der Scheibe, meint Goethe, schieben sich ?ber das angrenzende Schwarz des Untergrundes; w?hrend sich dieser Untergrund ?ber die unteren Partien der Scheibe hinzieht. Sieht man nun durch das Prisma, so erblickt man durch den oberen Scheibenteil den schwarzen Grund wie durch einen weissen Schleier. Besieht man sich den unteren Teil der Scheibe, so scheint dieser durch das ?bergelagerte Dunkle hindurch. Oben wird ein Helles ?ber ein Dunkles gef?hrt; unten ein Dunkles ?ber ein Helles. Der obere Rand erscheint blau, der untere gelb. Das Blau geht gegen das Schwarze zu in Violett; das Gelbe nach unten in ein Rot ?ber. Wird das Prisma von der beobachteten Scheibe entfernt, so verbreitern sich die farbigen R?nder; das Blau nach unten; das Gelb nach oben. Bei hinreichender Entfernung greift das Gelb von unten ?ber das Blau von oben; durch das ?bereinandergreifen entsteht in der Mitte Gr?n. Zur Best?tigung dieser Ansicht betrachtet Goethe eine schwarze Scheibe auf weissem Grunde durch das Prisma. Nun wird oben ein Dunkles ?ber ein Helles, unten ein Helles ?ber ein Dunkles gef?hrt. Oben erscheint Gelb, unten Blau. Bei Verbreiterung der R?nder durch Entfernung des Prismas von der Scheibe wird das untere Blau, das allm?hlich gegen die Mitte zu in Violett ?bergeht, ?ber das obere Gelb, das in seiner Verbreiterung nach und nach einen roten Ton erh?lt, gef?hrt. Es entsteht in der Mitte Pfirsichbl?t. Goethe sagte sich: was f?r die weisse Scheibe richtig ist, muss auch f?r die schwarze gelten. "Wenn sich dort das Licht in so vielerlei Farben aufl?st, so m?sste ja hier auch die Finsternis als in Farben aufgel?st angesehen werden" . Goethe teilt nun seine Beobachtungen und die Bedenken, die ihm daraus gegen die Newtonsche Anschauung erwachsen sind, einem ihm bekannten Physiker mit. Dieser erkl?rt die Bedenken f?r unbegr?ndet. Er leitete die farbigen R?nder und das Weisse in der Mitte, sowie dessen ?bergang in Gr?n, bei geh?riger Entfernung des Prismas von dem beobachteten Objekt, im Sinne der Newtonschen Ansicht ab. ?hnlich verhalten sich andere Naturforscher, denen Goethe die Sache vorlegt. Er setzt die Beobachtungen, f?r die er gerne Beihilfe von kundigen Fachleuten gehabt h?tte, allein fort. Er l?sst ein grosses Prisma aus Spiegelscheiben zusammensetzen, das er mit reinem Wasser anf?llt. Weil er bemerkt, dass die gl?sernen Prismen, deren Querschnitt ein gleichseitiges Dreieck ist, wegen der starken Verbreiterung der Farbenerscheinung dem Beobachter oft hinderlich sind: l?sst er seinem grossen Prisma den Querschnitt eines gleichschenkeligen Dreieckes geben, dessen kleinster Winkel nur f?nfzehn bis zwanzig Grade gross ist. Die Versuche, welche in der Weise angestellt werden, dass das Auge durch das Prisma auf einen Gegenstand blickt, nennt Goethe subjektiv. Sie stellen sich dem Auge dar, sind aber nicht in der Aussenwelt fixiert. Er will zu diesen auch objektive hinzuf?gen. Dazu bedient er sich des Wasserprismas. Das Licht scheint durch ein Prisma durch, und hinter dem Prisma wird das Farbenbild auf einem Schirme aufgefangen. Goethe l?sst nun das Sonnenlicht durch die ?ffnungen ausgeschnittener Pappen hindurchgehen. Er erh?lt dadurch einen erleuchteten Raum, der ringsherum von Dunkelheit begrenzt ist. Diese begrenzte Lichtmasse geht durch das Prisma und wird durch dasselbe von ihrer Richtung abgelenkt. H?lt man der aus dem Prisma kommenden Lichtmasse einen Schirm entgegen, so entsteht auf demselben ein Bild, das im allgemeinen an den R?ndern oben und unten gef?rbt ist. Ist das Prisma so gestellt, dass sein Querschnitt von oben nach unten schm?ler wird, so ist der obere Rand des Bildes blau, der untere gelb gef?rbt. Das Blau geht gegen den dunklen Raum in Violett, gegen die helle Mitte zu in Hellblau ?ber; das Gelbe gegen die Dunkelheit zu in Rot. Auch bei dieser Erscheinung leitet Goethe die Farbenerscheinung von der Grenze her. Oben strahlt die helle Lichtmasse in den dunklen Raum hinein; sie erhellt ein Dunkles, das dadurch blau erscheint. Unten strahlt der dunkle Raum in die Lichtmasse hinein; er verdunkelt ein Helles und l?sst es gelb erscheinen. Durch Entfernung des Schirmes von dem Prisma werden die Farbenr?nder breiter, das Gelbe n?hert sich dem Blauen. Durch Einstrahlung des Blauen in das Gelbe erscheint bei hinl?nglicher Entfernung des Schirmes vom Prisma in der Mitte des Bildes Gr?n. Goethe macht sich das Hineinstrahlen des Hellen in das Dunkle und des Dunklen in das Helle dadurch anschaulich, dass er in der Linie, in welcher die Lichtmasse durch den dunkeln Raum geht, eine weisse feine Staubwolke erregt, die er durch feinen, trockenen Haarpuder hervorbringt. "Die mehr oder weniger farbige Erscheinung wird nun durch die weissen Atome aufgefangen und dem Auge in ihrer ganzen Breite und L?nge dargestellt" . Goethe findet seine Ansicht, die er an den subjektiven Erscheinungen gewonnen, durch die objektiven best?tigt. Die Farben werden durch das Zusammenwirken von Hell und Dunkel hervorgebracht. Das Prisma dient nur dazu, Hell und Dunkel ?bereinander zu schieben.
Goethe kann, nachdem er diese Versuche gemacht hat, die Newtonsche Ansicht nicht zu der seinigen machen. Es geht ihm mit ihr ?hnlich wie mit der Hallerschen Einschachtelungslehre. Wie diese den ausgebildeten Organismus bereits mit allen seinen Teilen im Keime enthalten denkt, so glauben die Newtonianer, dass die Farben, die unter gewissen Bedingungen am Lichte erscheinen, in diesem schon eingeschlossen seien. Er k?nnte gegen diesen Glauben dieselben Worte gebrauchen, die er der Einschachtelungslehre entgegengehalten hat, sie "beruhe auf einer blossen aussersinnlichen Einbildung, auf einer Annahme, die man zu denken glaubt, aber in der Sinnenwelt niemals darstellen kann" . Ihm sind die Farben Neubildungen, die an dem Lichte entwickelt werden, nicht Wesenheiten, die aus dem Lichte bloss ausgewickelt werden. Wegen seiner "der Idee gem?ssen Denkweise" muss er die Newtonsche Ansicht ablehnen. Diese kennt das Wesen des Ideellen nicht. Nur was tats?chlich vorhanden ist, erkennt sie an. Was in derselben Weise vorhanden ist wie das Sinnlich-Wahrnehmbare. Und wo sie die Tats?chlichkeit nicht durch die Sinne nachweisen kann; da nimmt sie dieselbe hypothetisch an. Weil am Lichte die Farben sich entwickeln; also der Idee nach schon in demselben enthalten sein m?ssen, glaubt sie, sie seien auch tats?chlich, materiell in demselben enthalten und werden durch das Prisma und die dunkle Umgrenzung nur hervorgeholt. Goethe weiss, dass die Idee in der Sinnenwelt wirksam ist; deshalb versetzt er etwas, was als Idee vorhanden ist, nicht in den Bereich des Tats?chlichen. In der unorganischen Natur wirkt das Ideelle ebenso wie in der organischen, nur nicht als sinnlich-?bersinnliche Form. Ihre ?ussere Erscheinung ist ganz materiell, bloss sinnlich. Sie dringt nicht ein in das Sinnliche; sie durchgeistigt es nicht. Die Vorg?nge der unorganischen Natur verlaufen gesetzm?ssig, und diese Gesetzm?ssigkeit stellt sich dem Beobachter als Idee dar. Wenn man an einer Stelle des Raumes weisses Licht und an einer andern Farben wahrnimmt, die an demselben entstehen, so besteht zwischen den beiden Wahrnehmungen ein gesetzm?ssiger Zusammenhang, der als Idee vorgestellt werden kann. Wenn aber jemand diese Idee verk?rperlicht und als Tats?chliches in den Raum hinaus versetzt, das von dem Gegenstande der einen Wahrnehmung in den der andern hin?berzieht, so entspringt das aus einer grobsinnlichen Vorstellungsweise. Dieses Grobsinnliche ist es, was Goethe von der Newtonschen Anschauung zur?ckst?sst. Die Idee ist es, die einen unorganischen Vorgang in den andern hin?berleitet, nicht ein Tats?chliches, das von dem einen zu dem andern wandert.
Die Goethesche Weltanschauung kann nur zwei Quellen f?r alle Erkenntnis der unorganischen Naturvorg?nge anerkennen: dasjenige, was an diesen Vorg?ngen sinnlich wahrnehmbar ist, und die ideellen Zusammenh?nge des Sinnlich-Wahrnehmbaren, die sich dem Denken offenbaren. Die ideellen Zusammenh?nge innerhalb der Sinneswelt sind nicht gleicher Art. Es gibt solche, die unmittelbar einleuchtend sind, wenn sinnliche Wahrnehmungen nebeneinander oder nacheinander auftreten, und andere, die man erst durchschauen kann, wenn man sie auf solche der ersten Art zur?ckf?hrt. In der Erscheinung, die sich dem Auge darbietet, wenn es ein Dunkles durch ein Helles ansieht und Blau wahrnimmt, glaubt Goethe einen Zusammenhang der ersten Art zwischen Licht, Finsternis und Farbe zu erkennen. Ebenso ist es, wenn Helles durch ein Dunkles angeschaut gelb ergibt. Die Randerscheinungen des Spektrums lassen einen Zusammenhang erkennen, der durch unmittelbares Beobachten klar wird. Das Spektrum, das in einer Stufenfolge sieben Farben vom Rot bis zum Violett zeigt, kann nur verstanden werden, wenn man sieht, wie zu den Bedingungen, durch welche die Randerscheinungen entstehen, andere hinzugef?gt werden. Die einfachen Randerscheinungen haben sich in dem Spektrum zu einem komplizierten Ph?nomen verbunden, das nur verstanden werden kann, wenn man es aus den Grunderscheinungen ableitet. Was in dem Grundph?nomen in seiner Reinheit vor dem Beobachter steht, das erscheint in dem komplizierten, durch die hinzugef?gten Bedingungen, unrein, modifiziert. Die einfachen Tatbest?nde sind nicht mehr unmittelbar zu erkennen. Goethe sucht daher die komplizierten Ph?nomene ?berall auf die einfachen, reinen zur?ckzuf?hren. In dieser Zur?ckf?hrung sieht er die Erkl?rung der unorganischen Natur. Vom reinen Ph?nomen geht er nicht mehr weiter. In demselben offenbart sich ein ideeller Zusammenhang sinnlicher Wahrnehmungen, der sich durch sich selbst erkl?rt. Das reine Ph?nomen nennt Goethe Urph?nomen. Er sieht es als m?ssige Spekulation an, ?ber das Urph?nomen weiter nachzudenken. "Der Magnet ist ein Urph?nomen, das man nur aussprechen darf, um es erkl?rt zu haben." Ein zusammengesetztes Ph?nomen wird erkl?rt, wenn man zeigt, wie es sich aus Urph?nomenen aufbaut.
Die moderne Naturwissenschaft verf?hrt anders als Goethe. Sie will die Vorg?nge in der Sinnenwelt auf Bewegungen kleinster K?rperteile zur?ckf?hren und bedient sich zur Erkl?rung dieser Bewegungen derselben Gesetze, durch die sie die Bewegungen begreift, die sichtbar im Raume vor sich gehen. Diese sichtbaren Bewegungen zu erkl?ren ist Aufgabe der Mechanik. Wird die Bewegung eines K?rpers beobachtet, so fragt die Mechanik: durch welche Kraft ist er in Bewegung versetzt worden; welchen Weg legt er in einer bestimmten Zeit zur?ck; welche Form hat die Linie, in der er sich bewegt u. s. w. Die Beziehungen der Kraft, des zur?ckgelegten Weges, der Form der Bahn sucht sie mathematisch darzustellen. Nun sagt der Naturforscher: das rote Licht kann auf eine schwingende Bewegung kleinster K?rperteile zur?ckgef?hrt werden, die sich im Raume fortpflanzt. Begriffen wird diese Bewegung dadurch, dass man die in der Mechanik gewonnenen Gesetze auf sie anwendet. Die Wissenschaft der unorganischen Natur betrachtet es als ihr Ziel, allm?hlich vollst?ndig in angewandte Mechanik ?berzugehen.
Die moderne Physik fragt nach der Anzahl der Schwingungen in der Zeiteinheit, welche einer bestimmten Farbenqualit?t entsprechen. Aus der Anzahl der Schwingungen, die dem Rot entsprechen und aus derjenigen, welche dem Violett entsprechen, sucht sie den physikalischen Zusammenhang der beiden Farben zu bestimmen. Vor ihren Blicken verschwindet das Qualitative; sie betrachtet das R?umliche und Zeitliche der Vorg?nge. Goethe fragt: welcher Zusammenhang besteht zwischen Rot und Violett, wenn man vom R?umlichen und Zeitlichen absieht und bloss das Qualitative der Farben betrachtet. Die Goethesche Betrachtungsweise hat zur Voraussetzung, dass das Qualitative wirklich auch in der Aussenwelt vorhanden ist und mit dem Zeitlichen und R?umlichen ein untrennbares Ganzes ist. Die moderne Physik muss dagegen von der Grundanschauung ausgehen, dass in der Aussenwelt nur Quantitatives, licht- und farblose Bewegungsvorg?nge vorhanden seien, und dass alles Qualitative erst als Wirkung des Quantitativen auf den sinn- und geistbegabten Organismus entstehe. W?re diese Annahme richtig, dann k?nnten die gesetzm?ssigen Zusammenh?nge des Qualitativen auch nicht in der Aussenwelt gesucht, sie m?ssten aus dem Wesen der Sinneswerkzeuge, des Nervenapparates und des Vorstellungsorganes abgeleitet werden. Die qualitativen Elemente der Vorg?nge w?ren dann nicht Gegenstand der physikalischen Untersuchung, sondern der physiologischen und psychologischen. Dieser Voraussetzung gem?ss verf?hrt die moderne Naturwissenschaft. Der Organismus ?bersetzt, nach ihrer Ansicht, entsprechend der Einrichtung seiner Augen, seines Sehnervs und seines Gehirns einen Bewegungsvorgang in die Empfindung des Rot, einen andern in die des Violett. Daher ist alles ?ussere der Farbenwelt erkl?rt, wenn man den Zusammenhang der Bewegungsvorg?nge durchschaut hat, von denen diese Welt bestimmt wird.
Ein Beweis f?r diese Ansicht wird in folgender Beobachtung gesucht. Der Sehnerv empfindet jeden ?usseren Eindruck als Lichtempfindung. Nicht nur Licht, sondern auch ein Stoss oder Druck auf das Auge, eine Zerrung der Netzhaut bei schneller Bewegung des Auges, ein elektrischer Strom, der durch den Kopf geleitet wird: das alles bewirkt Lichtempfindung. Dieselben Dinge empfindet ein anderer Sinn in anderer Weise. Stoss, Druck, Zerrung, elektrischer Strom bewirken, wenn sie die Haut erregen, Tastempfindungen. Elektrizit?t erregt im Ohr eine Geh?r-, auf der Zunge eine Geschmackempfindung. Daraus schliesst man, dass der Empfindungsinhalt, der im Organismus durch eine Einwirkung von aussen auftritt, verschieden ist von dem ?usseren Vorgange, durch den er veranlasst wird. Die rote Farbe wird von dem Organismus nicht empfunden, weil sie an einen entsprechenden Bewegungsvorgang draussen im Raume gebunden ist, sondern weil Auge, Sehnerv und Gehirn des Organismus so eingerichtet sind, dass sie einen farblosen Bewegungsvorgang in eine Farbe ?bersetzen. Das hiermit ausgesprochene Gesetz wurde von dem Physiologen Johannes M?ller, der es zuerst aufgestellt hat, das Gesetz der spezifischen Sinnesenergieen genannt.
Die angef?hrte Beobachtung beweist nur, dass der sinn- und geistbegabte Organismus die verschiedenartigsten Eindr?cke in die Sprache der Sinne ?bersetzen kann, auf die sie ausge?bt werden. Nicht aber, dass der Inhalt jeder Sinnesempfindung auch nur im Innern des Organismus vorhanden ist. Bei einer Zerrung des Sehnervs entsteht eine unbestimmte, ganz allgemeine Erregung, die nichts enth?lt, was veranlasst, ihren Inhalt in den Raum hinaus zu versetzen. Eine Empfindung, die durch einen wirklichen Lichteindruck entsteht, ist inhaltlich unzertrennlich verbunden mit dem R?umlich-Zeitlichen, das ihr entspricht. Die Bewegung eines K?rpers und seine Farbe sind auf ganz gleiche Weise Wahrnehmungsinhalt. Wenn man die Bewegung f?r sich vorstellt, so abstrahiert man von dem, was man noch sonst an dem K?rper wahrnimmt. Wie die Bewegung, so sind alle ?brigen mechanischen und mathematischen Vorstellungen der Wahrnehmungswelt entnommen. Mathematik und Mechanik entstehen dadurch, dass von dem Inhalte der Wahrnehmungswelt ein Teil ausgesondert und f?r sich betrachtet wird. In der Wirklichkeit gibt es keine Gegenst?nde oder Vorg?nge, deren Inhalt ersch?pft ist, wenn man das an ihnen begriffen hat, was durch Mathematik und Mechanik auszudr?cken ist. Alles Mathematische und Mechanische ist an Farbe, W?rme und andere Qualit?ten gebunden. Wenn die Physik gen?tigt ist, anzunehmen, dass der Wahrnehmung einer Farbe Schwingungen im Raume entsprechen, denen eine sehr kleine Ausdehnung und eine sehr grosse Geschwindigkeit eigen ist, so k?nnen diese Bewegungen nur analog den Bewegungen gedacht werden, die sichtbar im Raume vorgehen. Das heisst, wenn die K?rperwelt bis in ihre kleinsten Elemente bewegt gedacht wird, so muss sie auch bis in ihre kleinsten Elemente hinein mit Farbe, W?rme und andern Eigenschaften ausgestattet vorgestellt werden. Wer Farben, W?rme, T?ne u. s. w. als Qualit?ten auffasst, die als Wirkungen ?usserer Vorg?nge durch den vorstellenden Organismus nur im Innern desselben existieren, der muss auch alles Mathematische und Mechanische, das mit diesen Qualit?ten zusammenh?ngt, in dieses Innere verlegen. Dann aber bleibt ihm f?r seine Aussenwelt nichts mehr ?brig. Das Rot, das ich sehe, und die Lichtschwingungen, die der Physiker als diesem Rot entsprechend nachweist, sind in Wirklichkeit eine Einheit, die nur der abstrahierende Verstand von einander trennen kann. Die Schwingungen im Raume, die der Qualit?t "Rot" entsprechen, w?rde ich als Bewegung sehen, wenn mein Auge dazu organisiert w?re. Aber ich w?rde verbunden mit der Bewegung den Eindruck der roten Farbe haben.
Die moderne Naturwissenschaft versetzt ein unwirkliches Abstraktum, ein aller Empfindungsqualit?ten entkleidetes, schwingendes Substrat in den Raum und wundert sich, dass nicht begriffen werden kann, was den vorstellenden mit Nervenapparaten und Gehirn ausgestatteten Organismus veranlassen kann, diese gleichgiltigen Bewegungsvorg?nge in die bunte, von W?rmegraden und T?nen durchsetzte Sinnenwelt zu ?bersetzen. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, dass der Mensch wegen einer un?berschreitbaren Grenze seines Erkennens nie verstehen werde, wie die Tatsache: "ich schmecke S?sses, rieche Rosenduft, h?re Orgelton, sehe Rot" zusammenh?ngt mit bestimmten Bewegungen kleinster K?rperteile im Gehirn, welche Bewegungen wieder veranlasst werden durch die Schwingungen der geschmack-, geruch-, ton- und farbenlosen Elemente der ?usseren K?rperwelt. "Es ist durchaus und f?r immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- u. s. w. Atomen nicht sollte gleichgiltig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden" . Es liegt aber hier durchaus keine Erkenntnisgrenze vor. Wo im Raume eine Anzahl von Atomen in einer bestimmten Bewegung ist, da ist notwendig auch eine bestimmte Qualit?t vorhanden. Und umgekehrt, wo Rot auftritt, da muss die Bewegung vorhanden sein. Nur das abstrahierende Denken kann das eine von dem andern trennen. Wer die Bewegung von dem ?brigen Inhalte des Vorganges, zu dem die Bewegung geh?rt, in der Wirklichkeit abgetrennt denkt, der kann den ?bergang von dem einen zu dem andern nicht wieder finden.
Nur was an einem Vorgang Bewegung ist, kann wieder von Bewegung abgeleitet werden; was dem Qualitativen der Farben- und Lichtwelt angeh?rt, kann auch nur auf ein ebensolches Qualitatives innerhalb desselben Gebietes zur?ckgef?hrt werden. Die Mechanik f?hrt zusammengesetzte Bewegungen auf einfache zur?ck, die unmittelbar begreiflich sind. Die Farbentheorie muss komplizierte Farbenerscheinungen auf einfache zur?ckf?hren, die in gleicher Weise durchschaut werden k?nnen. Ein einfacher Bewegungsvorgang ist ebenso ein Urph?nomen, wie das Entstehen des Gelben aus dem Zusammenwirken von Hell und Dunkel. Goethe weiss, was die mechanischen Urph?nomene f?r die Erkl?rung der unorganischen Natur leisten k?nnen. Was innerhalb der K?rperwelt nicht mechanisch ist, das f?hrt er auf Urph?nomene zur?ck, die nicht mechanischer Art sind. Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, er habe die mechanische Betrachtung der Natur verworfen und sich nur auf die Beobachtung und Aneinanderreihung des Sinnlich-Anschaulichen beschr?nkt . Du Bois-Reymond findet : Goethes "Theoretisieren beschr?nkt sich darauf, aus einem Urph?nomen, wie er es nennt, andere Ph?nomene hervorgehen zu lassen, etwa wie ein Nebelbild dem andern folgt, ohne einleuchtenden urs?chlichen Zusammenhang. Der Begriff der mechanischen Kausalit?t war es, der Goethe g?nzlich abging". Was tut aber die Mechanik anderes, als verwickelte Vorg?nge aus einfachen Urph?nomenen hervorgehen lassen? Goethe hat auf dem Gebiete der Farbenwelt genau dasselbe gemacht, was der Mechaniker im Gebiete der Bewegungsvorg?nge leistet. Weil Goethe nicht der Ansicht ist, alle Vorg?nge in der unorganischen Natur seien rein mechanische, deshalb hat man ihm den Begriff der mechanischen Kausalit?t aberkannt. Wer das thut, der zeigt nur, dass er selbst im Irrtum dar?ber ist, was mechanische Kausalit?t innerhalb der K?rperwelt bedeutet. Goethe bleibt innerhalb des Qualitativen der Licht- und Farbenwelt stehen; das Quantitative, Mechanische, das mathematisch auszudr?cken ist, ?berl?sst er andern. Er "hat die Farbenlehre durchaus von der Mathematik entfernt zu halten gesucht, ob sich gleich gewisse Punkte deutlich genug ergeben, wo die Beihilfe der Messkunst w?nschenswert sein w?rde. Aber so mag auch dieser Mangel zum Vorteil gereichen, indem es nunmehr des geistreichen Mathematikers Gesch?ft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn die Farbenlehre seiner Hilfe bedarf, und wie er zur Vollendung dieses Teils der Naturlehre das Seinige beitragen kann" . Die qualitativen Elemente des Gesichtssinnes: Licht, Finsternis, Farben m?ssen erst aus ihren eigenen Zusammenh?ngen begriffen, auf Urph?nomene zur?ckgef?hrt werden; dann kann auf einer h?heren Stufe des Denkens untersucht werden, welcher Bezug besteht zwischen diesen Zusammenh?ngen und dem Quantitativen, dem Mechanisch-Mathematischen in der Licht- und Farbenwelt.
Die Zusammenh?nge innerhalb des Qualitativen der Farbenwelt will Goethe in ebenso strengem Sinne auf die einfachsten Elemente zur?ckf?hren, wie das der Mathematiker oder Mechaniker auf seinem Gebiete tut. Die "Bed?chtlichkeit, nur das N?chste ans N?chste zu reihen, vielmehr das N?chste aus dem N?chsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, m?ssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig w?ren. Denn eigentlich ist es die mathematische Methode, welche wegen ihrer Bed?chtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre Beweise sind eigentlich nur umst?ndliche Ausf?hrungen, dass dasjenige, was in Verbindung gebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem Umfange ?bersehen und unter allen Bedingungen richtig und unumst?sslich erfunden worden" .
Goethe entnimmt die Erkl?rungsprinzipien f?r die Erscheinungen unmittelbar aus dem Bereich der Beobachtung. Er zeigt, wie innerhalb der erfahrbaren Welt die Erscheinungen zusammenh?ngen. Vorstellungen, welche ?ber das Gebiet der Beobachtung hinausweisen, lehnt er ab. Alle Erkl?rungsarten, die das Feld der Erfahrung dadurch ?berschreiten, dass sie Faktoren herbeiziehen, die ihrer Wesenheit nach nicht beobachtbar sind, widersprechen der Goetheschen Weltanschauung. Eine solche Erkl?rungsart ist diejenige, welche das Wesen des Lichtes in einem Lichtstoff sucht, der als solcher nicht selbst wahrgenommen, sondern nur in seiner Wirkungsweise als Licht beobachtet werden kann. Auch geh?rt zu diesen Erkl?rungsarten die in der modernen Naturwissenschaft herrschende, nach welcher die Bewegungsvorg?nge der Lichtwelt nicht von den wahrnehmbaren Qualit?ten des Gesichtssinnes, sondern von den kleinsten Teilen des nicht wahrnehmbaren Stoffes ausgef?hrt werden. Es widerspricht der Goetheschen Weltanschauung nicht, sich vorzustellen, dass eine bestimmte Farbe mit einem bestimmten Bewegungsvorgang im Raume verkn?pft sei. Aber es widerspricht ihr durchaus, wenn behauptet wird, dieser Bewegungsvorgang geh?re einem ausserhalb der Erfahrung gelegenen Wirklichkeitsgebiete an, der Welt des Stoffes, die zwar in ihren Wirkungen, nicht aber ihrer eigenen Wesenheit nach beobachtet werden kann. F?r einen Anh?nger der Goetheschen Weltanschauung sind die Lichtschwingungen im Raume Vorg?nge, denen keine andere Art von Wirklichkeit zukommt als dem ?brigen Wahrnehmungsinhalt. Sie entziehen sich der unmittelbaren Beobachtung nicht deshalb, weil sie jenseits des Gebietes der Erfahrung liegen, sondern weil die menschlichen Sinnesorgane nicht so fein organisiert sind, dass sie Bewegungen von solcher Kleinheit noch unmittelbar wahrnehmen. W?re ein Auge so organisiert, dass es das Hin- und Herschwingen eines Dinges, das in einer Sekunde sich vierhundert Billionen-Mal wiederholt, noch in allen Einzelheiten beobachten k?nnte, so w?rde sich ein solcher Vorgang genau so darstellen wie einer der grob-sinnlichen Welt. Das heisst, das schwingende Ding w?rde dieselben Eigenschaften zeigen wie andere Wahrnehmungsdinge.
Jede Erkl?rungsart, welche die Dinge und Vorg?nge der Erfahrung aus anderen nicht innerhalb des Erfahrungsfeldes gelegenen ableitet, kann zu inhaltvollen Vorstellungen von diesem jenseits der Beobachtung befindlichen Wirklichkeitsgebiete nur dadurch gelangen, dass sie gewisse Eigenschaften aus der Erfahrungswelt entlehnt und auf das Unerfahrbare ?bertr?gt. So ?bertr?gt der Physiker H?rte, Undurchdringlichkeit auf die kleinsten K?rperelemente, denen er ausserdem noch die F?higkeit zuschreibt, ihresgleichen anzuziehen und abzustossen; dagegen erkennt er diesen Elementen Farbe, W?rme und andere Eigenschaften nicht zu. Er glaubt einen erfahrbaren Vorgang der Natur dadurch zu erkl?ren, dass er ihn auf einen nicht erfahrbaren zur?ckf?hrt. Nach Du Bois-Reymonds Ansicht ist Naturerkennen Zur?ckf?hren der Vorg?nge in der K?rperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren anziehende und abstossende Kr?fte bewirkt werden . Als das Bewegliche wird dabei die Materie, der den Raum erf?llende Stoff, angenommen. Dieser Stoff soll von Ewigkeit her dagewesen sein und wird in alle Ewigkeit hinein da sein. Dem Gebiete der Beobachtung soll aber die Materie nicht angeh?ren, sondern jenseits desselben vorhanden sein. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, dass der Mensch unf?hig sei, das Wesen der Materie selbst zu erkennen, dass er also die Vorg?nge der K?rperwelt auf etwas zur?ckf?hre, dessen Natur ihm immer unbekannt bleiben wird. "Nie werden wir besser als heute wissen, was hier im Raume, wo Materie ist, spukt" . Vor einer genauen ?berlegung l?st sich dieser Begriff der Materie in Nichts auf. Der wirkliche Inhalt, den man diesem Begriffe gibt, ist aus der Erfahrungswelt entlehnt. Man nimmt Bewegungen innerhalb der Erfahrungswelt wahr. Man f?hlt einen Zug, wenn man ein Gewicht in der Hand h?lt, und einen Druck, wenn man auf die horizontal hingehaltene Handfl?che ein Gewicht legt. Um diese Wahrnehmung zu erkl?ren, bildet man den Begriff der Kraft. Man stellt sich vor, dass die Erde das Gewicht anzieht. Die Kraft selbst kann nicht wahrgenommen werden. Sie ist ideell. Sie geh?rt aber doch dem Beobachtungsgebiete an. Der Geist beobachtet sie, weil er die ideellen Bez?ge der Wahrnehmungen untereinander anschaut. Zu dem Begriffe einer Abstossungskraft wird man gef?hrt, wenn man ein St?ck Kautschuk zusammendr?ckt, und es sich dann selbst ?berl?sst. Es stellt sich in seiner fr?heren Gestalt und Gr?sse wieder her. Man stellt sich vor, die zusammengedr?ngten Teile des Kautschuks stossen sich ab und nehmen den fr?heren Rauminhalt wieder ein. Solche aus der Beobachtung gesch?pfte Vorstellungen ?bertr?gt die angedeutete Denkart auf das unerfahrbare Wirklichkeitsgebiet. Sie tut in Wirklichkeit also nichts, als ein Erfahrbares aus einem andern Erfahrbaren herleiten. Nur versetzt sie willk?rlich das letztere in das Gebiet des Unerfahrbaren. Jeder Vorstellungsart, die von einem Unerfahrbaren spricht, ist nachzuweisen, dass sie einige Lappen aus dem Gebiete der Erfahrung aufnimmt und in ein jenseits der Beobachtung gelegenes Wirklichkeitsgebiet verweist. Nimmt man die Erfahrungslappen aus der Vorstellung des Unerfahrbaren heraus, so bleibt ein inhaltloser Begriff, ein Unbegriff, zur?ck. Die Erkl?rung eines Erfahrbaren kann nur darin bestehen, dass man es auf ein anderes Erfahrbares zur?ckf?hrt. Zuletzt gelangt man zu Elementen innerhalb der Erfahrung, die nicht mehr auf andere zur?ckgef?hrt werden k?nnen. Diese sind nicht weiter zu erkl?ren, weil sie keiner Erkl?rung bed?rftig sind. Sie enthalten ihre Erkl?rung in sich selbst. Ihr unmittelbares Wesen besteht in dem, was sie der Beobachtung darbieten. Ein solches Element ist f?r Goethe das Licht. Nach seiner Ansicht hat das Licht erkannt, wer es unbefangen in der Erscheinung wahrnimmt. Die Farben entstehen am Lichte und ihre Entstehung wird begriffen, wenn man zeigt, wie sie an demselben entstehen. Das Licht selbst ist in unmittelbarer Wahrnehmung gegeben. Was in ihm ideell veranlagt ist, erkennt man, wenn man beobachtet, welcher Zusammenhang zwischen ihm und den Farben ist. Nach dem Wesen des Lichtes zu fragen, nach einem Unerfahrbaren, das der Erscheinung "Licht" entspricht, ist vom Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung aus unm?glich. "Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudr?cken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollst?ndige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges." Das heisst eine vollst?ndige Darstellung der Wirkungen eines Erfahrbaren umfasst alle Erscheinungen, die in ihm ideell veranlagt sind. "Vergebens bem?hen wir uns den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten. -- Die Farben sind Taten des Lichtes, Taten und Leiden. In diesem Sinne k?nnen wir von denselben Aufkl?rung ?ber das Licht erwarten."
Das Licht stellt sich der Beobachtung dar als "das einfachste, homogenste, unzerlegteste Wesen, das wir kennen" . Ihm entgegengesetzt ist die Finsternis. F?r Goethe ist die Finsternis nicht die vollkommen kraftlose Abwesenheit des Lichtes. Sie ist ein Wirksames. Sie stellt sich dem Licht entgegen und tritt mit ihm in Wechselwirkung. Die moderne Naturwissenschaft sieht die Finsternis an als ein vollkommenes Nichts. Das Licht, das in einen finstern Raum einstr?mt, hat, nach dieser Ansicht, keinen Widerstand der Finsternis zu ?berwinden. Goethe stellt sich vor, dass Licht und Finsternis sich zu einander ?hnlich verhalten wie der Nord- und S?dpol eines Magneten. Die Finsternis kann das Licht in seiner Wirkungskraft schw?chen. Umgekehrt kann das Licht die Energie der Finsternis beschr?nken. In beiden F?llen entsteht die Farbe. Eine physikalische Anschauung, die sich die Finsternis als das vollkommen Unwirksame denkt, kann von einer solchen Wechselwirkung nicht sprechen. Sie muss daher die Farben allein aus dem Lichte herleiten. Die Finsternis tritt f?r die Beobachtung ebenso als Erscheinung auf wie das Licht. Das Dunkel ist in demselben Sinne Wahrnehmungsinhalt wie die Helle. Das eine ist nur der Gegensatz des andern. Das Auge, das in die Nacht hinausblickt, vermittelt die reale Wahrnehmung der Finsternis. W?re die Finsternis das absolute Nichts, so entst?nde gar keine Wahrnehmung, wenn der Mensch in das Dunkel hinaussieht.
Das Gelb ist ein durch die Finsternis ged?mpftes Licht; das Blau eine durch das Licht abgeschw?chte Finsternis.
Das Auge ist dazu eingerichtet, dem vorstellenden Organismus die Erscheinungen der Licht- und Farbenwelt und die Bez?ge dieser Erscheinungen zu vermitteln. Es verh?lt sich dabei nicht bloss aufnehmend, sondern tritt in lebendige Wechselwirkung mit den Erscheinungen. Goethe ist bestrebt, die Art dieser Wechselwirkung zu erkennen. Er betrachtet das Auge als ein durchaus Lebendiges und will seine Lebens?usserungen durchschauen. Wie verh?lt sich das Auge zu der einzelnen Erscheinung? Wie verh?lt es sich zu den Bez?gen der Erscheinungen? Das sind Fragen, die er sich vorlegt. Licht und Finsternis, Gelb und Blau sind Gegens?tze. Wie empfindet das Auge diese Gegens?tze? Es muss in der Natur des Auges begr?ndet sein, dass es die Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen Wahrnehmungen bestehen, auch empfinde. Denn "das Auge hat sein Dasein dem Lichte zu danken. Aus gleichgiltigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte f?rs Licht, damit das innere Licht dem ?ussern entgegentrete" .
So wie Licht und Finsternis sich in der ?usseren Natur gegens?tzlich verhalten, so stehen die beiden Zust?nde einander entgegen, in die das Auge durch die beiden Erscheinungen versetzt wird. Wenn man das Auge innerhalb eines finstern Raumes offen h?lt, so wird ein gewisser Mangel empfindbar. Wird es dagegen einer stark beleuchteten weissen Fl?che zugewendet, so wird es f?r eine gewisse Zeit unf?hig, m?ssig beleuchtete Gegenst?nde zu unterscheiden. Das Sehen ins Dunkle steigert die Empf?nglichkeit; dasjenige in das Helle schw?cht sie ab.
Jeder Eindruck aufs Auge bleibt eine Zeitlang in demselben. Wer ein schwarzes Fenster-Kreuz auf einem hellen Hintergrunde ansieht, wird, wenn er die Augen schliesst, die Erscheinung noch eine Weile vor sich haben. Blickt man, w?hrend der Eindruck noch dauert auf eine hellgraue Fl?che, so erscheint das Kreuz hell, der Scheibenraum dagegen dunkel. Es findet eine Umkehrung der Erscheinung statt. Daraus folgt, dass das Auge durch den einen Eindruck disponiert wird, den entgegengesetzten aus sich selbst zu erzeugen. Wie in der Aussenwelt Licht und Finsternis in Beziehung zu einander stehen, so auch die entsprechenden Zust?nde im Auge. Goethe stellt sich vor, dass der Ort im Auge, auf den das dunkle Kreuz fiel, ausgeruht und empf?nglich f?r einen neuen Eindruck ist. Deshalb wirkt auf ihn die graue Fl?che lebhafter als auf die ?brigen Orte im Auge, die vorher das st?rkere Licht von den Fensterscheiben empfangen haben. Hell erzeugt im Auge die Hinneigung zum Dunkel; Dunkel die zum Hellen. Wenn man ein dunkles Bild vor eine hellgraue Fl?che h?lt und unverwandt, indem es weggenommen wird, auf denselben Fleck sieht, so erscheint der Raum, den das dunkle Bild eingenommen hat, um vieles heller als die ?brige Fl?che. Ein graues Bild auf dunklem Grunde erscheint heller als dasselbe Bild auf hellem. Das Auge wird durch den dunklen Grund disponiert, das Bild heller, durch den hellen es dunkler zu sehen. Goethe wird durch diese Erscheinungen auf die grosse Regsamkeit des Auges verwiesen "und den stillen Widerspruch, den jedes Lebendige zu ?ussern gedrungen ist, wenn ihm irgend ein bestimmter Zustand dargeboten wird. So setzt das Einatmen schon das Ausatmen voraus und umgekehrt. Es ist die ewige Formel des Lebens, die sich auch hier ?ussert. Wie dem Auge das Dunkle geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert Dunkel, wenn man ihm Hell entgegenbringt und zeigt eben dadurch seine Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu fassen, indem es etwas, das dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich selbst hervorbringt" .
In ?hnlicher Weise wie Licht und Finsternis rufen auch Farbenwahrnehmungen eine Gegenwirkung im Auge hervor. Man halte ein kleines St?ck gelbgef?rbten Papiers vor eine m?ssig erleuchtete weisse Tafel, und schaue unverwandt auf die kleine gelbe Fl?che. Nach einiger Zeit hebe man das Papier hinweg. Man wird die Stelle, die das Papier ausgef?llt hat, violett sehen. Das Auge wird durch den Eindruck des Gelb disponiert, das Violett aus sich selbst zu erzeugen. Ebenso wird das Blaue das Orange, das Rote das Gr?n als Gegenwirkung hervorbringen. Jede Farbenempfindung hat also im Auge einen lebendigen Bezug zu einer andern. Die Zust?nde, in die das Auge durch Wahrnehmungen versetzt wird, stehen in einem ?hnlichen Zusammenhange wie die Inhalte dieser Wahrnehmungen in der Aussenwelt.
Wenn Licht und Finsternis, Hell und Dunkel aufs Auge wirken, so tritt ihnen dieses lebendige Organ mit seinen Forderungen entgegen; wirken sie auf die Dinge draussen im Raume, so treten diese mit ihnen in Wechselwirkung. Der leere Raum hat die Eigenschaft der Durchsichtigkeit. Er wirkt auf Licht und Finsternis gar nicht. Diese scheinen durch ihn in ihrer eigenen Lebhaftigkeit durch. Anders ist es, wenn der Raum mit Dingen gef?llt ist. Diese F?llung kann eine solche sein, dass das Auge sie nicht gewahr wird, weil Licht und Finsternis in ihrer urspr?nglichen Gestalt durch sie hindurch scheinen. Dann spricht man von durchsichtigen Dingen. Scheinen Licht und Finsternis nicht ungeschw?cht durch ein Ding hindurch, so wird es als tr?b bezeichnet. Die tr?be Raumausf?llung bietet die M?glichkeit, Licht und Finsternis, Hell und Dunkel in ihrem gegenseitigen Verh?ltnis zu beobachten. Ein Helles durch ein Tr?bes gesehen erscheint gelb, ein Dunkles blau. Das Tr?be ist ein Materielles, das vom Lichte durchhellt wird. Gegen?ber einem hinter ihm befindlichen helleren, lebhafteren Licht ist das Tr?be dunkel; gegen eine durchscheinende Finsternis verh?lt es sich als Helles. Es wirken also, wenn ein Tr?bes sich dem Licht oder der Finsternis entgegenstellt, wirklich ein vorhandenes Helles und ein ebensolches Dunkles ineinander.
Nimmt die Tr?be, durch welche das Licht scheint, allm?hlich zu, so geht das Gelb in Gelbrot und dann in Rubinrot ?ber. Vermindert sich die Tr?be, durch die das Dunkel dringt, so geht das Blau in Indigo und zuletzt in Violett ?ber. Gelb und Blau sind Grundfarben. Sie entstehen durch Zusammenwirken des Hellen oder Dunklen mit der Tr?be. Beide k?nnen einen r?tlichen Ton annehmen, jenes durch Vermehrung, dieses durch Verminderung der Tr?be. Das Rot ist somit keine Grundfarbe. Es erscheint als Farbenton an dem Gelben oder Blauen. Gelb mit seinen r?tlichen Nuancen, die sich bis zum reinen Rot steigern, steht dem Licht nahe, Blau mit seinen Abt?nungen ist der Finsternis verwandt. Wenn sich Blau und Gelb vermischen entsteht Gr?n; mischt sich das bis zum Violetten gesteigerte Blau mit dem zum Roten verfinsterten Gelb, so entsteht die Purpurfarbe.
Diese Grunderscheinungen verfolgt Goethe innerhalb der Natur. Die helle Sonnenscheibe durch einen Flor von tr?ben D?nsten gesehen, erscheint gelb. Der dunkle Weltraum durch die vom Tageslicht erleuchteten D?nste der Atmosph?re angeschaut, stellt sich als das Blau des Himmels dar. "Ebenso erscheinen uns auch die Berge blau: denn indem wir sie in einer solchen Ferne erblicken, dass wir die Lokalfarben nicht mehr sehen, und kein Licht von ihrer Oberfl?che mehr auf unser Auge wirkt, so gelten sie als ein reiner finsterer Gegenstand, der nun durch die dazwischen tretenden D?nste blau erscheint" .
Aus der Vertiefung in die Kunstwerke der Maler ist Goethe das Bed?rfnis erwachsen, in die Gesetze einzudringen, denen die Erscheinungen des Gesichtssinnes unterworfen sind. Jedes Gem?lde gab ihm R?tsel auf. Wie verh?lt sich das Hell-Dunkel zu den Farben? In welchen Beziehungen stehen die einzelnen Farben zu einander? Warum bewirkt Gelb eine heitere, Blau eine ernste Stimmung? Aus der Newtonschen Farbenlehre war kein Gesichtspunkt zu gewinnen, von dem aus diese Geheimnisse zu l?ften gewesen w?ren. Sie leitet alle Farben aus dem Lichte ab, stellt sie stufenweise nebeneinander und sagt nichts ?ber ihre Beziehungen zum Dunklen und auch nichts ?ber ihre lebendigen Bez?ge zu einander. Aus den auf eigenem Wege gewonnenen Einsichten konnte Goethe die R?tsel l?sen, die ihm die Kunst aufgegeben hatte. Das Gelb muss eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft besitzen, denn es ist die n?chste Farbe am Licht. Es entsteht durch die gelindeste M?ssigung desselben. Das Blau weist auf das Dunkle hin, das in ihm wirkt. Deshalb gibt es ein Gef?hl von K?lte, so wie "es auch an Schatten erinnert". Das r?tliche Gelb entsteht durch Steigerung des Gelben nach der Seite des Dunklen. Durch diese Steigerung w?chst seine Energie. Das Heitere, Muntere geht in das Wonnige ?ber. Sobald die Steigerung noch weitergeht, vom Rotgelben ins Gelbrote, verwandelt sich das heitere, wonnige Gef?hl in den Eindruck des Gewaltsamen. Das Violett ist das zum Hellen strebende Blau. Die Ruhe und K?lte des Blauen wird dadurch zur Unruhe. Eine weitere Zunahme erf?hrt diese Unruhe im Blauroten. Das reine Rot steht in der Mitte zwischen Gelbrot und Blaurot. Das St?rmische des Gelben erscheint gemildert; die l?ssige Ruhe des Blauen belebt sich. Das Rote macht den Eindruck der idealen Befriedigung, der Ausgleichung der Gegens?tze. Ein Gef?hl der Befriedigung entsteht auch durch das Gr?n, das eine Mischung von Gelb und Blau ist. Weil aber hier das Heitere des Gelben nicht gesteigert, die Ruhe des Blauen nicht gest?rt durch den r?tlichen Ton ist, so wird die Befriedigung eine reinere sein als die, welche das Rot hervorbringt.
Add to tbrJar First Page Next Page Prev Page