Read Ebook: Schen: Studien aus einer chinesischen Weltstadt by Secker Fritz
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Ebook has 234 lines and 45131 words, and 5 pages
Gestossen und geschoben kommen wir allm?hlich in dem Gew?hl vorw?rts. Der Weg vom deutschen Postamt bis zur Stelle, wo der Szemalu von der Kiang-nan Road gekreuzt wird, kann man noch ziemlich ungest?rt gehen. Was jenen Teil der Strasse auszeichnet, sind die chinesischen Drogerien und die Ateliers der Zahnk?nstler. Beide erfreuen sich, trotz der Abendstunden, eines lebhaften Zuspruchs; denn in ihnen liegt die Quelle des innern und ?ussern Wohlergehens f?r den Chinesen. Innerlich, weil in den Drogerien westl?ndische und japanische Allerweltsheilmittel verkauft werden, die angeblich ebenso sicher bei nerv?sem Asthma wie bei schmerzenden H?hneraugen wirken, wodurch also die Erf?llung des Lebenswunsches eines jeden Chinesen nach ,,schou" gew?hrleistet wird; ?usserlich, weil in den Zahnateliers gleissend goldene Z?hne verfertigt werden, die, den zernagten angeschmolzen, eine prahlerische Zahnreihe schaffen, die das stets ge?bte L?cheln vergolden, wodurch vor Allem zum Ausdruck kommen soll, dass der Besitzer zur Schau getragener Goldz?hne wirtschaftlich in der Lage ist, sich ein solches Vergn?gen zu leisten. Das hat den Vorteil, dass der Kredit gest?rkt wird, und mancher Gl?ubiger, auch die des weiblichen Geschlechts, die von den verf?hrerischen Zahnreihen bezaubert wurden, raufen sich oft die Haare, weil sie so dumm waren und um eines vergoldeten Zahns willen so weitherzig Kredit gegeben hatten. In der Foochow Road dem Vergn?gen nachzugehen, ist f?r den mit den Verh?ltnissen nicht vertrauten chinesischen Lebemann nicht immer leicht. Wer aus den tiefsten Quellen geniessen will, dem muss ein kreditf?higer Name, der durch die Einf?hrung eines bekannten Freundes erworben werden kann, vorausgehen. Der Provinzler, der ohne die n?tige Einf?hrung durch die Foochow Road bummelt, sch?pft nur von der Oberfl?che. Man findet ihn deshalb fast nur in den Teeh?usern mit und ohne Gesang, die auch f?r den Einheimischen billige St?tten der Unterhaltung und des Vergn?gens sind. In dem Teehaus ohne Musik trinkt man Tee, knappert Melonenkerne und versucht, m?glichst einen Platz auf den langen, nach der Strasse liegenden Veranden zu ergattern, wo man in das bunte Strassengew?hl blicken kann. Die m?nnliche jeunesse dor?e sch?tzt diese Art Teeh?user nicht besonders, weil ihre Gegenwart nicht von sangesfrohen Damen versch?nt wird. Daf?r gibt es aber St?tten, wo ebenso wie aus der Teekanne das heisse Getr?nk, M?dchengesang ohne Unterlass aus den Kehlen quillt. Betritt ein Gast den zu dem ersten Stockwerk des Teehauses f?hrenden Treppenaufgang, so st?sst ein Bedienster einen kurzen Zuruf aus, der oben, aus mehreren Kehlen klingend, seinen Widerhall findet. F?r die Aufw?rter ist der Zuruf ein Zeichen, dass sich ein Gast naht. Ist man inzwischen die Treppe emporgeklommen, so wird man von der Aufw?rterschar empfangen, die sich bem?ht, jeder f?r seine Abteilung, den Gast unterzubringen; zugleich wird aber durch den Zuruf die Aufmerksamkeit der anwesenden G?ste nach dem Treppenfirst gelenkt, die in infolgedessen Gelegenheit haben, den Ank?mmling zu mustern und, wenn es ein Freund ist, ihn zu begr?ssen. Es ist eine ger?umige Halle, die wir betreten. Die vier W?nde sind v?llig mit Wandrollen, die sinnige Inschriften tragen, geschm?ckt. Geschenke, die dem Unternehmer vor einigen Jahren oder Jahrzehnten aus Anlass der Gesch?ftser?ffnung von Freunden ?berreicht wurden. An einer Reihe viereckiger, braun gebeizter Tische, deren Fl?chen mit Marmorplatten eingelegt sind, sitzen die G?ste; andere machen es sich auf den an bessere Opiumh?hlen erinnernden B?nken, auf denen sie mit angezogenen Beinen ruhen, bequem. An der hintern Wand befindet sich die B?hne mit rot und gold bemaltem, verschn?rkelten Schnitzwerk. Auf der B?hne steht ein langer Tisch, um den f?nf S?ngerinnen sitzen. Sie l?sen sich gegenseitig im Singen ab. Eine klassische Melodie steht auf dem Programm; ein Gesang aus dem Theaterst?ck ,,Yang-gia-dsiang", das das Schicksal eines hohen verdienten Staatsbeamten aus der Sungzeit schildert, dem ein Aufstand Macht und Ansehen raubte und der, verlassen von Allen, den Hungertod stirbt. Die Seelenk?mpfe des qualvoll Endenden behandelte ein Lied, an das sich der Klagegesang eines Trauernden schloss. F?r Begleitmusik sorgte die Hauskapelle, die aus Trommel, Zimbel, Fiedel und Fl?te bestand. Derweilen der ged?mpfte Sterbegesang der Kehle einer S?ngerin entquoll, lag ein kremefarbig gekleideter, langbeiniger Flegel auf der Bank, guckte mit dem Kopf nach der Decke, und spuckte die nicht essbaren Ueberreste von Melonenkernen in weitem Bogen durch die Luft. Die S?ngerinnen wechselten h?ufig. Sie waren nicht prunkvoll gekleidet, sondern trugen schlichte Leinenkleider. Ihre t?gliche Einnahme ist ?usserst gering; f?r ein Lied erhalten sie etwa zwanzig Zent Singhonorar. Jeden Abend treten sie nach einander in vier bis f?nf Teeh?usern auf; das macht im Monat kaum dreissig Dollar. Es ist klar, dass die M?dchen auf Nebenverdienst angewiesen sind; noch klarer ist, dass dieser nicht in Stricken und H?keln besteht.
Besser ist es um die Klasse der S?ngerinnen bestellt, von denen wir eine Vertreterin auf Bestellung h?ren sollten. So glatt auch Alles am Nachmittag schon eingeleitet war: als die Ausf?hrung kommen sollte, stiessen wir auf Schwierigkeiten. Wir besuchten eine Reihe der ersten Restaurants, um ein kleines Zimmer zu erhalten; aber sie waren besetzt. Es blieb nichts weiter ?brig, als ein zweitklassiges Restaurant zu w?hlen. Arglos f?llten wir einen Zettel aus, der den Namen des Restaurants trug, und baten unsere S?ngerin, die zu den besten und bekanntesten Schanghais z?hlt, uns mit dem bestellten Gesang zu erfreuen. Dem Ruf wich aber unsere Freundin vorl?ufig aus und schickte zur n?hern Auskundschaftung ihre Dienerin, die sich scheinbar etwas best?rzt in unserm spiessb?rgerlich mittelstandsm?ssig eingerichteten Speisezimmer umsah, einige entschuldigende Worte sprach und verschwand. Unterdessen wurde ein kleiner Imbiss aufgetragen; es gab Huhn in Scheiben mit w?rziger Tunke, geschmorte Krabben und kleine, in brauner Tunke schwimmende Fische; 1898er Wein aus Schauhsing w?rzte den Imbiss. Es schmeckte, aber der verdauende Gesang fehlte immer noch. Eine zweite Dienerin kam, sprach und ging. Wir wurden ungeduldig. Gerade als ein zweiter Zettel abgeschickt werden sollte, erschien unsere Freundin, liess sich, wie ?blich auf der Seite des Gastgebers nieder und sang. Aber leider nicht die von uns gew?nschte Parodie, sondern das Original, das ber?hmte Lied von den ,,F?nf Nachtwachen", das kurz nach der Revolution mit zu den volkst?mlichsten Schlagern geh?rt. Es ist in der Begeisterung entstanden, die damals in gewissen Kreisen herrschte, als es hiess, ein ,,n?rdliches Expeditionskorps" der Revolution?re r?ste sich zum Vormarsch gegen Peking, und es ist den Eroberern zum Geleit gedichtet und in Marschmusik gesetzt worden. Das Lied ist von dem in chinesischen Kreisen r?hmlichst bekannten Liederdichter Lin Butsing verfasst worden und zuerst in der Liedersammlung ,,Hsiaoyehhun" erschienen. Die nicht in Reim und Rhythmus gezw?ngte Uebersetzung des Liedes, wie es uns die S?ngerin am jenem Abend vortrug, lautet:
Der erste Schlag ert?nt. Der Mond geht auf. Beeilt euch, Soldat zu werden. Ajo, ajo! Wir f?rchten nicht den Tod, denn wir sind voller Mut. Wir setzen unsere Kraft ein und werden ?berwinden. Je eher wir schlagen, Desto fr?her wird uns der Sieg. Auf, nach Peking heisst die Losung. Ajo, ajo! Der zweite Schlag ert?nt. Der Mond steht hoch. Haltet Stand. Ajo, ajo! Wir m?ssen ein Verdienst erwerben Und einmal alle Kraft einsetzen, Wir, ein liebend Br?dervolk. Die Erf?llung naht. Schart Euch um eure F?hrer. Ajo, ajo! Der dritte Schlag ert?nt. Der Mond steht in der Mitte. Schliesst die Reihen. Ajo, ajo! Wir ziehn bestimmt nach Norden. Der Name Li-Y?an-hung sei unser Leitstern. Nehmt alle Kraft zusammen. Ajo, ajo! Der vierte Schlag ert?nt. Der Mond neigt sich westw?rts. Freut euch und seid nicht traurig. Ajo, ajo! Lasst die Banner der Ko-ming wallen. Wenn auch das Blut auf dem Schlachtfeld dampft, seid fr?hlich. Und dann atmet auf und ziehet siegreich heimw?rts. Ajo, ajo! Der f?nfte Schlag ert?nt. Der Mond geht unter. Das krafterf?llte Volksheer Ajo, ajo! ernennt einen starken Pr?sidenten, der furchtlos und treu die alte Ordnung vernichtet. Sein Name wird ewig genannt. Ajo, ajo!
Es ist eine Melodie, die jedes ausl?ndische Ohr erfreuen w?rde; es haftet ihr aber in Takt und Rhythmus etwas Unchinesisches an, doch ist es wohl gerade die Eigenart, die dem Ausl?nder gef?llt. Wenn man den Text einigermassen beherrscht und die Melodie dazu singen h?rt, kann man sich sogar f?r das Lied begeistern; so lebendig und rhythmisch ist der Gesang, dass man den Marschschritt der Soldaten zu vernehmen glaubt und sich mitten in dem Kampf w?hnt. Unsere Freundin, die ein d?nngewebtes, gazeeartiges Kleid trug und aus deren Haar eine stark duftende Jasminbl?te einen erfrischenden Duft verbreitete, blieb nach dem Gesang noch eine Weile plaudernd bei uns. Und dann kl?rte sich auch auf, weshalb sie zu kommen gez?gert hatte. Einfach deshalb, weil zwischen ihrem Ruf als erstklassiger S?ngerin und dem zweitklassigen Restaurant, das wir, der Not gehorchend, w?hlen mussten, eine schier un?berbr?ckbare Kluft bestehe. Wir mussten ihr Recht geben. Unser Verh?ltnis wurde aber dadurch nicht getr?bt. Sie lud uns freundlich ein, sie in einer Stunde in ihrer Wohnung zu besuchen. Der kleine Zwischenfall gab zu denken, und er hat bewiesen, dass man chinesisches Wesen nicht immer aus chinesischen Verh?ltnissen heraus erkl?ren muss, sondern dass auch in Einzelf?llen westl?ndisches Taktgef?hl als Massstab ge?bt werden kann. Denn wer w?rde es wagen, eine grosse K?nstlerin zum ,,Strammen Hund" in Berlin zu bitten, die Unnahbare, die nur auf Dressel und h?her abgestimmt ist?
Bis zum Besuch der S?ngerin hatten wir noch eine gute Stunde, die mit dem Besuch des in dem westlichen Teil der Fuchou Road gelegenen Theater Tanguidi itai ausgef?llt wurde. Seine innere Einrichtung ist v?llig europ?isch. Ein reicher elektrischer Lichtglanz bestrahlt die vielhundertk?pfige Zuschauermenge, die, gleichfarbig gekleidet, gar w?rdevoll und peinlich sauber ausschaut. Es wird ein leichter Schwank: ,,Der geheilte Spieler" gegeben; der Dialog ist ?beraus gewandt und witzig, und er h?lt die Zuschauer fortw?hrend in Spannung. Der Held und seine Frau, die sich bald z?rtlich ansch?kern, bald erregte Auftritte haben, sprechen Schanghaier Dialekt, w?hrend der Schwiegervater und die Schwiegermutter in sch?nem Norddialekt dazwischen poltern. Der Schwiegervater ist eine k?stliche Figur, die jetzt noch dem wirklichen Leben entnommen werden kann, in einigen Jahrzehnten vielleicht der Vergangenheit angeh?rt und sich in Theaterst?cken und Romanen nur noch k?nstlich als beh?biger Biedermeier erh?lt. Der Westl?nder, der dem Schwank zu folgen vermag, wird anregend unterhalten, und er verl?sst das Theater fast mit demselben Genuss wie eine europ?ische Auff?hrung.
Nun noch rasch einen Blick in das japanische Panoptikum; an den W?nden stehen K?sten mit Drehkurbeln. F?r einen Zent sieht darin der Chinese anschauliche, bewegliche Bilder, wie sie in der Wirklichkeit zu schauen auch dem reichsten Chinesen verschlossen bleiben. Jeder Kasten tr?gt eine chinesische Aufschrift, die kitzelnd andeutet, was darin zu sehen ist. Aufschriften wie: ,,Amerikanerinnen Zigaretten rauchend", ,,Amerikanerinnen im Bade", ,,Amerikanerinnen beim Schlafengehen" bed?rfen keines weitern Kommentars. Im Interesse des Ansehens der Westl?nder ist eine solche Schaustellung h?chlich bedauernswert, und die Foochow Road w?rde wirklich keiner Eigent?mlichkeit beraubt werden, wenn von massgebender Seite eine Schliessung dieses Lokals erfolgen w?rde.
Zur festgesetzten Stunde sassen wir unserer Freundin in ihrer H?uslichkeit gegen?ber. Die erste Scheu, einen ,,Nakoning" zu bewirten, war bald ?berwunden, nachdem einige erheiternde Scherzworte gefallen waren. Das Zimmer war hoch und sehr ger?umig. An dem hintern Ende stand eine aus schwerem Ningpoholz geschnitzte Lagerst?tte; an der Wand die ?blichen kleinen Empfangstische und nach S?den eine bequeme mit rotem Polster ausgelegte Ruhebank. Die nur zwei Sekunden glimmende Wasserpfeife, die mit einem Fidibus, der durch geschicktes Anblasen in Brand ger?t, angez?ndet wurde, machte die Runde. Doch: Sieh da, Timotheus! Zwei St?ckchen deutsche Heimat h?ngen dort an der Wand: billige Drucke mit der Unterschrift: ,,Winter am Main" und ,,Windm?hlen in Schleswig", wodurch das Gespr?ch neue Ank?pfungspunkte erhielt. Aus der weitern Unterhaltung erkl?rte sich auch, weshalb unsere Freundin nicht die ,,Neuen f?nf Nachtwachen" sang. Um das Weitere zu verstehen, muss der Leser zun?chst mit der Tendenz der Parodie vertraut gemacht werden, die einen Mitarbeiter der ,,Schenpao" zum Verfasser hat. Die ersten zwei Strophen lauten:
,,Der erste Schlag ert?nt. Der Mond geht auf. Eine merkw?rdige Geschichte hat sich ereignet. Ajo, ajo! Der Ministerpr?sident ist weggelaufen samt Familie nach Tientsin. Das hatte seinen Grund, Y?an-Shih-kai sitzt in der Patsche, Weil er der Stimme eines Schauspielers glaubte. Der zweite Schlag ert?nt. Der Mond steigt h?her. Die Parteien pl?rren sich an. Ajo ajo! Telegramme h?hnten Tang. Der Blumen- und Wein-Tutu wollte eine Erkl?rung; die Antwort blieb aus. Darob war er erbittert, Und er pfiff auf den Posten eines Handelsministers. Das war sehr dumm."
Neben den Ausf?llen gegen Tang Shau i und den ,,Blumen- und Wein-Tutu" enthalten die drei letzten Strophen scharfe Angriffe gegen die kantonesische Partei Tungmenghui, ferner wird ?ber die belgische Anleihe, ?ber die keine Abrechnung vorliege, gespottet, und der neue Ministerpr?sident Lu Tscheng-hsiang wird ger?hmt, dass er sich auf die ausw?rtige Politik wohl verstehe. Also: ,,Ein garstig Lied. Pfui! Ein politisch Lied." Wenn sich eine namhafte S?ngerin wie unsere Freundin nicht in ihrem Erwerb sch?digen will, so darf sie ein solches Lied, das ein Kampfmittel der gem?ssigten Republikaner gegen die kantonesische Partei darstellt, nicht in ihr Repertoir aufnehmen; denn Shanghai ist noch eine starke Hochburg der Kantonesen. Aber trotzdem wird der Sang von M?dchen schon verschwiegen gepflegt. Man kann sich leicht ausmalen, wie es manchem eingefleischten gegnerischen Parteig?nger gleich Balsam ?ber die Seele tropft, wenn aus einem kleinen, ein wenig karmesinrot betupften M?ndchen die Moritaten Tang Shau yis und seiner Parteigenossen ert?nen. Unsere Freundin bleibt aber neutral; sie kennt den Text und schweigt. Man sieht, dass die neue Politik, die in Peking gemacht wird, ihren Einfluss sogar auf die Welt der S?ngerinnen aus?bt.
Bei der anregenden Unterhaltung ist es inzwischen Mitternacht geworden; es ist Zeit zum Aufbruch. Durch zahllose Winkelwege f?hrt der Weg auf die Foochow Road. Dort herrscht noch immer brausendes Leben. Die Theatereing?nge speien ununterbrochen hellfarbige Menschenketten aus, unz?hlige Wagen und Rickschas dr?ngen sich dazwischen, stauen sich und fahren mit G?sten davon. Allm?hlich kommt Ordnung in den Menschenschwarm, der sich in die Seitengasssen und in den zahlreichen Restaurants verteilt, wo vor dem Schlafengehen noch rasch ein kleiner Imbiss genommen, politisiert und geschwelgt wird. Aus kleinen winkligen G?sschen t?nt hie und da noch ein sp?ter Gesang mit Fiedelbegleitung; er wird aus holdem Mund den Lebem?nnern gesungen, die ohne ihn keine erquickliche Nachtruhe finden k?nnen.
Die Revolution in der Nanking Road.
Eine blutr?nstige Ueberschrift, nicht wahr, meine Gn?dige? Wenn man in China nur das Wort Revolution h?rt, verkn?pft man gleich etwas Schreckliches damit. Henkersschwert, lose sitzende K?pfe, Bomben und abgerissene Gliedmassen. Man denkt dabei auch an F?rsten, die ihre verbrieften Herrscherrechte scheinbar aus den H?nden gegeben haben, weil das Volk, zornig mit dem Fuss stampfend, darauf bestand; man denkt an M?nner, die sich bei dem Streben nach Neuerungen von wahrem Patriotismus leiten lassen, aber auch an Schreier, Schw?tzer und unreife Politiker. Nichts von alle Dem will ich Ihnen erz?hlen. Denn Sie wissen, dass eine Revolution nicht immer politisch grausam zu sein braucht, sie kann auch wirtschaftlich friedlich sein. Und dar?ber m?chte ich mit Ihnen plaudern, wenn Sie im Geiste Ihren Arm in den meinen legen wollen, damit ich Sie ohne F?hrnisse vom Bund bis zum Rennplatz f?hren kann.
Wenn Sie an jenem grossen westl?ndischen Kaufhaus an der Ecke der Szechuan Road stehen bleiben, so sind Ihnen schon gelegentlich im Schaufenster in protzig chinesischer Schrift geschriebene Ank?ndigungen aufgefallen. Sie haben sicher schon dar?ber ihren Kopf gesch?ttelt, haben Ihre Augen best?rzt ?ber die krausen Schriftzeichen wandern lassen und vergeblich nach dem Preis gesucht, ohne aber auf den Gedanken zu kommen, etwas zu kaufen; die G?te des Ausgestellten und die chinesische Anpreisung sagten Ihnen, dass die Waren nicht f?r Westl?nder bestimmt sind. Hier haben Sie es schon: Revolution. Vor ein paar Monaten h?tte kaum ein westl?ndisches Gesch?ft daran gedacht, auf diese Weise chinesische Kundschaft heranzuziehen. Wie sollte es auch, wo das chinesische Gewerbe und die Industrie leistungsf?hig genug waren, die Bed?rfnisse der chinesischen Massen zu befriedigen. Wie viel Chinesen dachten vor ein paar Monaten an Schuhe, Hemden, Str?mpfe und dergleichen Erzeugnisse westl?ndischer Art? Heute ist es anders geworden. Bleiben Sie bitte noch ein Weilchen vor dem Schaufenster stehen und schauen Sie ab und zu nach dem Eingang. Jetzt h?lt ein Ponygespann an. Ihm entsteigen drei vornehme Chinesinnen. Sie betreten das Kaufhaus. Eine Schiebet?r hinter dem Schaufenster ?ffnet sich, Sie sehen die drei Damen nach Gegenst?nden deuten. Die zierliche flinke Verk?uferin vermag kaum noch Alles auf ihren Armen zu halten; das kleine K?pfchen verschwindet fast hinter dem Stapel Baumwollwaren. Gerade als der Pony unruhig zu stampfen anf?ngt, kommen die drei Vornehmen, mit Paketen beladen, aus der Eingangst?r, und die Fahrt geht weiter. Sie aber sehen mich entr?stet an. Ihre Augen scheinen zu sprechen: ,,Wie kann man nur..." Ich weiss genau, was Sie sagen wollen: Wie so vornehme Frauen so billige Ware kaufen k?nnen. Die verw?hnte Westl?nderin verlangt nat?rlich die feinsten Stoffe, weisses Linnen oder knisternde Seide. Alles Andere h?lt sie f?r ,,shocking". Was Sie so entr?stet, ist jetzt aber bei der vornehmen Frauenwelt Chinas Mode. Und die Mode ist eine eigensinnige Dame.
Jetzt kreuzen wir die Strasse und betreten die deutsche Buchhandlung. W?hrend wir die neu eingetroffenen B?cher ansehen, kommen einige Chinesen und zuletzt eine Chinesin in den Laden. Ich weiss bestimmt, wenn Sie Verk?uferin w?ren, dass Sie in Ihrem Schanghaier Kosmopolitismus gefragt h?tten: ,,Woat ting wantschie?" Aber lauschen Sie nur. ,,N' Tag, m?chte mir 'mal Ihre B?cher ansehen." Ein junger Chinese spricht es in fliessendem Deutsch und begibt sich auf die Wanderung durch die Menge der ausgelegten B?cher. Ein anderer tritt ein und spricht, den Oberk?rper steif biegend, kurz und abgehackt milit?risch deutsch: ,,Famoses Buch, die Kriegsgeschichte von General M?ller. Ist mir leider w?hrend der Revolution abhanden gekommen. M?chte nachbestellen. Sein Sohn stand ?brigens mit mir in Halberstadt in Garnison." Und er kauft sich die neuen deutschen Dienstvorschriften, einen Kriegsroman und einen Neuruppiner Bilderbogen von der preussischen Garde f?r seinen Jungen. Und von den anderen Chinesen nimmt der Eine ein technisches Fachw?rterbuch, der Andere die Verfassung des Deutschen Reiches, und wieder ein Andrer interessiert sich f?r Berg- und H?ttenwesen. So geht es Tag f?r Tag. Sprechen solche Augenblicksbilder in dem deutschen Buchladen nicht ganze B?nde? Sieht man nicht daraus, wie sich merklich das Interesse f?r deutsches Wesen unter den Chinesen zu regen beginnt. Ist es nicht ein St?ckchen geistige Revolution? Doch beinahe h?tten wir die junge Chinesin vergessen. Sie steht ein wenig sch?chtern abseits und endlich verlangt sie -- Hand aufs Herz -- das bekannte Buch vom ,,imponierenden Auftreten" und ein Werk ?ber moderne Frauenfragen.
Nun m?ssen wir wieder in das Strassengew?hl. Es st?rmt so viel Neues, Revolution?res auf die Augen ein, dass man kaum weiss, was man zu zuerst als besonders bezeichnend herausgreifen soll. Vor uns geht ein Chinese in eigenartiger Tracht. Wenn Sie illustrierte chinesische Romane aus dem f?nfzehnten Jahrhundert durchbl?ttern, finden Sie das Vorbild. Das Volk bezeichnet sie als Mingtracht. Es ist ein langes, quer ?ber die Brust zusammengeschlagenes Gewand, dessen Kragen mit Samt eingefasst ist. Wahrscheinlich haben wir es in diesem Falle mit der neuen Nationaltracht zu tun, f?r die die chinesische Presse in letzter Zeit Stimmung gemacht hat. Als ob die bisherige Kleidung nicht praktisch w?re! Ja, praktisch ist sie, aber Manchem zu politisch. Denn man muss wissen, dass der letzte Modewechsel nach dem Sturz der Mingdynastie stattgefunden hat. Die neuen mandschurischen Herren sorgten f?r eine neue Mode, um das Andenken an die Ming zu verwischen. Und das Gleiche streben heute die Kleiderreformer an, die von der jetzigen Volkstracht Alles verbannen wollen, was an die Mandschus erinnert. Dann wollen sie aber auch dem Tragen westl?ndischer Kleider entgegenwirken, in denen sich junge Stutzer so gern gefallen. Wenn man als durchschnittlich beh?big gekleideter Mitteleurop?er heute einem jener modisch gekleideten Stutzer begegnet, so kommt man sich recht klein vor. Und erst die Augen, die so herablassend auf den europ?ischen Kuli blicken! Ja, die Zeiten beginnen sich zu ?ndern. Das sieht man auch an dem Paar, das vor uns geht. Die Beiden sind entweder verlobt oder jung verheiratet. Sie gehen Arm in Arm. O, heiliger Konfuzius! Nein, wirklich nicht deshalb, weil sie Arm in Arm gehen, ich glaubte zwar, das sei etwas ganz Neues.... Aber sehen Sie, die junge Chinesin tr?gt ja ein -- ,,Korsett" erg?nzen Sie seelenruhig, als ob es das gleichg?ltigste Ding der Welt sei. Keine T?uschung; die Chinesin tr?gt ein Korsett. Man sieht ganz deutlich, wie stark die H?ften geschn?rt sind, wie mit Gewalt nach ber?hmten westl?ndischen Vorbildern eine neue Linie geschaffen werden soll. Wohin man blickt, Revolution. Noch eine Sch?pfung der neuen Zeit dr?ngt sich in der Nanking Road zur Schau. So farbenschreiend auffallend ist ihr Aeusseres, dass die Augen mit Gewalt angezogen werden. Es sind die neuen Barbierl?den. Um die von Grund auf verfolgte Wandlung, die das Barbiergewerbe durchgemacht hat, darzustellen, muss ich Ihnen zum Massstab erst einen der alten Barbierl?den vorzeichnen. Er war so sehr unter der Flucht von anderen L?dchen versteckt, dass nur der Kundige das anpreisende Firmenschild ,,Tscheng-jung" unter den vielen anderen herausfand. Der Glasverschlag, der die Barbierstube von dem L?rm der Strasse trennte, war schmutzig und mit Staub ?berzogen und wenn man durch die T?r blickte, so sah man einige mit heissem Wasser gef?llte Sch?sseln auf Holzgestellen, wor?ber der sich in die Obhut des Barbiers Begebende seinen borstigen Vordersch?del beugte und ihn mit heissem Wasser einreiben liess. Der Barbiergehilfe setzte dann das viereckige, an einem schwarzen Holzstengelchen befestigte Messer auf die Kopfhaut und entfernte den Borstenwald. Dann wurde die verschlungene Str?hne des Zopfes ge?ffnet, das Haar mit einem starken Kamm durchgek?mmt und neu geflochten. Einschliesslich R?ckenmassage zahlte der Kunde sechs Kupferlinge. Diese Barbierl?den wurden fast ausschliesslich von den m?nnlichen Angeh?rigen der unteren und mittleren Volksklassen besucht; der Vornehme hielt sich seinen eigenen Barbier oder liess ihn t?glich ins Haus kommen. Dieser Zustand hat sich durch das Entstehen der modernen Barbierl?den ge?ndert. Der Uebergang vollzog sich aber nicht von heute auf morgen. In den ersten Wochen nach dem Ausbrechen des Aufstands lief noch Alles zu den alten L?den, deren Inhaber sich flugs Haarschneidemaschinen anschafften, um f?r das Wachsen des pl?tzlich vom Zopf entbl?ssten Haares einen festen Grund zu legen. Derweilen wurden auf die alte Art die sprossenden Gesichtshaare entfernt. Allm?hlich gingen die Barbiere zur Benutzung von europ?ischem Barbierwerkzeug ?ber. Den W?nschen des ,,feinen Publikums" gerecht werdend, wurde die innere Ausstattung des Barbierladens nicht vernachl?ssigt. Heute gibt es L?den in der Nanking Road, die in Bezug auf Ausstattung, von dem bequemen, einstellbaren Lehnsessel bis zu dem mit einem blendend weissen Ueberwurf bekleideten Geh?lfen, den Vergleich mit manchem westl?ndischen Barbiergesch?ft aushalten. Das schreiende Aeussere der fr?her die Zur?ckhaltung bewahrenden Barbierl?den liegt in dem den japanischen Einfluss verratenden Anbringen von farbig bemalten Stangen und in den hocht?nenden Anpreisungen der neuen Haarschneide- und Rasiermethoden; ja ein Barbier in der Nanking Road ging so weit, ein Schild mit westl?ndischen K?pfen malen zu lassen, worauf er in Schriftzeichen andeutet, dass in seinem Gesch?ft die deutsche, englische, amerikanische und franz?sische Haar- und Barttracht gepflegt w?rde. In den modernen Barbierl?den findet die neue Zeit ihre st?rkste Auspr?gung.
Von der friedlichen Revolution sind auch die chinesischen Kaufh?user nicht verschont geblieben, die sich wie hungrige Maultiere an die Krippe zu beiden Seiten der allm?hlich breiter werdenden Nanking Road dr?ngen. Der Typ des alten, gem?tlichen Ladens wird von der neuen Zeit allm?hlich verdr?ngt. Ja, gem?tlich war es darin, f?r die Kunden sowohl wie f?r die Angestellten. Die Ladenfront war nach der Strasse hin offen; und w?hrend der Verk?ufer, die W?nsche des Kunden erf?llend, die Waren zusammensuchte, konnte der Kunde an einem Tisch Platz nehmen, seinen Tee schl?rfen und plaudern, wozu immer einer der Angestellten ein angenehmer Gesellschafter war. Es spielte sich Alles in einem ruhigen, von gegenseitiger Ehrerbietung getragenen Rahmen ab. Heute gibt es zwar noch L?den in der Nanking Road, die ein Ueberbleibsel der gem?tlichen, vorrevolution?ren Zeit sind; aber in den meisten Gesch?ften hat eine amerikanische Hast ihren Einzug gehalten; ?bereifrige H?flichkeit und ver?chtliche Abfertigung werden aus einem Mund den Kunden gegen?ber gepflogen. In den L?den alten Typs ist jeder Kunde den Verk?ufern gegen?ber nach Rang und Stand gleich. Betritt aber heute ein ?rmlich gekleidetes Bauernweib eines der grossen Kaufh?user und folgt ihm eine im Automobil angekommene, in Seide strotzende und mit Armspangen und Similibrillanten geschm?ckte Sch?ne, so wird Letztere mit unterw?rfigen B?cklingen behandelt, w?hrend das Bauernweib so ganz von oben herab nach seinen W?nschen gefragt wird. Aeusserlich heben sich die Kaufh?user neuen Stils von den alten sehr ab. Die Schaufenster, in denen, soweit es solche ?berhaupt gab, fr?her die Waren wahl- und ziellos durcheinanderlagen, sind f?r die Augen geschmackvoll hergerichtet; man merkt, wie genau die Aussteller vor den westlichen L?den Studien gemacht haben. Viele Artikel, die vor wenigen Monaten einzelne Ladenh?ter waren, sind nun in den Vordergrund der Nachfrage ger?ckt, so Strohh?te, Taschent?cher, sogar solche mit Sun Ya tsen in Schwarzdruck, westl?ndische Anz?ge, Schuhe und dergleichen. Und am Abend schwimmen die Fenster in elektrischem Licht, sodass das bekannte Schild: ,,Tschen bu erl gia" merklich ?berstrahlt wird. Was sich dem Westl?nder so unangenehm aufdr?ngt ist die Prunksucht der Ladeninhaber. Man merkt, wie mit Gewalt alle Mittel des ?ussern Scheins angewandt werden, um die K?ufer anzulocken. Von den mit englischen Aufschriften versehenen Firmenschilder anfangend bis zu dem in verschwenderischer Pracht ge?bten elektrischen Farbenspiel sind das Alles Zeichen f?r die Vorliebe ?usserer Gefallsucht, wenn nicht Zeichen eines erbitterten Wettbewerbs, der in der l?rmdurchtobten Nanking Road ausgefochten wird und den der Aussenstehende nur ahnen kann. F?r die Spezialgesch?fte scheint eine bedenkliche Krisis gekommen zu sein. In den chinesischen St?dten steht zwar heute das Spezialgesch?ft, das in der Regel die Verkaufstelle der in dem damit verbundenen Betrieb hergestellen Ware ist, noch in hoher Bl?te. Von der Nanking Road wird es aber verdr?ngt, wenn es sich nicht den neuen Verh?ltnissen anpasst. Denn schon sind Kaufh?user entstanden, die alle Bedarfsartikel des t?glichen Leben f?hren. Interessant ist die Beobachtung, wie sich die alten Spezialgesch?fte f?r Fussbekleidung umformen. Sie sind zun?chst der gegenw?rtigen Entwicklung gefolgt und haben ihren Betrieb auf den Verkauf von westl?ndischem Schuhwerk erweitert. Das scheint aber nicht den erw?nschten Gewinn zu bringen; denn alle Schuhgesch?fte f?hren neuerdings auch Kopfbedeckungen. Also auch der chinesische Kaufmann in der Nanking Road macht seine Revolution durch. Sie hat schon manches Ehrw?rdige eingerissen und Zweifelhaftes an seine Stelle gestellt; und Letzteres neigt bedenklich vom Soliden zum Unsoliden.
Mit solchen Betrachtungen bahnen wir uns den Weg durch das Gew?hl. Sehen ab und zu mit eitlen, parf?mduftenden Chinesen besetzte Autos vorbeijagen, die man f?r ein paar Dollar mieten kann; sehen ?berelegante, zierliche Ponygespanne, deren Insassen prunkende Gew?nder tragen, und lassen uns schliesslich, auf der Suche nach einem ruhenden Punkt, in einem chinesischen Caf? nieder, wo wir in Eiskaffee mit Schlagsahne schlemmen. Die Sahne, die eben noch s?sser als Honig schmeckt, wurde pl?tzlich bitter; denn herein trat das verliebte Braut- oder Ehepaar von vorhin, dessen weiblicher Teil die Linienrevolution durchmacht. Der galante junge Mann bestellte zweimal Fleischbr?he mit H?rnchen....
Im Tor der Hoffnung.
Schanghai ist eine verderbte Stadt, das Sodom und Gomorrha in China. Der Westl?nder bezeichnet es als das ,,Paris des Osten". Ein chinesisches Blatt hat diese Tatsache vor Jahresfrist einmal ausdr?cklich festgestellt. ,,Bei Denen, die nach Schanghai gekommen sind", schrieb das Blatt, ,,gilt Schanghai f?r einen hochkultivierten Platz. Indessen gilt auch hier das alte Wort: Aussen rein, innen Schmutz. Und was in Schanghai geschieht, das ist auf das ganze Reich von Einfluss. Der Luxus nimmt bei M?nnern und Frauen ?berhand. Es gibt in der Kleidung noch kaum einen Unterschied zwischen ehrlichen und unehrlichen Frauen, und zu Letzteren geh?ren neunzig vom Hundert aller hier lebenden chinesischen Frauen. Was anf?nglich nur die auff?llige Tracht der ?ffentlichen Dirnen war, ist jetzt fast von allen Anderen angenommen worden. Die alten Sitten sind weggefegt. Die V?ter k?mmern sich kaum mehr um die Erziehung ihrer Kinder, und die Lehrer nicht mehr um die Sitten. Das ?bt mit der Zeit einen ?blen Einfluss auf das ganze Reich aus." Diese Moralpredigt der schulmeisternden ,,Dschendschoujihpao" ist wirkungslos verpufft; sie hat sich auch nicht als eindruckvoll genug erwiesen, die als Nachklang der Revolution immer ?ppiger werdenden Ausschweifungen der chinesischen Lebewelt einzud?mmen. Die Revolution hat Arme zu Reichen und Reiche zu Armen gemacht, und wer heute in den Vergn?gungsvierteln herrscht, ist der ?ber Nacht reich gewordene P?bel. Nicht mit Unrecht h?hnen die chinesischen Bl?tter in ihren Witzspalten, dass der Handel mit ,,Ameisen" und die eintr?gliche Aus?bung von Gesang und t?ndelndem Saitenspiel das beste wirtschaftliche Ergebnis der Revolution seien. Die angenehmsten Freudespender sind dem chinesischen Lebemann die kleinen M?dchen; sie geh?ren sozusagen zum Men? eines jeden auf Reichhaltigkeit Anspruch machenden Essens; sie singen, und Manche sind nach dem Mahl bereit, mit ihren zarten Fingern die braune Opiummasse zu K?gelchen zu kneten, w?hrend der mit Haifischflossen und Schwalbennestern angem?stete Lebemann sich behaglich auf die rot bepolsterte Bank ausstreckt und im Vorgef?hl auf den kommenden Opiumgenuss erheitert scherzt.
Jene M?dchen stammen meistens aus der Sutschouer und Hangtschouer Gegend; man findet unter ihnen reizende Gestalten. Von der Hangtschouerin hat schon der Italiener Marco Polo im dreizehnten Jahrhundert geschw?rmt. Er sagt von ihr, dass sie ,,in den K?nsten der Verlockung und Bet?rung vollkommen sei." Auf ihre Sch?nheit trifft auch der Lobgesang zu, der im ,,Schih-king" auf die F?rstin Tschuang-Giang gedichtet ist:
Die Hand wie Lilienknospen weich, Die Haut geronnenem Balsam gleich, Der Hals wie weisser Holzwurm bleich, Die Z?hn ein K?rbiskernbereich, Zikadenstirne seidenbraun, Ein L?cheln lieblich zum Bestricken Und sch?nster Augen gl?nzend Blicken!
Das ist etwa der Typ des ,,vornehmen" M?dchens in der Foochow Road und ihrer Umgebung.
Eine zweite Gruppe sind die Kantonesinnen, die nur sehr selten ?ffentlich als S?ngerinnen auftreten. Ihr Aeusseres sticht unvorteilhaft von den Angeh?rigen der ersten Gruppe ab; das Gesicht ist gr?ber und die Gestalt plumper und gedrungener; es wird aber an ihnen ger?hmt, dass sie ,,h?uslicher" seien.
Eine dritte Gruppe von M?dchen, die in den unteren Klassen eine gr?ssere Rolle spielt, stammt aus j?hrlichen Ueberschwemmungsgebieten in den Provinzen Anhui, Kiangsi und Kiangpe.
Nach statistischen Erhebungen sind vor einem Jahrzehnt in Schanghai f?nftausend ?ffentliche chinesische M?dchen gez?hlt worden; ausserdem soll eine gleiche Anzahl heimlich ihrem unsittlichen Gewerbe nachgegangen sein. Diese Zahlen d?rften sich jetzt verdoppelt und verdreifacht haben. Die H?user werden fast ausschliesslich von den M?dchenh?ndlern gef?llt. Der M?dchenhandel, dessen Sitz Schanghai ist, ist wie jeder andere Gesch?ftsbetrieb organisiert. Von Schanghai werden die M?dchen nach den s?dchinesischen H?fen bis hinunter nach Kanton, nach Westen bis Hankou und Szechuan und nach Norden bis Tschifu, Tientsin, Niutschuang gesandt; es ist ein immerw?hrender M?dchenaustauch zwischen jenen Pl?tzen und Schanghai im Gange, und nur in seltenen F?llen gelingt es den Beh?rden, den Handel vor?bergehend zu st?ren. Die M?dchen werden in der Regel schon als Kinder aufgekauft. In schlechten Zeiten, wenn Ueberschwemmungen manchen Bauer an den Bettelstab gebracht haben, stehen die Preise am Niedrigsten. Dass diese Gelegenheit von den H?ndlern besonders ausgenutzt wird, beweist die volkst?mliche Redensart: ,,Die Zeiten waren so schlecht, dass Kinder verkauft werden mussten." F?r ein paar Dollar erwirbt der H?ndler ein kleines M?dchen und setzt es mit hundertfachem Gewinn ab. Dass tausend Tael daf?r gezahlt werden, ist keine Seltenheit. Die K?uferin ist entweder die Besitzerin eines Freudenhauses oder eine ,,selbstst?ndig arbeitende" S?ngerin. Die in vornehmere Privatfamilien, wo sie als Magd arbeiten, verkauften M?dchen, haben ein weit besseres Los. F?r die beiden Ersteren ist der Kauf die denkbar beste Kapitalsanlage; am Gr?ssten ist die Verzinsung des Kapitals an dem Tage, wo das M?dchen, nach Monate oder Jahr langer, von roher Misshandlung gef?rderter Erziehung, den ersten Schritt ins wirkliche Leben unternimmt, wo die Zw?lf- oder Dreizehnj?hrige zum ersten Mal die Freuden ihres Berufs kennen lernt; dieses Ereignis ist ein beliebter chinesischer, unerh?rt realistisch dargestellter Novellenstoff. Nach diesem Ereignis ist das M?dchen dauernd werbendes Kapital f?r ihre K?uferin. Wenn die Reize der S?ngerin verbl?hen, hat sie durch den Kauf ihres M?dchens eine Altersversorgung bis zum Tod. Und wenn das M?dchen in die Jahre des Verwelkens ihrer Reize kommt, wird es dem Beispiel seiner K?uferin folgen und auch f?r seine Zukunft sorgen. So besteht seit Jahrhunderten auf dem Gebiet der Prostitution in China ein ununterbrochener Kreislauf.
Gegen diese geschilderten Missst?nde anzuk?mpfen und zu retten, was zu retten, ist, ist das Ziel des von ausl?ndischen Missionaren geleiteten ,,Tors der Hoffnung". Das Institut arbeitet in engem Anschluss an die Polizei und das Gemischte Gericht, die ihm die M?dchen ?berweisen; mitunter klopft es auch verstohlen an der schweren Holzt?r, und ein von Reue ?ber ihr unehrenvolles Leben ergriffenes M?dchen begehrt Einlass. Was kann nicht die Chronik der Rettungsanstalt von dem letzten Jahrzehnt erz?hlen! Von rachedurstigen M?dchen, die, ungl?cklich ?ber das geordnete Leben in der Anstalt, drei Mal versuchten, Feuer an das gebrechliche Geb?ude zu legen; von gegl?ckten und missgl?ckten Selbstmorden; von unehrlichen Handlungen und Diebst?hlen; aber auch von Freude ?ber die Errettung aus dem Schanghaier Moloch, von Dankbarkeit gegen ihre Erzieher und von gl?cklicher Heirat, von einem neuen Leben mit innigem Familiengl?ck.
In der N?he des Bahnhofs der Schanghai-Nankinger Bahn, in einem Ge?der von Seitengassen, liegt das ,,Tor der Hoffnung". Es f?llt nicht durch eine besondere Bauart auf, sondern schmiegt sich in die gew?hnliche H?userflucht ein. Drei urspr?nglich selbst?ndige Geb?ude sind mit Durchg?ngen verbunden; sie gen?gen aber kaum, den hundertzwanzig dort untergebrachten M?dchen Unterkunft zu geben. In den engen Schlafr?umen reiht sich Bett an Bett, und selbst ein kleines St?ckchen mit einer Bambusmatte ?berdeckter Hof muss als vorl?ufige Nachtunterkunft dienen. Die M?dchen, die zwischen achtzehn und f?nfundzwanzig Jahre alt sind, werden zuerst in der ,,Reinen-Herz-Schule" in allgemeinen Hausarbeiten ausgebildet. Ein gr?sserer Raum ist als Schule hergerichtet, die aus mehreren Klassen besteht; jede Klasse wird durch einen viereckigen Tisch dargestellt, um den sechs Sch?lerinnen sitzen und in chinesischen Elementarlehrb?chern oder im Neuen Testament lesen; mitunter wird der Unterricht durch Kindergeschrei gest?rt, denn einige Sch?lerinnen sind bald nach ihrer Aufnahme in das Heim Mutter geworden, und sie m?ssen w?hrend des Unterrichts ihre Kinder in Schlaf wiegen. Wenn sich die M?dchen nach einem einj?hrigen Aufenthalt im Heim bew?hrt haben, kommen sie in die Abteilung f?r Handarbeiten, wo die N?hmaschine ohne Unterlass surrt und die Finger geschickt die Nadel zu geschmackvollen Stickereien meistern; diese M?dchen stehen sich wirtschaftlich verh?ltnism?ssig gut, weil ihre Arbeit bezahlt wird; je nach ihrer Leistungsf?higkeit erhalten die N?herinnen und Stickerinnen eindreiviertel bis drei Dollar im Monat. Sie haben auch mehr Bewegungsfreiheit, k?nnen ausgehen und Eink?ufe machen, was den anderen M?dchen verschlossen bleibt, die nur den sonnt?glichen Kirchgang als Abwechslung in ihrem Leben kennen. Das gr?sste Gl?ck ist aber die Heirat, die ebenso sehr von den M?dchen, wie von der ausl?ndischen Leitung gew?nscht wird, da sie der beste Ausweg ist, den ?berf?llten R?umen Luft zu schaffen. Im letzten Jahrzehnt sind hundertdreissig M?dchen, trotz ihres wenig geordneten Vorlebens, noch gl?cklich unter die Haube gekommen. Wenn man das Heiratsfieber der M?dchen in Betracht zieht, so ist auch die Aufregung unter den kichernden M?dchen wohl zu verstehen, als wir, als chinesischen Studien nachgehende Westl?nder, die Anstalt besichtigten. Die M?dchen hielten uns offenbar f?r den ber?hmten ,,Mittelsmann", der eine neue Heirat einzuleiten hat. Nach chinesischer Sitte erscheint n?mlich zuerst der ,,chung-jen", der Vermittler, der im Auftrag des Br?utigam handelt, w?hrend eine Dame der ausl?ndischen Leitung des Heims die Interessen der werdenden Braut vertritt. Die Verh?ltnisse des Br?utigams werden genau gepr?ft, um zu verh?ten, dass das in die Ehe eintretende M?dchen nicht zum zweiten Male in die H?nde eines H?ndlers ger?t. Wenn die Vorbesprechungen zur Zufriedenheit ausgefallen sind, findet ein kurze Begegnung zwischen Braut und Br?utigam statt. Nach der Begegnung erscheint der Vermittler und teilt endgiltig mit, ob der Br?utigam die ihm auserw?hlte Braut heimf?hren will. F?llt die Antwort bejahend aus, so zahlt der Br?utigam vierzig Dollar, mit der die Aussteuer gekauft wird. Die Trauung findet in dem ,,Tor der Hoffnung" statt. Wenn das M?dchen als junge Frau endgiltig das Heim verl?sst, so folgen ihr die Blicke einer hoffenden und harrenden M?dchenschar. Die Jungen warten voll sch?umender Ungeduld auf den Br?utigam, der sie bestimmt heimf?hren wird. Aeltere, die auch fr?her einmal bestimmt gehofft hatten, sind stiller geworden, und manche Tr?ne tropft auf den Saum des Kleides, derweil die N?hmaschine surrt: ,,Niemals kommt der Freiersmann."
Kein Neid und keine Missgunst tr?bt das Zusammenleben der ganz Kleinen, die draussen bei Kianwan, in frischer Feldluft, sorgenfrei leben, ohne das Schicksal zu ahnen, dem sie entronnen sind. Aus der handelsf?higen Ware, als die sie der M?dchenh?ndler mit Kenneraugen erkannt hatte, wurden wieder Menschenkinder, die durch richterliche Entscheidung des Gemischten Gerichts dem Heim ?berwiesen sind. In dem Kinderheim herrscht eitel Wonne und Frohsinn. Ein munteres V?lkchen wohnt dort zusammen. Da ist die achtj?hrige Tseli, deren Eigent?merin vor dem Gemischten Gericht mit Aufbietung ihrer ganzen Beredsamkeit f?r ihr ,,Kapital" k?mpfte, aber abgewiesen wurde; das ist die ,,kleine Tigerin", wild und unb?ndig, die immer ihre zum Biss bereite Zahnreihe zeigt; sie wurde elternlos auf der Strasse aufgefasst und ins Heim gebracht. Da gibt es die Efu mit ihren runden Eulenaugen, und die sechsj?hrige Enan mit ihren beiden Gr?bchen in den Wangen und dem immer zum L?cheln geneigten Mund; und ausser diesen Kleinen gibt es noch hundertachtzig Andere, die all in dem Heim Unterkunft gefunden haben. Alles h?bsche niedliche Dinger, die beweisen, dass die ,,Warenkenntnis" der M?dchenh?ndler nicht gering ist. Welch ein Frohsinn herrscht, wenn die Kleinen zu den gemeinsamen Kindergartenspielen antreten; da k?nnen die kleinen F?sschen nicht flink genug sein, wenn es im raschen Lauf den Nachbar zu haschen gilt; und nicht langsam genug, wenn beim Blindekuhspiel die F?sschen behutsam ?ber Ger?ll stolpern und die H?ndchen tastend in der Luft suchen.
Aber was bedeutet es: hundertachtzig Menschenkinder aus dem Weltstadtstrudel gerettet, wenn Zehntausende darin untergehen? Die im ,,Tor der Hoffnung" getane Arbeit verfl?chtigt sich wie der Dunst des Wassertropfens, der auf den heissen Stein schl?gt. Solange die chinesischen Beh?rden nicht nachdr?cklich den Kampf gegen die M?dchenh?ndler aufnehmen, wird eine Besserung der Verh?ltnisse kaum zu erwarten sein.
Eine chinesische Premi?re.
Chinesische Schauspieler geh?rten bis vor Jahresfrist ebenso wie die Barbiere zu den wenig geachteten Volksklassen. Die Verachtung ging unter der Mandschudynastie noch so weit, dass ihre S?hne von allen Staatspr?fungen ausgeschlossen waren und somit gewaltsam abgehalten wurden, ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Die Revolution hat, wenigstens soweit Schanghai in Betracht kommt, einen Umschwung herbeigef?hrt. Die fr?her verachteten Barbiere treten pl?tzlich in die Reihe der ,,Vork?mpfer f?r republikanische Freiheit", indem sie sich um die Abschneidung des Zopfes und die Einf?hrung einer ,,zivilisatorischen" Haartracht verdient machten. Ebenso hat sich auch das Ansehen der Schauspieler gehoben, weil sie als Leute angesehen werden, die die Revolution vorbereiten halfen. Das trifft eigentlich nur auf die Schauspieler von drei Theatern zu, die aus dem Rahmen der alten chinesischen B?hne durch ihr modernes Repertoire heraustreten. Seit etwa drei Jahren hat n?mlich die chinesische B?hne eine bemerkenswerte Wandlung durchgemacht, wobei die Anlehnung an westl?ndische Muster unverkennbar ist. Mit den Theatern der alten Art, wie sie sich besonders unverf?lscht in den Provinzen erhalten haben, haben die neuen Anstalten wenig gemein. Die innere Einrichtung, der Bau des Zuschauerraums, die Anordnung der Sitzpl?tze, die B?hne und die szenische Ausstattung sind v?llig europ?isch. Ja, sie sind manchen europ?ischen Theatern noch ?berlegen, da zur raschern Bewerkstelligung von Verwandlungen eine drehbare B?hne eingebaut ist. Naturereignisse werden auf der B?hne durch mechanische Hilfsmittel getreu nachgeahmt und durch die Anordnung bemalter, in die Welt des aufgef?hrten St?ckes passender Kulissen werden keine besondern Anspr?che an die Phantasie der Zuschauer gestellt, w?hrend bei den alten Theatern die Zuh?rer sich oft damit begn?gen m?ssen, dass ein beschriebenes Schild ihnen andeutet, dass es schneit, regnet, oder dass dort hinten ein Wald zu denken sei. Die zur Auff?hrung gelangenden St?cke sind entweder aus einer fremden Sprache ?bersetzt oder dem modernen chinesischen Leben entnommen. Sie sind darauf zugeschnitten, weniger die Zuschauer zu unterhalten, als sie ?ber politische und soziale Fragen der Gegenwart aufzukl?ren. Die Schauspieler sind so sehr von ihrer Aufgabe ?berzeugt, dass mir vor kurzem einer der ber?hmtesten, der monatlich eine Gage von etwa 2500 M bezieht, erkl?rte: ,,Unser Theater ist eine Volkshochschule und wir sind die Professoren." Die Arbeit, die heute von der modernen chinesischen B?hne geleistet wird, ist nicht zu untersch?tzen. So musste vor etwa zwei Jahren die dem chinesischen Geschmack angepasste Kameliendame fast jeden Abend gegeben werden, und sie beherrscht noch heute den Spielplan, indem immer ein neuer Teil hinzugedichtet wird, so dass das St?ck, das in seiner urspr?nglichen Form an zwei Abenden aufgef?hrt werden konnte, jetzt von Anfang bis zu Ende vierzehn Abende in Anspruch nimmt. Das St?ck hat vor der Revolution eine versteckte revolution?re Propaganda gemacht und den kriegerischen Geist im Volke zu wecken versucht. In Bezug auf szenische Ausstattung ist f?r chinesische Verh?ltnisse Grossartiges geleistet worden. Die Schlachtenszenen, in denen bald der Feind in von Wasserf?llen durchrauschten Gebirgsschluchten, teils mit Panzerschiffen auf dem Meer bek?mpft wurde, haben jeden Abend neue Beifallsst?rme entfesselt. Ebenso behauptet das aus zwei Teilen bestehende ,,Opiumst?ck" seit mehrern Jahren den Spielplan. Es ist ein soziales Drama, das den Zusammenbruch einer reichen Kaufmannsfamilie zeigt, deren Haupt sich dem Opiumgenusse hingibt. Das St?ck hat recht eindrucksvolle Szenen, die sicher dazu beitragen, den Chinesen den Westl?nder n?her zu bringen. Dabei erh?lt der Westl?nder einen Einblick in das Leben innerhalb der vornehmen chinesischen Welt, die ihm wohl noch lange geschlossen bleiben wird. Am meisten sind vom Publikum jetzt politische St?cke begehrt. W?hrend die Verhandlungen f?r die internationale Anleihe dem Abschluss nahe waren, wurde ein St?ck auf die Bretter gebracht, das die Lage in China ausmalte, wenn das Land in der finanziellen Abh?ngigkeit der Fremden w?re. Das Spiel machte unter den Zuschauern einen so ?berw?ltigenden Eindruck, dass viele weinten, Dollarst?cke, Armspangen und sonstigen Schmuck auf die B?hnen warfen, um Wohlwollen f?r die in hohem Pathos von der B?hne gehaltenen Reden auszudr?cken. Dass es dabei auch nicht an wenig schmeichelhaften Worten gegen die Ausl?nder gefehlt hat, braucht kaum besonders betont zu werden. In einem andern St?ck, das den Namen: Das Ungl?ck Persiens tr?gt, wurde auf die Ausdehnungsgel?ste Russlands und Englands hingewiesen und Persien als warnendes Beispiel f?r China hingestellt. Das neueste politische St?ck ist die Darstellung der chinesischen Revolution auf der B?hne. Unter Anlehnung an die Ereignisse zieht der Aufstand in etwa 20 Szenen ?ber die B?hne. Auch bei dem Revolutionsst?ck: Liyuan hung ist grosser Wert auf die szenische Ausstattung gelegt, die sich bem?ht der Wirklichkeit nahe zu kommen. Die neuen St?cke sind durchweg von geringem literarischen Wert. Worauf es den Verfassern ankommt, ist im wesentlichen die Darstellung einer breiten, in alle Einzelheiten gehenden Handlung, die weniger um ihrer selbst willen als der neuen Umwelt wegen da ist. Rein ?usserlich bedeutet die Aufnahme moderner St?cke in den Spielplan einen gewissen Fortschritt, der aber nur auf Kosten der Verflachung der chinesischen Schauspielkunst erfolgt. Denn so l?cherlich diese auch dem europ?ischen Geschmack erscheint, so besitzt sie f?r die grosse Volksmasse doch ein hohen erzieherischen Wert. Das gleiche kann man von der von westl?ndischen Vorbilder beeinflussten neuen B?hnenkunst, von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen, nicht behaupten. Ihr Verh?ltnis zur alten B?hne ist etwa das gleiche wie heutzutage in Europa das der Operette zum klassischen Schauspiel.
Wer einen Winter in Berlin verlebt und sich f?r die B?hnenwelt interessiert hat, der kennt den eigent?mlichen Reiz, der sich um jede Erstauff?hrung rankt. Die Presse verk?ndigt schon Wochen vorher, welches neue St?ck von dieser oder jener B?hne erworben ist, und dem Tag der Auff?hrung wird mit Spannung entgegengesehen. Neben dem prunkenden Hausball, den Exzellenz X in Berlin W. gibt, gilt eine gelungene Erstauff?hrung als der ,,Clou" der Saison und ist ein willkommener Gespr?chsstoff in den Salons. Man muss einer Erstauff?hrung beigewohnt haben, um als Bildungsmensch auf der H?he zu sein. Dadurch, dass oft Eintrittskarten im Preise steigen, wie ein von allen m?glichen Einfl?ssen abh?ngiger B?rsenwert, hat sich der Besuch der Premi?ren zu einem fast ausschliesslichen Vorrecht der vornehmen Welt herausgebildet.
Man wird diese Gesichtspunkte im Auge behalten m?ssen, wenn man als kritisch veranlagter Westl?nder der Erstauff?hrung in einem chinesischen Theater beiwohnt. Denn gerade auf diesem Gebiet zeigen sich die Verschiedenheiten des westl?ndischen und des chinesischen, oder besser Schanghaier Theaterpublikums. Zun?chst muss vorausgeschickt werden, dass alle chinesischen Theater, von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, Erstauff?hrungen garnicht kennen. Ihr Spielplan bewegt sich seit Alters in ber?hmten klassischen St?cken, mit deren Inhalt der Grossvater schon seinen lauschenden Enkel vertraut macht; die St?cke haben in der Regel einen geschichtlichen Hintergrund, in den sich der Chinese schon als Junge hineinf?hlt, und wenn er sp?ter einer Vorstellung beiwohnt, dann sieht er auf der B?hne, ,,dargestellte Geschichte." Bei Theatern, die sich die Pflege der alten Schauspielkunst nach wie vor zur Aufgabe gemacht haben, kann man also deshalb von Erstauff?hrungen im Sinne europ?ischer Hauptst?dte nicht sprechen. Aber es gibt Ausnahmen; und diese finden wir in Schanghai, wo es moderne Theater gibt, die neben dem alten Schauspiel moderne, an westl?ndische Vorbilder angelehnte St?cke auf ihrem Spielplan haben. Der Erstauff?hrung eines solchen modernen Theaters galt vor einiger Zeit unser Besuch.
Mit den Premi?ren der Berliner B?hnen haben chinesische Erstauff?hrungen garnichts gemein. Keine Zeitung schl?gt vorher die Reklametrommel, kein auserw?hltes Publikum f?llt die Pl?tze, keine Kritik hebt das St?ck in alle Himmel oder reisst es herunter, in keinem Salon ist es das Gespr?chsthema f?r Monate, und Niemand kennt den Namen des Dichters. Erstauff?hrungen sind f?r das chinesische Theaterpublikum etwas Gleichg?ltiges; man sieht es sich an, weil es auf dem Programm steht; denn kein Theaterdirektor w?rde es wagen, mit einer Premi?re als abendf?llendem St?ck hervorzutreten. Trotz des neuen Zugs, der in die moderne chinesische B?hne gekommen ist, wird an dem alten ?berlieferten Brauch festgehalten, dass jeden Abend mehrere St?cke ausgef?hrt werden m?ssen. Selbst das am chinesischen Bund gelegene Theater Sin-wu-tai, dessen aufgekl?rte Leitung f?r alle Neuerungen auf dem Gebiet des B?hnenwesens leicht zug?nglich ist, hat an dem alten Brauch noch nicht ger?ttelt. Neben der Erstauff?hrung standen mehrere alte St?cke auf dem Programm. So ,,Schnee im sechsten Monat", ,,Der Eisendrachen-Berg", ,,Der Berg Tung Tsch?n", der spassige ,,Spaziergang des Fr?ulein Liu Erh tsieh" und ein mehrst?ndiges historisches Schauspiel aus der Zeit der ,,Drei Reiche." Durch diesen Gr?tzenberg historischer St?cke musste man sich als premi?rehungriger Westl?nder erst durchfressen, bis man das -- nach westl?ndischer Auffassung -- Ereignis von zwei Abenden erleben konnte.
Das St?ck hiess: ,,Li Y?an hung". Welch ein Klang liegt in diesen Worten! Das zarte, verbindliche Li, das an unumschr?nkte Diktatur erinnernde Y?an, und das mit elementarer Wucht ausgesprochene hung. Es ist der Rhythmus eines ereignisvollen Zeitabschnittes, der aus diesem Namen heraust?nt. Wer kennt nicht Li Y?an hung, das Z?nglein an der Wage beim Ausbrechen der Revolution in Wutschang, den verg?tterten Helden des Volksheers? Der Titel, den das St?ck f?hrt, l?sst seinen Inhalt erraten. Denn Alles, was sich um diesen Namen gruppiert, ist neueste chinesische Zeitgeschichte. Wir Alle haben sie miterlebt; Manche aus n?chster N?he, und ganz Wenige haben die Ereignisse pochen h?ren, als sie Li Y?an hung in seiner schwersten verantwortungsvollsten Zeit, w?hrend vom Hankouer Bahnhof die Gesch?tze der Kaiserlichen Granaten nach Wutschang sandten, im Hauptquartier besuchten und gem?tlich mit ihm zusammensassen. Uns ging es wie dem erw?hnten chinesischen Jungen, der mit Andacht der ,,dargestellten Geschichte" lauscht, nur mit dem Unterschied, dass wir zum Teil selbst mit dabei sein konnten, als sie gemacht wurde. Daraus erkl?rt sich die Spannung, mit der wir der Auff?hrung entgegensahen.
Das St?ck zerf?llt in zwei Teile, die nacheinander an zwei Tagen, Abends von halbelf bis halbein Uhr, aufgef?hrt wurden, nachdem der ?brige Teil des Programms erledigt war. Wie alle ,,modernen St?cke" der chinesischen B?hne zerf?llt auch ,,Li Y?an hung" nicht in drei oder vier, mit steigender Handlung straff durchgef?hrte Akte, sondern in etwa zwanzig Szenengruppen von f?nf bis zehn Minuten langer Dauer, die die Geschehnisse in ununterbrochener Reihe darstellen, damit der Zuh?rer nicht den Faden verliert; manche Szenen sind nach westl?ndischer Auffassung unbedingt ?berfl?ssig, und sie k?nnten ebenso gut im Dialog angedeutet werden.
Das St?ck wird mit einer Szene im Gouverneursyamen er?ffnet. Dort sind der Generalgouverneur Jui Tscheng und die h?chsten Spitzen der Provinz versammelt. Die Beamten tragen die feierliche Amtskleidung und den Hut mit ihrem Rangknopf. Jedes Wort, das sie sprechen, wird mit besonderer Sorgfalt betont, jede Bewegung ist fein abgewogen, Alles bewegt sich in exakten, zeremoniellen Formen, die dem Gesamtbild etwas ?beraus Feierliches und W?rdevolles geben. Das Gespr?ch dreht sich um die innerpolitische Lage; etwas Banges, Ungewisses wird mit dem Ausdruck ,,Autorit?tsverwerfer" verkn?pft. Inzwischen sind die Umst?rzler in Hankou an der Arbeit. Wir blicken in die historische Bombenwerkst?tte. Der Revolution?r Sun Wu empf?ngt seine Gesinnungsgenossen, mit denen er den Plan der Erhebung schmiedet. Unter dem Sitzpolster von St?hlen werden wohlversteckte Waffen und Bomben hervorgeholt und verteilt. Eine treffend gesehene Gestalt, ausser Sun Wu, ist ein westl?ndisch gekleideter Revolution?r; eine kindische Freude liegt auf seinem Gesicht, wenn von Revolution gesprochen wird; er h?pft und klatscht in die H?nde, wie ein Schuljunge; dabei zittert er fortw?hrend vor freudiger Erregung. Die Verschw?rer fassen den Entschluss, den Brigadekommandeur Li Y?an hung in Wutschang f?r die Sache der Umsturzgesellschaft zu gewinnen. Das n?chste Bild zeigt die Ankunft Tuan Fangs in Wutschang. Tuan Fang, der seither in Zur?ckgezogenheit gelebt hatte, erhielt von der kaiserlichen Regierung den Auftrag, die in Folge der Bahnverstaatlichung in Szetschuan erregten Gem?ter zu beruhigen. Nach R?cksprache mit dem Generalgouverneur Jui Tscheng sollte er von Wutschang nach Szetschuan abreisen. Tuan Fang wird mit amtlichem Gepr?nge vor dem Stadttor empfangen und nach dem Yamen geleitet, wo das Festmahl f?r ihn bereit ist; auch hier wirken die feinen Beamtenzeremonien ?usserst angenehm auf das Auge. W?hrend die Beamten sorglos beim Mahle sind, bereitet sich in der Wohnung des Brigadekommandeurs Li Y?an hung eine grosse Aktion vor. Sun Wu und der westl?ndisch gekleidete Revolution?r besuchen General Li. Er tr?gt die Uniform eines Brigadekommandeurs. Die Gesichtsmaske ist im Wesentlichen erfasst; nur der Bart und die Augen m?ssten schw?rzer und buschiger sein. Als Li die Revolution?re nach ihrem Begehr fragt, entsteht eine Verlegenheitspause. Man glaubt, die Herzen der Revolution?re vor Aufregung zum Bersten schlagen h?ren. Sie f?hlen: jetzt steht die Revolution auf des Messers Schneide; entweder ist Li Y?an hung der richtige Mann, oder wir haben uns get?uscht; und dann rollen unsere K?pfe morgen im Sande. Auch die Zuschauer, die sich vorher ab und zu laut unterhalten hatten, halten eine Weile den Atem an; auch sie f?hlen, dass sie einen wichtigen geschichtlichen Augenblick vor sich abspielen sehen. Die Verlegenheitspause l?sst nach. Ein harmloses Gespr?chsthema ist gefunden, und vorsichtig sondierend, wird es von den Revolution?ren ins Politische ?bergeleitet, indem sie es, sich gegenseitig ermunternd anstossend, im Fluss halten. Vor dem Kernpunkt des Gespr?chs schrecken die Revolution?re zur?ck. Da entsteht ihnen eine willkommene Helferin. Eine ,,weibliche Verwandte" des Brigadekommandeurs, die Vertreterin der weiblichen ,,Autorit?tsverwerfer", mischt sich ins Gespr?ch und verlangt von Li, dass er sich der Aufstandsbewegung anschliesse. Ein kurzer innerer Kampf Li Y?an hungs, und er reicht den Revolution?ren stumm die Hand, zum Zeichen, dass auf ihn und seine Brigade zu rechnen sei. Der nerv?se westl?ndisch gekleidete Revolution?r will vor Freude schier an die Decke springen, als sein Ohr die Botschaft vernimmt. Unterdessen wiegt sich der Vorgesetzte Li Y?an hungs, General Tschang Piao, in Sorglosigkeit. Die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen seiner zweiten und vierten Frau, erstere ein Geschenk des greisen Tschang Chih tung, d?nkt ihm wichtiger, als den Ger?chten ?ber revolution?re Umtriebe nachzugehen, die seit den letzten Tagen Wutschang durchschwirren. In diesen Tagen kehrt auch Tschang Piaos Sohn, der in Japan seinen Studien obgelegen hat, ins v?terliche Haus zur?ck, wo gerade Li Y?an hung mit Tschang Piao eine Unterredung hat. Der kleine Tschang Piao wird als kecker, ?berm?tiger Junge in kurzen europ?ischen Hosen und Halbstr?mpfen dargestellt; er benimmt sich wie ein ausgelassener Quartaner. ,,Ha, das ist Li Y?an hung. Jedes Kind auf der Strasse kennt ihn. Er ist ber?hmt, und Dich kennt Niemand," ruft der Spr?ssling seinem Vater zu. Mit Entsetzen erkennt Tschang Piao, dass sein Sohn keinen Zopf tr?gt. Darob zur Rede gestellt, bekennt der Kleine trotzig: ,,Ich bin ein Umst?rzler." Mit derben Schimpfworten: ,,Faules Ei, faules Ei, Schildkr?tenei, Schildkr?tenei!" herrscht Tschang Piao aus heller Wut ?ber das Gest?ndnis seines Sohnes die Diener an. Danach setzt eine abgespannte Ermattung ein, und zur Beruhigung seines Innern l?sst er sich von seiner Lieblingsfrau den R?cken massieren. Unter dem lieblichen Blick der Gattin gl?ttet sich schliesslich das von Zornesrunseln durchfurchte Gesicht. Im Verschw?rernest Sun Wus wird unterdessen fieberhaft gearbeitet. Zum ersten Mal wird die neue f?nffarbige Flagge entfaltet; die Siegel der neuen Regierung werden angefertigt, Proklamationen geschrieben und Bomben mit t?dlichen Sprengstoffen gef?llt. Eine Bombe explodiert und versengt Sun Wus Gesichtshaare. In wilder Hast fliehen die Verschw?rer. Vier fallen in die H?nde der Polizei. Nun treibt die Handlung Schlag auf Schlag vorw?rts. Li Y?an hung versammelt telephonisch seine Brigade und wirbt ?ber Nacht neue Truppen an. Im Yamen des Generalgouverneurs herrscht grenzenlose Verwirrung. Die ersten Geschosse fallen in den Hof. Die h?chsten Beamten in ihren kostbaren Amtstrachten rennen mit schlotternden Knien umher, stossen gegenseitig mit den K?pfen an einander und schreien sich an, wie in einem Tollhause, kurz, die Verwirrung ist unbeschreiblich. Ein H?gel wird von den Aufst?ndischen gest?rmt, eine Schnellfeuerkanone aufgefahren und ununterbrochen Sch?sse in die treugebliebenen Truppen Tschang Piaos gesandt. Die Umsturzfurie ist entfesselt. Mit der Flucht Tuan Fangs, der sich von seinem sch?nen Bart trennen muss, schliesst der erste Teil.
Der zweite Teil, der am folgenden Abend gespielt wurde, steht an Lebhaftigkeit hinter dem des ersten Abends bedeutend zur?ck; man vermisst die Sorgfalt im Aufbau der Szenen und findet die belehrenden, langatmigen Reden erm?dend, deren Grundton stets der gleiche ist, und die immer beginnen: ,,Mehr als zweihundert Jahre seufzte das Volk unter der Knechtschaft der Mandschus, jetzt aber usw.". Recht eindrucksvoll ist indessen eine der ersten Szenen, wo Li Y?an hung von den Aufst?ndischen und den Notabeln des Landtags zum Tutu erw?hlt wird. Der Doyen des Konsularkorps in Hankou soll von dieser Wahl in Kenntnis gesetzt werden. Einen beissenden Hieb erh?lt dabei die Ankn?pfung der ersten ,,ausw?rtigen Beziehungen" der neuen Regierung. Jeder der Anwesenden m?chte die Mission zu dem fremden Konsul ?bernehmen. Schliesslich wird ein sehr korpulenter Herr, der sich auf seine fremden Sprachkenntnisse beruft, als Dolmetscher in Hankou und ein Anderer als Abgesandter gew?hlt. Die Szene, die sich dann in dem Empfangszimmer des Konsuls abspielt, ist k?stlich. Denn es stellt sich heraus, dass der angebliche Dolmetscher keine fremde Sprache spricht. Die heiteren Zwischenf?lle, die dadurch entstehen, halten die Zuschauer fortgesetzt im Lachen. Schliesslich werden die Abgesandten Li Y?an hungs auf nicht allzu h?fliche Weise verabschiedet. Diese Szene und die folgende im Hauptquartier Li Y?an hungs im Provinziallandtagsgeb?ude in Wutschang geh?ren zu den gelungensten des zweiten Teils des St?cks. Wie trefflich sind die Gestalten gesehen, die sich im Hauptquartier um General Li gruppieren; sie rufen in mir die Erinnerung wach, wo ich im November 1911 als besuchender Westl?nder das interessante Milieu st?rte. Da steht ein Mitglied der ,,Zum Sterben Bereiten" mit der weissen, ?ber die Brust gekreuzten Binde, der k?mpfende Student, nur mit einem S?bel bewaffnet, der jugendliche Offizier mit dem roten Tuch am Schwertknauf, alles Gestalten, die der Wirklichkeit entnommen sind. Nur h?tte General Li, der in prunkender milit?rischer Uniform dargestellt wurde, seinen schlichten bayrisch-blauen Anzug, die gelben Reitstiefel und den grossen Schlapphut tragen sollen, und die getreue Nachahmung des Lischen Hauptquartiers w?re auf H?chste vollendet gewesen. Trotzdem ist die Darstellung des Lebens und Treibens in jenem historischen Eckzimmer des Landtagsgeb?udes recht gut wiedergegeben. W?hrend Li mit seinem Stab versammelt ist, kommt die Meldung, dass eine starke Streitmacht unter dem Befehl des Generals Feng Kuo tschang von Peking unterwegs sei, und dass er die Aufgabe habe, Hankou und Hanyang dem Volksheer zu entreissen. Die n?chsten Szenenbilder zeigen dann Gefechte zwischen den noch von Tschang Piao gef?hrten Kaiserlichen und den Aufst?ndischen, die f?r Letztere siegreich sind; Tschang Piao ergreift vor Angst an allen Gliedern zitternd, die Flucht. Inzwischen trifft Feng Kuo tschang mit seinem Heer vor Hankou ein. Die Aufst?ndischen werden von Kilometer Zehn nach Hankou zur?ckgedr?ngt, und die Stadt von den Kaiserlichen eingenommen. Eine Szene zeigt die Chinesenstadt Hankou. Vom Ta tsche men fliegen die Brandgranaten in die Stadt. Ein Haus geht in Flammen auf; das Feuer greift um sich, bis schliesslich die Stadt in einen Tr?mmerhaufen sinkt. Die Schlusszene zeigt die Batterien von Wutschang, die mit dem Geschwader des Admirals Sah k?mpfen. Eine Granate zerschmettert den Mast des ersten Kreuzers, und gleich steigt die weisse Flagge am Heck auf. Die Flotte ist zu den Aufst?ndischen ?bergegangen. Damit schliesst das St?ck.
Wie aus der gedr?ngten Inhaltsangabe hervorgeht, ist es eine Darstellung der Ereignisse wie sie sich im Wesentlichen in den Monaten Oktober und November in den Wu Han-St?dten abgespielt haben. Manches, ja Vieles, lehnt sich wahrheitsgetreu an die Geschehnisse an. Anderes ist aber stark zu Gunsten der revolution?ren Sache gef?rbt. Das St?ck ist kein Drama eines Helden in westl?ndischem Sinne, wie der Titel vielleicht ahnen l?sst. Nicht Li Y?an hung wirkt als Heldennatur gestaltend auf die Ereignisse, sondern er wird von ihnen getragen. Ob damals Li Y?an hung, ?berzeugt von der Sch?dlichkeit der Mandschuherrschaft, aus freiem Entschluss das Banner der Emp?rung ergriffen hat, ist stets von unparteiischen Kennern bezweifelt worden. Weit eindrucksvoller und der historischen Wahrheit n?her liegend w?re die auch sp?ter von Li Y?an hung best?tigte Szene gewesen, als damals, in der kritischen Nacht vom 8ten auf den 9ten Oktober, Angeh?rige seiner Brigade auf sein Zimmer kamen, ihm das Schwert an den Nacken setzten und ihn zwischen Tod oder Gefolgschaft w?hlen liessen. Li nahm das Letztere. Und von diesem Augenblick an hatte er seine Natur als Held an seine Umgebung verkauft, die ihm jede seiner Handlung vorschrieb. Anzuerkennen ist jedoch, dass ihn das St?ck nicht von vorneherein als einen Umst?rzler hinstellte, der nicht wie andere deshalb nach Rang und W?rde im Heer strebte, um rascher zu seinem Ziel zu gelangen; das geht daraus hervor, dass er zuerst in einer Unterredung mit der ,,weiblichen Verwandten" und den beiden Revolution?ren f?r die Sache der Ko ming tang, der er zun?chst unwissend, ablehnend gegen?bersteht, gewonnen werden muss. Solche Feststellungen m?ssen westl?ndischen Kreisen gegen?ber gemacht werden, damit sie nicht Opfer einer Geschichtsklitterung werden, die jetzt von ,,national" gesinnten chinesischen Kreisen getrieben wird. Das trifft auch auf Tschang Piao zu. Seine Gestalt wird ins allzu L?cherliche karrikiert, doch immerhin f?r chinesische Auffassung noch so glaubw?rdig, dass jeder kritiklose Beobachter mit dem Namen Tschang Piao die feige Jammergestalt verkn?pft. M?ge das h?usliche Idyll, das Tschang Piao in den launigen H?nden von zwei Frauen zeigt, auch zutreffen, im Kampf gegen den ?berlegenen Feind hat er sich in jenen kritischen Tagen, als er mit ein paar Getreuen den Bahnhof Kilometer Zehn verteidigte, als ein Held gezeigt. Und seinem Heldentum setzte er die Krone auf, als er in einer sternenklaren Novembernacht allein auf schwankendem Kahn ?ber den Han-Fluss ruderte, eine dicke Hanftrosse nach sich zog und sie in unmittelbarer N?he des feindlichen Lagers an seinem Pfahl festmachte, wodurch er das Schlagen der Br?cke ?ber den Han erm?glichte und auf diese Weise die Einnahme von Han yang vorbereitete! General Feng Kuo tschang, der Eroberer von Hanyang und Hankou, bleibt in dem St?ck von L?cherlichkeiten verschont. Kein verulkendes Lachen ert?nte aus dem Zuschauerraum, als er auftrat. Die Maske des Schauspielers war vorz?glich; Feng Kuo tschang, wie er leibt und lebt! Aus seinen Z?gen leuchtete Tatkraft und Entschlossenheit; er war noch nicht gramgebeugt wie von jenem Tage ab, als ihm die Nachricht aus dem Norden zuging, dass fanatische Revolution?re seine Familie ausgerottet und die Gr?ber seiner Ahnen gesch?ndet h?tten. Das St?ck bem?ht sich, den Wutschanger Aufstand so unblutig wie m?glich darzustellen. Fl?chtende Mandschus werden von den Soldaten angehalten und nach kurzem Verh?r weiter gelassen. Das entspricht nicht den geschichtlichen Tatsachen. Viele wurden grausam niedergemacht, ganz zu schweigen von den achthundert mandschurischen M?nnern, Frauen und Kindern, die im Revolutionseifer von der Wutschanger Stadtmauer gest?rzt wurden, wo sie mit zerschmetterten Gliedern liegen blieben. Doch die Zeit heilt. Sie heilt auch die Erinnerung an die Schattenseiten und unbedachte Grausamkeiten der Revolution, und nur das Lichte, Ideale soll der Nachwelt erhalten bleiben. In diesem Sinne ist auch das St?ck ,,Li Y?an hung" aufzufassen.
Bilder am Wege.
Die Freude am Licht.
Es gibt Gassen in Schanghai, die in regenschweren Tagen von einem d?stern Halbdunkel durchwoben sind. Es sind eigentlich gar keine Gassen, sondern schmale G?nge, die von einer Hauptstrasse abzweigen und stracks durch die H?userbl?cke f?hren. Die G?nge werden mit Namen bezeichnet, die manchmal sehr merkw?rdig klingen und dem ganzen ,,Milieu" Hohn sprechen. Hier sind einige Gassenbezeichnungen: ,,Die ewige Kostbarkeit," ,,die ewige Tugend," ,,der ewige Fr?hling," ,,der friedliche ,,Ursprung"," ,,die vollendete Sch?nheit," ,,das immerw?hrende Gl?ck," ,,die hundert Harmonien," ,,die unwandelbare Gerechtigkeit" und ,,der erhabene Friede."
Eines Tages ging ich durch die ,,Gasse der ,,unwandelbaren Gerechtigkeit"." Zu beiden Seiten waren hohe H?userw?nde und die Gasse war so schmal, dass man, wenn man sich in ihre Mitte stellte, mit den Fingerspitzen der ausgestreckten H?nde die W?nde ber?hren konnte. Die steilen, schmutzig grauen W?nde wurden oben vom Himmel abgeschlossen, der von einem d?stern Grau umflort war. Braun und klitschig von Regen und aufgeweichtem Staub war das Pflaster. Ein Geruch von Moder und Kellerdunst erf?llte die Luft. In der Gasse schien alles Leben ausgestorben. Nein, doch nicht. Denn dort, an die Wand gekauert, lag ein Sack aus groben, ackerfarbenem Tuch. Unter dem Sack war Leben. Vielleicht lag ein Hund darunter. Nein, es war nur ein H?ufchen zusammengekn?ueltes menschliches Elend. Auf dem Sack, der als k?ltesch?tzende Schlafdecke diente, kramte sich eine magere Hand hervor und schlug abwehrend in die Luft. Dabei verzog sich die Decke und ein Kopf kam zum Vorschein. Ein w?rdiger Greisenkopf. Das Gesicht war braun wie die Sackleinwand. Der Bart und die sp?rlichen Zopfhaare weiss wie frischgefallener Schnee. Die Augen waren zum Schlaf geschlossen. Da surrte eine Fliege heran, die, in irgend einem warmen Unterschlupf aufgest?bert, im Zickzackflug durch die Luft taumelte, sich auf dem Greisengesicht niederliess, und ihren schwarzgl?nzenden Leib an der von warmem Blut durchstr?mten Wange des Schlafenden w?rmte. Der Greis lag offenbar im Halbschlaf; er erhob die H?nde und klatschte nach der Fliege; unbeirrt kam sie immer wieder. Und pl?tzlich ging ein Aufleuchten durch die d?stere Gasse; es flammte auf und verschwand wie ein Streichholz, das man in einem dunstigen, d?stern Keller anz?ndet. Und dann leuchtete es wieder auf, das w?rdige Greisengesicht mit Helle ?berstrahlend und den schwarzen Leib der vorwitzigen Fliege mit gr?nschillernden Ringen umg?rtend. Es war die Sonne, die, die graue Wolkenwand zerschneidend, ihre Strahlen in der ,,Gasse der unwandelbaren Gerechtigkeit" spielen liess. Noch merkte der schlafende Greis das Wirken der Lichtspenderin nicht, obwohl die Fliege eindringlich zum Erwachen mahnte. Als aber die Sonne mit all ihrer Leuchtkraft in die muffige Gasse fuhr, da zwinkerte es um die verwitterten Augenwinkel des Greises, und langsam, langsam ?ffneten sie sich und blickten so hell und freudig in die Sonne, wie die frohen Augen eines kleinen Kindes, das beim Erwachen seine Mutter erblickt. Und dann schlossen sich die Augen wieder, und um den Mund des Bettlers zog sich ein stilles L?cheln.
Seit diesen kleinem Erlebnis sind f?r mich ein durch die Wolken dringender Sonnenstrahl und das L?cheln des Bettlergreises in der ,,Gasse der unwandelbaren Gerechtigkeit" zwei unzertrennbare Begriffe.
Der Erdnussh?ndler.
In einem der vielen Seiteng?nge, die sich von der Nanking Road in die dahinter liegenden H?userbl?cke bohren, hat seit Jahren ein Verk?ufer von verzuckerten Erdn?ssen seinen Stand aufgeschlagen. Die hohe Gestalt, die braunrote Gesichtsfarbe und die starkknochigen Finger, mit denen er die gezuckerten Fr?chte in senffarbenes Papier wickelt, oder mit denen er ab und zu eine ?berdauerte Winterfliege mit dem Federwedel verjagt, deuten daraufhin, dass er nicht ein eingeborener Schanghaier ist, sondern von einem andern Teil des Reiches in die Weltstadt zog. Der Erdnussverk?ufer stammt aus Schantung; er geh?rt zu meinen Freunden, wie Alles, was von dort kommt. Eines Tages machte er mir einen Besuch und ?berreichte mir seine knabenfusslange, knallrote Visitenkarte, darauf in schwarzer Tuschschrift zu lesen stand: Wang Tung hai. Seit dem Besuch, den ich in seiner Wohnung in der Peking Road erwidert hatte, wurden wir Freunde, ein f?r das Studium soziologischer Verh?ltnisse in China wichtiger Umstand. Ich sprach ?ber Dieses und Jenes mit ihm. So fragte ich ihn gelegentlich auch wie er sich in der Weltstadt Schanghai durchschl?ge. Da erz?hlte er mir, dass er an regenfreien Tagen im Durchschnitt sechs chinesische Pfund gezuckerte Erdn?sse verkaufe. Er bezieht die Erdn?sse von einem Zwischenh?ndler, der sie wieder vom Produzenten in Kiangsu kauft. Die sechs Pfund Erdn?sse kosten ihm, einschliesslich Zuckerung und Einschlagpapier, zwanzig Zent. Der Tagesverdienst betr?gt nach dem Verkauf der sechs Pfund f?nfundvierzig Zent oder zw?lfeinhalb Dollar im Monat. Wenn es regnet, bleibt er zu Hause und trommelt mit den Fingern an die vom Staub erblindeten Fensterscheiben; denn an Regentagen ist der Verdienst so gering, dass er lieber ganz darauf verzichtet. Als durchschnittlichen Monatsgewinn rechnet Freund Wang zehn Dollar; er hat aber in ganz besonders guten Zeiten schon f?nfzehn Dollar verdient. Davon bestreitet er die Kosten f?r seine mit zweieinhalb Dollar im Haushalt veranschlagte Wohnung und sein mit Schantunger Leibgerichten gew?rztes Essen, das die Summe von sechs Dollar nicht ?berschreiten darf. Der Mehrverdienst der guten Monate muss ?ber die schlechten hinweghelfen. Und die machen fast die H?lfte des Jahres aus. Besonders graut es Freund Wang vor der ,,toten Saison", die die Sommermonate umfasst. Denn zu dieser Zeit sind die gezuckerten Erdn?sse am Wenigsten schmackhaft. Deshalb klappt Wang beim Beginn der heissen Zeit den Verkaufstisch zusammen, isst des Morgens den Rest der ihm verbliebenen Zuckern?sse zum Fr?hst?ck und besucht ein halbes Jahr lang die Stadtkundschaft eines Getreidegesch?ftes. Das bringt noch weniger ein, als der Erdnussverkauf, h?lt aber den wackern Schantunger so lange in der Weltstadt ?ber Wasser, bis wieder die Zeit anbricht, wo er seine gezuckerte Ware verkaufen und, je nachdem, mit den harten Fingern auf den Fensterscheiben trommeln kann, gegen die der unerbittliche, gesch?ftsst?rende Herbstregen schl?gt.
Der Heiratsvertrag.
Vor Kurzem war ich Zeuge einer Verkehrsstockung in der Szechuan Road. Das ist an sich kein sonderliches Erlebnis. Sonderlich genug war aber die Ursache, die zu der Verkehrsstockung f?hrte. Halblinks von mir ging ein alter, beh?big-vornehm gekleideter Chinese; es war eine typisch chinesische Erscheinung vom Zopf bis zur Sohle. Die Gestalt erinnerte an einen biedern Provinzonkel, der sich einmal Schanghai ,,ansehen" wollte. Die muntere Art, mit der er seine Aeuglein ?ber das Grossstadtgetriebe spielen liess, zeigte, dass er sich an all dem Neuen, das rings um ihn herandr?ngte, erg?tzte. Das Spielen seiner Gesichtsmuskeln liess einen Schluss in Das zu, wie er seine Eindr?cke innerlich verdaute. Bald verzogen sich seine Z?ge zu einem behaglichen L?cheln, bald braute es vorwurfsvoll um Stirn und Augen. Da bleibt der Alte pl?tzlich wie angewurzelt auf der Mitte der Strasse stehen, den Kopf lauernd nach vorn gebogen, die Augen aufgerissen, und hinter ihm staute sich der Verkehr. Rickschas, Automobile, Kutschen und Fussg?nger hielten an, und gar schrecklich bimmelte der ungeduldige Wagenf?hrer der Elektrischen, als sich sein Wagen im Gew?hl verrannte. Der Alte stand immer noch lauernd da, bis ihn schliesslich ein hochst?mmiger rotbeturbanter indischer Schutzmann zur Seite schob und dem angestauten Verkehr freie Bahn schaffte. Der alte Chinese setzte wie eine vom R?derwerk aufgezogene Puppe seinen Gang fort, die Augen immer unverwandt nach vorn gerichtet. Ich ging unauff?llig neben ihm her und versuchte mit meinen Augen das Ziel seiner Blicke zu ergr?nden. Endlich fand ich es. Es war eine tannenschlanke Chinesin der besseren Gesellschaftskreise; sie trug eine gr?ne Wollm?tze und eilte mit ihren lackierten Ledersch?hchen ?ber den Asphalt, den langen Rock mit der linken Hand ein wenig kn?chelfrei hochsch?rzend.
Der Alte beschleunigte seinen Schritt und ging immer hinter her, immer hinterher... Mir fiel dabei eine wahre Geschichte ein, in der ein alter Chinese und eine ,,moderne" Chinesin eine Heldenrolle spielten, und die fast genau so anfing wie die, die zu der Verkehrsstockung Anlass gegeben hatte. Im winterlich eisbestarrten Herzen des alten ,,konservativen" Tsai, eines B?cherlesers, wurde es noch einmal Fr?hling. Es begann zu sprossen wie einst im Mai. Eine keck gekleidete, jugendliche Landsm?nnin hatte es ihm angetan. Seitdem er Fr?ulein Edelstein an jenem Abend gesehen hatte, wo sie als begeisterte Agitatorin f?r das Frauenstimmrecht den M?nnern den Krieg erkl?rte, musste Tsai kapitulieren. ,,Du gleichst der Sonne am klaren Winterhimmel. Aus deinen Augen leuchtet der lautere Quell des Herzens. Deine Stimme ist so s?ss, wie die einer Nachtigall im vom Abendwind durchfl?sterten Bambushain. Deine Lippen gleichen hellroten Fr?hkirschen." So himmelte er sie an, verbrach Gedichte und suchte in alten Klassikern nach sinnreichen Stellen, die seinem Liebesgestammel den Schein tiefgr?ndiger Gelehrsamkeit geben sollten. Die Angebetete blieb hart. Sie sah ihn mit kalten Augen an und sagte rauh, dass sie sich mehr f?r Politik als f?r die Ehe interessiere. Dadurch immer mehr angestachelt, nahm er den letzten Anlauf. Und er gelang. Tsai f?hrte die Heissumk?mpfte heim. Er eroberte die Sonne, deren Licht ihm die Augen verblendet hatte. Vorher machten Beide einen Heiratskontrakt, darin zu lesen stand: ,,Der Unterzeichnete f?hrt Fr?ulein Edelstein als seine Frau heim. Er ist damit einverstanden, dass sie, als seine rechtm?ssige Gattin 352 Tage im Jahre zu Zwecken der Agitation f?r das Frauenstimmrecht alle Pl?tze des Reichs bereisen darf. Die unterzeichnete Gattin verpflichtet sich, w?hrend des Neujahrsfest nach Schanghai zur?ckzukehren; sie braucht jedoch den Aufenthalt nicht ?ber acht Tage auszudehnen."
Der Schauspieler.
Mehr als ein Dutzend Male habe ich den ber?hmten Schauspieler Wu Tschan djiao auf der B?hne des Theaters Hsin wu tai gesehen, viertausend Zuh?rer mit seiner melodischen Nordsprache und seinem eindrucksvollen Mienenspiel im Bann haltend. Unvergleichlich war er in dem klassischen St?ck: ,,Die lachende Kaiserin" als Staatsminister Sze Lang oder in dem St?ck ,,Tsie Tsien", das in die Zeit der ,,Drei Reiche" versetzt. Die ganze Skala feinsinnigster bis zur berstenden Leidenschaft ausartender Gem?tsbewegungen beherrschte er. In klassischen St?cken atmeten seine Rollen verhaltene Leidenschaft, die nach der alten chinesischen Schauspielkunst in scharf umgrenzte, rhythmische Bewegungen eingeschachtelt werden muss, aber darum nicht weniger eindrucksvoll ist. Dem westl?ndischen Empfinden und F?hlen kam Wu in den modernen politischen St?cken am N?chsten. Da durfte er k?hn alle, die innere Leidenschaft hemmenden Banden von sich streifen, da durfte er, frei von konventionellen Zunft?berlieferungen toben, schreien, begeistern, ?berzeugen, und ganz in seiner Rolle aufgehen, wimmern und schluchzen wie ein Kind. In solchen Augenblicken stand nicht mehr ein Schauspieler auf der B?hne, sondern ein Volksredner, der den Instinkt der Masse auszunutzen versteht; dann wurde das Theater zu einem politischen Versammlungsort, von mitgerissenen Zuh?rern geworfen, prasselten Armspangen und harte Dollar auf die B?hne. Wer Wu Tschan djiao als Verschw?rer Sun Wu in dem Revolutionsst?ck ,,Li Y?an hung" gesehen hat, wird ihn nicht so leicht vergessen. Wu Tschan djiao war aber eine Kampfnatur. Die B?hne wurde ihm zu eng, und er suchte sich ein anderes Feld. Sein Streben ging h?her. Nicht mehr auf viertausend Zuh?rer wollte er wirken, sondern auf vierhundert Millionen, die -- wie er meint -- mehr oder weniger nichts Anderes als Zuschauer der grossen politischen Tragikom?die sind, an der unfreiwillig das gesamte chinesische Beamtenheer, die fremden Gesandten und der unter der Steuerschraube seufzende Bauer und Hunderttausende von Statisten mitwirken. Vor diese vierhundert Millionen ist vor Kurzem der Schauspieler Wu Tschan djian hingetreten und hat gerufen: ,,Achtet auf die gefr?ssigen Russen. Sie wollen den Zusammenbruch Chinas. Sie wollen Euch, meine heissgeliebten Br?der, zu Sklaven machen. Achtet auf den ,,lebenden Buddha", der im Solde Russlands steht!" Und die Augen der vierhundert Millionen Zuschauer sind seit dem auf Wu gerichtet; die chinesischen Zeitungen berichten getreulich ?ber Alles, was er tut. Und die Neuigkeitsucher machten sogar nicht vor Wu Tschan djiaos Privatwohnung Halt. Dort spielte sich eine eindrucksvolle Szene ab. Wu rief seine beiden Frauen und sprach: ,,Von heute ab z?hle ich nicht mehr zu den j?ngeren Br?dern des Pfirsichgartens. Jetzt bin ich General. Ich muss in den Kampf nach der Mongolei. Das Vaterland ruft." Da brachen die beiden Frauen in herzbrechendes Weinen aus. Sie sahen den K?rper des geliebten Mannes von mongolischen Aufst?ndischen zerfleischt, zerrissen und die Knochen auf gelbem W?stensand bleichen, und zogen an Arm und Rock, damit er nicht von ihnen gehe. Wu Tschan djiao riss sich los und griff nach dem Abschiedstrank und sprach, fest mit strengen Augen seine Frauen anblickend: ,,Ich gehe." Die Frauen trockneten ihre Tr?nen, und sie h?rten gefasst auf die Anordnungen des Mannes. Der ?ltern Frau vertraute er die Erziehung des kleinen Ahing an; er m?sse fleissig lernen, um sp?ter ein t?chtiger Mensch zu werden. Die j?ngere, die ihn sparsam d?nkte, erhielt die Verwaltung des Verm?gens. Jetzt ist Wu Tschan djiao schon im Norden und eifrig dabei, die S?ldnerzahl um sich zu scharen, die seine Stellung als General rechtfertigen soll. Das schlecht bezahlte Schauspielervolk Chinas, besonders die, die m?de sind, den Thespiskarren weiter durch den Schlamm zu ziehen, eilen zu den Fahnen Wu Tschan djiaos. So ist es den Erfolglosen, den Vielzuvielen, denen mit dem Schauspieler Wu Tschan djiao zu spielen verwehrt war, vielleicht noch verg?nnt, unter dem General Wu Tschan djiao zu k?mpfen. Hei, das wird ein heisses Streiten auf der mongolischen Steppe! Schulter an Schulter k?mpfen dann die alten Heldengestalten, Tsao Tsao, Tschang Fe, Liu Pei, Kung Ming, wie sie Alle heissen, gegen den gemeinsamen Feind. Weh dir, Hutuktu!
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