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Read Ebook: Die Mutter: Blätter aus dunklen Tagen by Alsen Gutti

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Ebook has 363 lines and 24221 words, and 8 pages

Die Mutter

Bl?tter aus dunklen Tagen von Gutti Alsen

Im Wir Verlag ? Berlin NW 87

Dem Andenken meiner Eltern!

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1918.

Wie seltsam dies alles war am Tage, der dieser Nacht voraufging! Und wie es mir jetzt, da ich den verfallenden Stimmen nachlausche, als ein gleichgestimmter Klang erscheint! Gell, schneidend, aufr?hrend! In blanker Fr?he die Nachricht vom Ausbruch der Revolution. Tags?ber der schreiende Regensturm in den gekr?mmten Gassen der alten Seestadt. Am wundgepeitschten Abend die Auff?hrung des gewaltt?tigen St?ckes, dem die Menge zum Schluss wie in Besessenheit Beifall kreischte. Und endlich der Rausch der drei J?nglinge neben mir beim Heimweg im wehen Abendnovember!

Oft, im schleichenden Gehen der langen, unendlichen Jahre des Krieges hatte ich in Gedanke und Rede dem Wunsche Ausdruck gegeben, sie m?gen ein Ende machen, die Soldaten aller L?nder. Unpolitischer als ein halbw?chsiger Knabe, hatte ich mit diesem Anruf einer fremden Macht gespielt, wie ein geschlagenes Kind etwa, das, um straffrei zu bleiben, Kaiser zu werden bittet. Nun meiner Bitte Gew?hrung geschah, stehe ich diesem Zustand genau so ver?ngstet, genau so hilflos gegen?ber wie das Kind, dem kaiserliche Gewalt verliehen w?re.

Das also ist das Gesicht der Revolution am ersten Tage ihrer Geburt! Elf Mann, deren Namen unerforschbar blieben, hatten in vergangener Nacht die Herrschaft der Handelsstadt an sich genommen, kampflos, mit einer grossartigen Selbstverst?ndlichkeit. Die tags zuvor noch Gebieter des Volkes geheissen, waren zu Hunderten hingem?ht, wie hohe Halme von einem einzigen Sichelschlag. Durch die nassen windigen Gassen aber brodelten den ganzen Tag die St?rze der Volksmassen, oder sie stauten sich an einem Platze um irgendeinen Redner, dessen Worte am Sturm zerbrachen. J?nglinge mit brennenden Augen und grossen Geb?rden gaben Freudenschreie in den Tumult. Flieger besch?tteten die Menge in knappen Zwischenr?umen mit weissen Bl?ttern voll flammender ?berschriften. Autos mit brandroten, klatschenden Fahnen trugen in toller Fahrt halbw?chsige Burschen an irgendein geheimnisschwangeres Ziel.

Ich aber strich mit schweren Gliedern und mattem Herzschlag an den H?usern hin, die hinter dieser Emp?rung der Menschen und der Elemente d?sterten, und sah junge, blutstrotzende Offiziere erbleichen, weil ihnen l?rmende Buben in aufsehenerregender Art die Zeichen ihre Standes abrissen und mit dem Strassenschmutz mengten. Ich sah einen weisshaarigen, hohen Milit?rsmann, mit Tr?nen auf den Wangen und gespreizten Fingern um die Verg?nstigung betteln, seine Entehrung in einem Hausflur vornehmen zu d?rfen ... mit eigenen H?nden. >>Ich habe sie fast f?nfzig Jahre getragen<<, stammelte sein verblasster Mund, w?hrend die gekrampften H?nde sich zu den Achselklappen und der Kokarde zu heben m?hten und sein ganzes blutentleertes Gesicht in Schmach und Schwachheit zuckte. Und -- o Wandelbarkeit der menschlichen Empfindungswelt -- mein Gef?hl, das sich bislang gegen dieses mittelalterliche Bleibsel gerichtet hatte, flog ihnen heute, als den Getretenen, in warmer Wallung zu.

Da wandte ich mich von der Stadt ab und von dieser Erhebung des Volkes, die neue Gewaltsamkeit an Stelle der alten setzte, und strebte unter den breiter fallenden gelben Regeng?ssen meinem Heim entgegen, vorbei an kr?ppligen Weidenb?umen, die auf schwarze Felder starrten, vorbei an gr?nlich aufglimmenden, tr?nen?berst?rzten Fenstern, heim zu meiner stillen Arbeitsstube, mit meinen angefangenen Zeichnungen, mit den alten, vielgelesenen B?chern und den wundersamen Schattengebilden einer zerwehten Zeit, die doch die Gegenwart auszuwischen vermochten.

Vor der Gartent?r harrten bereits, bebend in ungeb?rdiger Erwartung, die drei Freunde: meine S?hne Ludwig und Henno und ihr Jugendgenosse Kurt Georg. >>Wie, hatte ich dies denn vergessen k?nnen, dass heute die so schmerzvoll ersehnte Auff?hrung des aufw?hlenden jungen Dramas vor sich gehen sollte, das der Familie Revolution ansagt? ...<< st?rmten sie mir entgegen. >>Und war es nicht das bedeutsame Zeichen einer herrlichen Zukunft, dass diese Tat am ersten Tage der Volksauflehnung geschah? Hoch, dreimal hoch der jungen Republik und allen Umst?rzen in ihrem Gefolge! In die Abfallgrube mit vermoderten Vorurteilen und mit allen Tyrannengesetzen!<<

Es blieb mir nur knappe Frist, mich umzukleiden und die Taxe zu besteigen, welche die drei fiebernden Gef?hrten inzwischen aufgetrieben hatten. Dann liess ich, von den J?nglingen durch lange Reihen geschieden, das brutale Werk des genialen jungen Dichters allein zu mir sprechen. Ich stand in versch?chtertem Staunen der Raserei des Publikums gegen?ber. Ich h?rte die Begeisterungsst?rme der drei Knaben beim Heimweg den Wintersturm in den n?chtigen Gassen noch ?berschreien und suchte im ged?mpften Schein meines Zimmers mit List und mit Bem?hen den heutigen Tag meinem Sein, meiner Denkwelt einzuordnen ... Vergebens ...

Durch alle geschlossenen T?ren, ?ber einen Gang hinweg, h?rte ich sie die halbe Nacht hindurch toasten, jubeln, singen und deklamieren, die drei Getreuen, denen diese Zeit Anfang des Lebens ist. Denn was stand f?r sie an Verstandenem, an Erlittenem, an Erlebnis vor diesem Tage? Nichts als der Krieg, den sie als Kinder feiernd begr?sst und den sie dann aus B?chern und Schriften der >>J?ngsten<< verachten gelernt hatten, ohne eigenes Durchdenken der einen und der anderen Richtung ...

Draussen gab sich der Sturm in Schrecken an die tr?bselige Nacht hin. Ich sehnte eine alte Sehns?chtigkeit, ein Bild, ein Erinnern, einen Traum herbei, irgend etwas, um fl?chtend diese Jahre der Not und Schwere abzusperren. Ich beschwor eine funkelnde Friedensstadt, einen winterblauen Morgenaufgang im Eisenbahnwagen ?ber Schneeland, eine s?sse Strasse im Regenglanz, einen fernen Freund ... Umsonst ... Sie l?schten hin, wie dem Andersenschen M?dchen die Bilder vor den verflackenden Schwefelh?lzern, sobald mein verlangender Sinn sie greifen, sie halten wollte.

Ich trug meine m?de Traurigkeit zu den jugendberauschten Knaben. Sie achteten meines Eintritts kaum. Purpur auf den Wangen und Ersch?tterung in der Stimme, die nichts von der sonst gewollten Gelassenheit des Studenten der Philosophie hatte, rezitierte Ludwig im Tonfall des heutigen Sohndarstellers:

Henno, der Achtzehnj?hrige, riss in Gier nach dem Buche, griff die Bl?tter hin und her und schrie, w?hrend seine H?nde auf und ab flatterten, diese Stelle:

>>Es gibt doch Freude -- etwas, was golden an die Firmamente rollt -- weshalb war ich verstossen von allen wie ein Mensch mit der Pest? Weshalb muss ich weinen, wenn ein armer Affe im Zirkus aus einer k?nstlichen Tasse trinkt? Ich kenne die Qual der unfreien, der friedlosen Kreatur. Das ist gegen Gott! Du hast mir die Kleider verboten und mir die Haare geschoren, wenn ich aus gl?hender Eitelkeit sie anders wollte als du ... Soll ich noch weiter in diesem Schlunde w?hlen, wo doch an tausend Zacken mein Fleisch klebt! ...<<

Kurt-Georg hatte die Arme emporgeworfen wie in Freuden?berschwang. Dann pl?tzlich deckte er mit ungest?men H?nden sein hageres Gesicht.

Jetzt erst schien ihnen meine Gegenwart Bewusstsein zu werden. Und dieser Umstand gebar eine tiefe Stummheit. Ich riss die Stille entzwei und sagte etwas ?ber das kranke Pathos dieser zerqu?lten Jugend. Sie aber wiesen mich alle drei mit erstarrenden Blicken zur?ck. Und als ich weitersprechen wollte, bedeutete Ludwig mich hochgestreckten Gesichts, dass die Berechtigung dieses gegen alle V?ter aufrufenden St?ckes uner?rterbar sei, und dass dieser urmoderne Konflikt dem fr?heren Geschlecht immer fern und unsympathisch sein m?sse.

Ich wies auf den Sonderfall hin, den der Dichter zum Anhalt seines St?ckes genommen hatte. Denn wem von ihnen und all ihren Schul- und Studiengenossen sei eine ?hnlich lichtarme Jugend gegeben, wer von ihren Gef?hrten sei mit der Reitpeitsche gezogen worden? Ich zeigte ihnen das ?bertriebene, die Krassheiten des Schauspiels. Sie antworteten nicht mehr. Aber ihre jungen Lippen alterten unter einem L?cheln, das Abweisung und mitleidige Nachsicht sagte. Und wie mein bedr?cktes Gef?hl mich schweigen machte, hatten sie mich im Augenblick vergessen und der Strom ihrer Begeisterung tr?mmerte von neuem gegen die D?mme des stillen Nachthauses.

Ich schlich mit meiner dunklen Not in mein Zimmer heim und schmiegte mich in seine sachte Umarmung. Das Licht unter der verhangenen Lampe bl?hte hyazinthblau. Im breiten, unmodischen Kachelofen geigten die Winde. Aus den gl?sernen T?ren der B?cherschr?nke neigten sich in Vertrautheit die alten Freunde. Von Brettern, Tischen, aus ge?ffneten Mappen winkten meine Zeichnungen mir zu: >>Hast du uns denn vergessen und des Heimlichkeitsgl?ckes unserer Erschaffung?<<

Ich griff in Verlangen nach einem Gedichtband, der tausend s?sse Wunder aufzuschliessen wusste. Ich nahm ein tr?umerisches Pastell hoch. Mein Gef?hl und Verstehen blieb ihnen so fern wie dem Philister der Zauber einer Reisenacht. Ich ging zum Fenster, das ein St?ck finsteren Gartens umgriff. Der Sturm schlug die B?ume, dass sie sich in Schmerzen kr?mmten und verbogen. Er verkn?uelte schwarzes Gew?lk und zerzerrte es, bis es in Fetzen auseinanderfiel. Dahinter wieder nichts als geh?ufte, d?stere Wolkengebilde. Eine einzige, im Winde tr?nende Laterne warf ihr Licht auf das schwergraue Bild. Angezechte Burschen schoben sich vor?ber. Ihrem heiseren Gejohle paarte sich das Aufkr?chzen der Raben.

Der Sturm br?llte immer lauter. Immer gebieterischer ward sein Tun, bis alles ihm in Trotz oder Schw?che untertan blieb. Hin und her meldete die Stutzuhr von meinem Schreibtisch, dass wieder eine Stunde hingewelkt sei. In Zwischenr?umen h?rte ich die Knaben Verse hersagen und singen. Es war keine M?digkeit in mir diese Nacht. Mit unabweisbarer Macht stieg der ersch?tternde Gedanke in mir, dass der verflossene Tag einen tiefen Einschnitt in mein Leben getan hatte, eine tiefere Kerbe, als alle bisherigen. Wie hiess das Neue, das von meinem Dasein Besitz ergreifen wollte? Und mit welchem Antlitz w?rde es mich anschauen?

Ich fr?stelte ob dieser Ungewissheit. Und w?hrend die Winde die Mauern meines Hauses umpfiffen und verdorrte Zweige ?ber die Garteng?nge peitschten, w?hrend meine Kinder der Geburt einer neuen Welt entgegenjubelten, z?ndete ich meine Schreibtischlampe an und schrieb die Eindr?cke dieses Tages in diese Bl?tter ein.

Den 15. November 1918.

Es war so grosses Heimweh in mir in diesen vergangenen f?nf Tagen, Heimweh nach Einsamkeit, die so oft ihr Lied in meinem Zimmer gesungen hatte, und deren Weise meinem Ohr seit jener Nacht zerfallen war. Wie konnte es anders sein? Einst gab der Ton einer traurigen Kirchenglocke diesem l?ndlichen Vorort Hintergrund f?r Sinnen und Dichten. Nun sind die L?fte vom Gepfeif und Gesurr unz?hliger Flugzeuge zerschnitten. Und ein Bl?tterfall aller Farben und Gr?ssen schreit den Fussg?ngern unaufh?rlich Verordnungen, Verbote, Aufhebung von Satzungen und Br?uchen, Gesetze zur Sicherung der B?rger ins Gesicht.

Der dicke Regen rinnt seit Tagen nicht mehr. Die Winde sind gelinder geworden. Aber ihr Todeskampf geht in langw?hrenden Schluchzern durch bange Stunden. Und an den Strassenbeugen hebt sich der Staub in klirrendem Gekreisel.

Tags?ber schwillt ein Durcheinander von l?rmenden, hastenden, bek?mmerten und neugierigen Menschen in Strassen und Gassen der Innenstadt an. Der Abend aber schleicht in schwarzen Schauern durch die Stollen der menschenbaren Grossstadtzeilen, als habe eine ausserirdische Stimme alle Lebewesen fortgehetzt aus diesem lichtlos-gespenstischen H?userhaufen. Denn alle Verf?gungen und Gewaltregeln haben die durch langen Krieg verrohten Instinkte nicht niederzuhalten vermocht. Es hockt Gefahr in den tagtoten Gassen.

Bekannte und Unbekannte dr?ngen sich in Ruhelosigkeit aneinander, ungewiss vor der n?chsten Stunde. Erhofft ein jeder in seinem Unterbewusstsein Erl?sung durch ein Wort, das ?ber allen Irrwahn hinaustr?gt?

Auch zu unserem winzigen H?uschen in der herbstkahlen Vorstadt kamen sie gepilgert: lange Vernachl?ssigte, zuf?llige Gef?hrten irgendeiner bedachtsamen Stunde, Fernstehende und Freunde. Ihnen wie allen wurden diese aufr?ttelnden Tage Br?cke zu Bekenntnissen, lange verdr?ngten ?usserungen von Furcht oder Freudigkeit.

Am Tage, der jener durchschw?rmten Nacht folgte, war Kurt-Georg mit einem Packen B?cher und einem K?fferchen W?sche aus der Stadt herausgekommen. Die Gemeinsamkeiten ihrer Ekstasen hatten die Knaben so aneinandergeschweisst, dass sie sich nicht einmal abends zu trennen gedachten. Der weite Weg durch die im Finster erstarrende Stadt, das Versagen der Strassenbahn, die Unsicherheit der Abendstrecken, all dieses h?tte ihnen sonst das Gl?ck des Beieinanderseins verriegelt.

Fast jeden Tag hatten sie seither da gesessen, unter dem gr?nen, bleichenden Licht der Studienlampe. Zuweilen war ich hin?bergegangen, um sie zu uns ins Besuchszimmer zu bitten, wenn einer der G?ste das Dunkle dieser Novemberabende durch die Helle ihrer Jugend zu erlichten hoffte. Aber da war selten einer von ihnen, der solcher Bitte Gew?hrung gab. Und wenn es geschah, so war es f?r eine knappe Viertelstunde, dass sein K?rper sich von der Schar l?ste, w?hrend Gedanke und Herz im Kreise der anderen weiterbl?hten.

Denn der Rausch der drei Knaben hatte sich auch ins Blut der drei M?dchen gegossen, seit sie dort Tag um Tag die Verz?ckungen des ?berreizten Aufbegehrers nachf?hlen und mitleben mussten. Die Besetzung war als feststehend beibehalten. Den Sohn las: Ludwig. Den Freund: Henno. Das Fr?ulein: Ellinor Babinski. Die Dirne: Lilli von Groddeck. Kurt-Georg und seine Cousine Annemarie teilten sich, vertr?glicher als beim Theater, in die ?brigen Rollen.

Wenn ich mich dem Zimmer ihrer Versammlung nahte, wenn ich zu ihnen trat, immer blieb mir Furcht vor dem Ineinanderschmelzen von Dichtung und Wirklichkeit, zu dem dieses St?ck die sechs jungen Menschen emporgerissen hatte. Einmal, beim Eintreten, enttropften dem verbleichten Munde Kurt-Georgs die blutenden Worte: >>Er nimmt die Marter unser aller Kindheit auf sich ...<< D?ster und langsam fiel Hennos Antwort: >>Ach, er redet wahr! ...<< Und verh?ngnisgleich sank Kurt-Georgs Geklage: >>Er sagt, dass wir alle gelitten haben unter unseren V?tern -- in Kellern und in Speichern -- vom Selbstmord und von der Verzweiflung ...<<

Und wie sie meiner ansichtig wurden, flohen, wie am ersten Revolutionstage, ihre Mienen und ihre Haltung hinter eine Schanze zur?ck. Und deutlich lesbar feindeten mich die Augen meiner S?hne an: >>Was kommst du so taktlos unsere Entz?ckung t?ten, du, eine des einstigen, des gewesenen Menschenalters?<<

Ich stammelte eine Entschuldigung, die der St?rung galt und nahm, halb in Gedanken, einen ?berz?hligen Dramenband -- Annemarie war heute am Kommen verhindert -- mit in mein Zimmer.

Ich schlug den letzten Auftritt nach. Mir blieb wie im Theater Verwirrung und Abkehr vor so kreischendem Aufruhr. Wie will derselbe Dichter, der gebietet: >>Klammre dich hinauf an den Gedanken -- zu der Frage h?chster Menschlichkeit,<< seine Forderung erhalten sehen, wenn er das Gesch?pf seines Geistes den Revolver auf den Vater richten heisst?

Ich wandte das Buch und las es bed?chtig vom Anfang bis zum letzten Wort und fand so die ?berraschung, dass der Verfasser -- wie jeder wahre Dichter -- vielerlei darin gesagt hatte, dass er mich mit manchem schmelzenden Wort gekost, mich mit leuchtenden Bildern gefangengehalten hatte. Verbl?ffend bl?hen an seinem Baum des Hasses und der Emp?rung so zarte Bl?ten auf: >>Sp?ter werden Sie erfahren, wie schwer es ist, einen anderen zu lieben. Heute kennen Sie keinen als sich.<< Und solche Weisheit k?ndet der neunzehnj?hrige Dichtersohn: >>Wie kannst du ein Wort auf der Zunge bewegen und sagen: So ist es! Siehst du nicht st?ndlich den Tod in den Baracken und weisst nicht, dass alles anders ist in der Welt!<< Und dann sagt einmal, auch ein Vater, der Kommissar: >>Und wenn mein Sohn mir tausendfach unrecht tut -- ich bin doch sein Vater! Soll er andere mehr lieben als mich? Wir V?ter m?ssen erst unsere S?hne erringen, ehe wir wissen, was sie sind.<<

Das Buch glitt vom Tische. Ich hielt es im Hinfallen bei einer Seite. Es war das Deckblatt und f?hlte sich dicker an als die anderen. Und wie meine Finger es abtasteten, klaffte ein Spalt. Mein Messer trennte die zwei aneinandergeklebten Seiten. Da sah ich, dass kein Zufall sie verbunden hatte, denn die Steilschrift Annemarie Gr?nhagens k?ndete:

>>Wir sechs Unterzeichnete geloben, gegen alle Tyrannen, so hoch sie anderen und so nahe sie uns stehen m?gen, unerbittlichen Kampf zu f?hren, getreu dem Geiste dieses herrlichen Aufrufs!<<

Den 12. November 1918.

Alle sechs Teilnehmer der Lesenachmittage hatten ihre Unterschrift hingesetzt.

Ich holte meinen Wettermantel und durchquerte lange den schw?rzlichen Garten, der immer leiser und immer verlassener in den Winter wuchs.

Den 22. November 1918.

Ich gr?ble in den sinkenden Nachmittag und finde kein Asyl f?r meine wirrenden Gedanken. Schon die ganze verflossene Woche lang. Kein Buch, kein Weg in die Stadt, keine Unterhaltung vermochte sie zu einem anderen Ziel zu bringen. Durch die dunklen Gassen meiner Ratlosigkeit st?rzen sich ?ngste und b?se Gesichte mir entgegen. Immer finsterer umfliessen mich meine B?ngnisse. Wie soll ich es beginnen, meinen S?hnen von meiner Entdeckung zu sprechen? Woher die Beweise holen, dass ihre st?rmende Jugend, unfertig genug, den Kern des Buches, das ?berhitzt Symbolische allzu w?rtlich genommen hat?

Und wenn ich's t?te ... h?tte ich etwas anderes zu erwarten als das sp?ttische oder hochfahrende Schweigen wie auf meine ersten Versuche? Kommt dieser Anfang des Umsturzes ihnen doch ohnehin allzusehr zu Hilfe! In einer der st?dtischen Schulen hat ein F?nfzehnj?hriger vom Katheder in brennenden Worten zum Krieg gegen alle Lehrer gerufen, die die >>Genossen<< von Tertia und Sekunda bisher zu Unrecht gepeinigt haben. Aufs?tze und Artikel schreien nach L?sung der Kinder von elterlicher Gewalt. Und das in einer Epoche, die man mit vollster Berechtigung das Zeitalter des Kindes hiess! Ich m?he mich, mit Ausschalten jeder Sentimentalit?t dem Leben und Heranwachsen des durchschnittlichen Kindes bei Durchschnittseltern nachzugehen, und finde fast ?berall das Gebot des Kommissars erf?llt: seinem Kinde zu dienen. Ich dringe endlich in das Familienleben der jungen Verblendeten ein, die jenen verh?ngnisschwangeren Schwur geschrieben haben. Was konnte, was durfte sie dahin f?hren?

Fern der Stadt, in einem hellen Hause, das alter Garten umbirgt, geschah das Lebenwerden und Erwachsen der wunderzarten Ellinor. Als einziges Kind des namhaften Schriftstellers Ludolf Babinski und seiner Gattin, der einstigen Lieders?ngerin Sabine, deren Freundschaft mich aus Kindesreich bis in diese Tage nicht verlassen, nicht get?uscht hat. Wie eine nie verl?schende Kirchenleuchte war die heilige Flamme dieser Elternliebe um das weisse Wunder des jungen Kindes. Der Garten, Gedichte und Lieder blieben lange sein st?rkstes Bewusstsein. Im zw?lften Jahre geschah ihm der erste Schmerz: der Vater musste fort, in den Krieg. Nur einmal noch durften die drei vor?bergehend geeint sein: nach einer Verwundung. Dann, im letzten Jahre, geriet er in franz?sische Gefangenschaft, die ihn bis heute in Verbannung schloss. Sabines Gang und Augen waren alt geworden von Trennung. Dem sechzehnj?hrigen M?dchen aber war v?terliches Dasein nur mehr ein Federstrich auf Papier.

Welches Gegenspiel im Hause, darin Lilli von Groddeck herangewachsen war. Vater und Mutter, Abk?mmlinge von preussisch strengen Beamten, nun selbst in verantwortlich hoher Beamtenstellung. Sechs Kinder machten trotz knapper Haushaltungsmittel Tage und Stuben heiter. Und doch trug Lilli, die ?lteste, in hellen Augen seltsame Neugier nach einem Dasein, das sich farbensatt vom Profil dieses grauen Pflichtweges abheben mochte. Ihr wundroter Mund lachte breit ?ber aufdringend leuchtenden Z?hnen. Ihre B?ste stemmte sich in Keckheit gegen jede Bekleidung. Sie ging, nach Beendigung der Schule, ein Jahr schon, geregelter Besch?ftigung bar, dem lange vertretenen Geleise der einstigen h?heren Tochter nach.

Traurig stand Annemaries Erscheinung zu der kostbaren Feinheit Ellinors und Lillis greller Jugend, die jedermann zulachte. Ihr konnte ich Bitternis gegen Zufall oder Geschick zugestehen, keineswegs aber Zorn und Aufstand gegen die, welche ihr Sein so hutsam schirmten und es mit so kostbarem Rahmen umschm?ckten: den Grossindustriellen Gr?nhagen und seine aus jeder Gesellschaft strahlende Frau. Wie ein Protest gegen die Vererbungstheorie schritt die kleine Tochter mit den unjungen, garstigen Z?gen und dem sp?rlichen Haar neben der Schmalheit der hochgegliederten Mutter, die in Gesicht und Geb?rden die volle Lieblichkeit der Jugend trug. Das befremdende Vergleichen bei jeder neuen Bekanntschaft konnte dem jungen M?dchen wohl schamvolle Pein sein. Die Eltern aber, Vater und Mutter, beteten zu diesem Kinde. Was liebende Voraussicht, durchl?uterter Geschmack und Wohlstand zusammenzutragen wussten, h?uften sie um diese Tochter in der plumpen H?lle. Ein Guthaben bei der Bank erm?glichte ihr Erf?llung aller W?nsche, die dem Wissen der Eltern fern und leise bleiben sollten. Und w?hrend das M?dchen, in Verbitterung und Auflehnung, kein Wort f?r so grosse Liebe fand, war der Mutter ganzes Denken: ihr Ausgleich zu geben f?r das Missgeschick ihres K?rpers.

Auch Annemaries Vetter, Kurt-Georg Regensburg, litt an seiner zu sch?nen Mutter. Sein Leid aber blieb kleinlichen Gef?hlen fremd. Es glich dem hassnahen Schmerz des ungl?cklich Liebenden, den die Liebste aus hellem Festschein einer starken Vereinung in das dunkle Grausen des Immer-allein-Seins gestossen hatte. In die Zeit seines J?nglingwerdens, in sein f?nfzehntes Lebensjahr, da ?bererregte Wallungen seiner Liebe zu der sch?nen Mutter Krankhaftes liehen, fiel ihre Flucht aus dem v?terlichen Heim. Immer hatte er es gef?hlt, dass die vielen jungen Herren in seinem Elternhause nur die Mutter suchen kamen. Das pl?tzliche Wissen seines Verlassenseins schlug ihn in Finsternis und Krankheit. Im Nebenzimmer klagte der Vater in wehen Lauten. Und Kurt-Georg tat sich den feierlichen Eid, ihn und sich zu r?chen. Es war noch kein halbes Jahr sp?ter, dass der Vater der so Verlorenen eine Nachfolgerin gab. Der Knabe entband sich selbst seines Schwurs und siedelte, mannhaft seinen unersch?tterbaren Entschluss vertretend, zu einer Schwester seines Vaters ?ber. Er verachtete das Weib, die Ehe, die Menschheit mit knappen Ausnahmen. Und sein junges Knabengesicht mit der hellen Stirn wurde von zwei messerspitzen Linien zu seiten der Mundecken gefurcht.

Sicherlich, er war der einzige der sechs Verschw?rer, dem Verst?ndnis f?r Missachtung und Rachegef?hl gegen Eltern werden konnte, ?usserlich gesehen und solange man seine jungen Jahre und das alte Mal seiner Wunden ansah. W?rde der welterfahrene Kurt-Georg nach zehn, nach zwanzig Jahren nicht in anderm Gef?hl richten? Der Vater ein alternder, immer n?rgelnder, immer siecher Mann. Die Mutter sch?n, jung, gewissensschwach und denkarm, daf?r ?bervoll an Blut und Genussf?higkeit. Nicht alle Frauen sind M?rtyrerin genug, ihr eigenes junges Dasein dem Ableger ihres K?rpers als Opfer zu geben.

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