Read Ebook: Die Mutter: Blätter aus dunklen Tagen by Alsen Gutti
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Ebook has 363 lines and 24221 words, and 8 pages
Sicherlich, er war der einzige der sechs Verschw?rer, dem Verst?ndnis f?r Missachtung und Rachegef?hl gegen Eltern werden konnte, ?usserlich gesehen und solange man seine jungen Jahre und das alte Mal seiner Wunden ansah. W?rde der welterfahrene Kurt-Georg nach zehn, nach zwanzig Jahren nicht in anderm Gef?hl richten? Der Vater ein alternder, immer n?rgelnder, immer siecher Mann. Die Mutter sch?n, jung, gewissensschwach und denkarm, daf?r ?bervoll an Blut und Genussf?higkeit. Nicht alle Frauen sind M?rtyrerin genug, ihr eigenes junges Dasein dem Ableger ihres K?rpers als Opfer zu geben.
Was wird der junge Knabe an Leben erraffen und durchdulden m?ssen, um dieser Erkenntnis nahezukommen?
Den 2. Dezember 1918.
Die Tragik des jungen Lebens Kurt-Georg hatte mich mit so harten Griffen gepackt, dass ein Weiterschreiben mir lange Tage Unm?glichkeit blieb. Gedanken, Fragen, Antworten und Widerreden ?berst?rzten sich wie Katarakte in meinem Hirn. Begegnete ich in der Zwischenfrist den tiefliegenden Augen des J?nglings, in denen immer ein Weinen stand, so sp?rte ich es als Vorwurf, dass so dunkles, unstillbares Bluten in seinem Herzen war. Das Abbild seiner Mutter blitzte vor mir auf, eine ?berlebensgrosse Erscheinung, in l?sterner K?rperlichkeit, durch z?hen Erdenschmutz watend. Doch sobald die m?de Trauer seiner Augen mir entwichen war, wurde ich in Gedanken zum redefertigen Anwalt der soeben Geschm?hten. Und die rasenden Anklagen der Richter trafen auf meine spitzfindigsten Erwiderungen. Ich lieferte wilde, verzweifelte Verteidigungsschlachten vor einem Parterre von beifallklatschenden Frauen aller St?nde und aller Lebensalter. Wie, das schreiend geforderte Recht auf Ausleben der Pers?nlichkeit, die Freiheit des einzelnen -- und wie die abgegriffenen Schlagworte sonst alle heissen mochten -- es erstreckte sich nur auf M?nner und Kinder? Die Frau aber, die in einem Augenblick junger Unwissenheit, in Unlust, in t?richter Unverantwortlichkeit, oder einfach ihrem Geschlecht folgend, ein Kind empfangen hatte, sollte ihr ganzes Nachleben diesem einen Tage unterordnen? Sollte ein sp?teres Erstarken oder Erwachen ihres Menschentums, ihres Weibseins, sollte die Gewissheit, in einem anderen Manne die Erg?nzung ihres Wesens, die Hut ihres Lebens gefunden zu haben, sollte eine martervolle Leidenschaft jenem Augenblicke opfern?
>>Sophismen,<< h?rte ich den Richter dazwischenzetern, >>tr?gerische Vern?nfteleien! Und das Kind, das uns anvertraute neue Wesen, das kommende Geschlecht -- was wird aus ihm, he ...?<<
>>In unserem Falle hatte die Mutter es vierzehn Jahre geschirmt. Ein Mann werdender Sohn bedarf mehr des Vaters als der Mutter ...,<< sagte meine Stimme. Aber sie schwang d?nn und kleinlaut, denn Kurt-Georgs Augen sahen mich hinter dem R?cken des Anwalts hervor an ...
Da legte ich schamhaft mein Gesicht in meine H?nde und wusste, dass ich nicht um die Sache der geflohenen Mutter gefochten hatte, dass ich mich vor meinem Innern hatte ents?hnen wollen f?r eine nicht geschehene, aber ernst bedachte Tat. Doch nicht lange liess mein Stolz diesen Vergleich bestehen. War ich zu jener Zeit nicht frei gewesen, Herrin meiner selbst, und h?tte ich die vaterlosen Waisen nicht fr?her oder sp?ter, vielleicht sogleich mitgef?hrt in das neuerrichtete Haus?
>>Wo, bitte, ist da der Unterschied?<< plusterte sich pl?tzlich wieder das feiste Gesicht des anklagenden Richters auf, >>wo? Hatte nicht auch Kurt-Georg seinen Vater behalten, und ein frischgegr?ndetes Heim stand ihm freundlichst ge?ffnet? Woher kommt Ihnen die Gewissheit, dass Ludwig und Henno die liebe Gabe eines fremden Herrn Vaters und eines fremdgezimmerten Zuhause aus Ihren sch?nen H?nden entgegengenommen h?tten?<<
>>Warum diese Ver?rgerung, werter Herr?<< h?hnte ich dawider. >>Sie sehen mich als bravstes Musterst?ck einer deutschen Hausfrau und Mutter meine S?hne betreuen. Der ausgepichteste Sherlock-Holmes-Nacheiferer w?rde in meinem entlegenen H?uschen ein beklagenswertes Fiasko machen. Ihre Bedenken, mein wohlw?rdiger Herr, waren ganz die meinen. Wollen Sie mir nun Ihrerseits Klarheit geben f?r die Gr?nde, die meine S?hne zum Aufbegehren trieben? Sahen Sie, Herr Allesbesserweiss, nicht meine Liebe und Sorglichkeit auf jedem ihrer G?nge, von Kindheit an? Ich liess sie allzuoft allein, meinen Sie. Doch nur zeitweise. Und tat ich's nicht, um ihnen mit meiner Kunst zu dienen, da sie, noch nicht schulpflichtig, den Vater durch b?sen Unfall verloren? War ihnen nicht das w?rmste Grosselternhaus Ausgleich f?r der Mutter Abwesendsein? >>Die Kunst selbst, verehrte Dame, gibt sie Ihren Kindern nicht Eifersucht?<< ...
Lange ?berdachte ich auf diesen Einwurf die Ablehnung. Doch nein, Ludwigs Verlangen an das Leben war so machtvoll, so unbek?mpfbar, dass gelegentliche Uneinigkeiten zwischen uns ihren Urgrund nie in Aufwallungen unsachlicher Art hatten. Henno hingegen lebte von einer Ehrfucht besessen, und zudem war jede Kunst ihm, dem hingerissenen Kunstj?nger so ganz Heiligtum, dass mein Beruf -- meine Zeichnungen und die Anerkennung, die ich fand -- mich ihm vielleicht wertvoller machten als mein Muttertum ...
Weshalb nur fehdeten ihre Blicke mich an? Und schwieg ihre Rede vor mir? Weshalb denn legten sie einen Racheeid gegen mein Tyrannentum ab?
Hinter diesen gequ?lten Fragen stand plumpe, dichte Finsterkeit. Nur zuweilen blitzte es lauernd darin auf. Aber sobald ich fest zusehen wollte, sank schwarz und schwer das Dunkel umeinander.
Den 18. Dezember 1918.
Die langen, undurchleuchteten Dezemberabende sind angef?llt mit Geheimnis und huschenden Schattenwesen. Aufgereckt aus angstvollem Nichts, zerstieben sie schw?rzlich in nachtstarre Sch?chte. In alle Teile der kranken, schauerreichen Abendstadt hin: dem Unwissenden ein nichtfassliches Grauen, dem Eingeweihten verzweiflungsvolle Notwendigkeit. Fassliche R?ckwirkung jahrelangen Hungers auf Lust. Die zertretene, vergewaltigte Jugend reisst in Gier die vergifteten Fr?chte vom wildgewachsenen Freudenbaume, der vulkanischer Erde entspross.
Aus allen Stadtrichtungen, aus allen Strassen, aus allen Quergassen, von ?berall tr?gt die Luft, kehrt man von sp?tem Nachmittagsgang heim, tanzende Rhythmen fort. In den Zusammenk?nften der J?ngsten, der Nochjungen und der Alternden findet jedes Gespr?ch, das die letzten Tanzveranstaltungen, Tanzmoden und Modet?nze ausscheidet, bald seinen Tod. Morgen um Morgen laden gutgedruckte Karten zu irgendeinem neuen vornehmen Nachmittagstanz, zu einem intimen Ball, so intim, dass selbst der Name des Einladenden Verschwiegenheit bleibt, und nur: >>Die Veranstalter<<, die >>Einladenden<<, der >>Ausschuss<< und ?hnliche Unterschriften zu locken m?hen, wer sich in so r?tselvolle Gemeinschaft locken l?sst. >>Bei allen Revolutionen ist getanzt worden,<< heisst die Ausflucht denen gegen?ber, die dieser tragischen Zeit mehr W?rde ins Antlitz ?tzen wollen.
In solcher Verelendung der Geselligkeit den woll?stigen Sang der Grossstadt witternd und S?ttigung ihrer jungen S?chte erhoffend, lassen Ludwig und Henno Abend f?r Abend die leise Sch?nheit ihrer Stuben und ziehen dem Rufe der fremden Bet?rer nach, zuweilen in Gesellschaft Kurt-Georgs, h?ufiger noch neben Lilli von Groddeck. Mit welchen Umschweifen, auf welchen Nebenwegen die in alte Vorurteile eingeschn?rte Beamtentochter dorthin gelangen konnte, bleibt mir Geheimnis. Eine Frage w?rde irgendwie ausweichend abgetan werden. Und Lilli ihren Eltern als L?gnerin melden, ist mir ein Unm?gliches.
Mit h?mischer Freundlichkeit tr?gt das Hausm?dchen in der Fr?he St?sse von Karten, Adressen, Anerbietungen an meinen Morgentisch, die den verschiedenen Taschen der jungen Herren beim Abputzen entfielen: Empfehlungen von Frack- und Maskenverleihinstituten, von Damenbekleidungsgesch?ften ohne Aush?ngeschild, von Austauschstellen f?r Lebensmittel, Geldverleihst?tten, Anpreisungen von Nachtbars mit Hintertreppen- und Kellereing?ngen, Einzelzimmern mit verschwiegenen Eintrittst?ren -- n?chte- und wochenweise, Namen von K?chen, die zu Abendessen ohne Lebensmittelmarken einladen. Unersch?pfbar scheint der ?berfluss, der nachts auf so heimlichen Wegen abgeleitet, durch so geheime Pforten vertrieben werden muss, nimmt von Tag zu Tag ausgedehnteren Umfang an. >>Werden wir's ?ndern?<< >>Haben wir darum gefragt?<< lehnen Ludwig und Henno alles Er?rtern ab. Und ein Achselzucken erstickt jede Frage.
Die Lesetage siechen m?de dem Tode zu. Die Mehrheit der einstigen Teilnehmenden hat jetzt in langer Nachmittagsruhe verlorene N?chte zu ersetzen. Zwar finden die sechs Verb?ndeten sich oft noch zusammen, aber nur, um wieder auseinanderzustieben. Auch meine G?ste der ersten erregten Revolutionswochen sind ausgeblieben. Der Werkeltag heischt sie zur?ck. Und menschliche Gewohnheit f?gt sich auch fremdem Zustand ein. So geschieht es gar oft, dass mit der Scheidestunde dieser kargen Dezembertage drei junge Schatten ins Zwitterlicht meines Zimmers fliessen: Kurt-Georg, Annemarie und Ellinor.
Im Beginn wird ein Gespr?ch versucht, eine zage Melodie angeschlagen. Abendweh und Abschied liegen auf der Lauer. Draussen st?rzt der Wind in die Gartenpfade. Schwarze ?ste zerkrachen. Das Spiel entstirbt. Tiefes Stillesein schmiegt sich ins Zimmer und wird zum Lied.
Ist es solche Stunde allein, die mir die beiden M?dchen bleicher und schm?chtiger malt? Dass der gr?ne Sammet in Ellinors Augen mir feucht und gedunkelt scheint? Das Spottl?cheln um Annemaries Mundrand zu Traurigkeit verzogen wirkt?
Einmal, da matter Wintermond ?ber dem Garten, dem Zimmer und den Dingen hing und die M?dchengesichter auf hellbepudertem Grunde hinblassen liess, kam es, dass Ellinor mir zu F?ssen glitt und geneigten Kopfes unaufhaltsam ?ber meine H?nde strich.
Kurt-Georg lehnte am Fenster, halb zum Zimmer, halb zum Garten gekehrt, seine Augen d?rstend dem weiten, blinkenden Schimmer ge?ffnet, den K?rper vorw?rts gebogen, als suche er in Heimweh nach verlorenem Lande. Dann deckten schwere Lider das nasse Gegl?nz seiner Pupillen.
>>So traumhaftes Nachtlicht erhellte mein Knabenkranksein ... wie alt, wie s?ss und fern!<< fl?sterte er, wie wenn er selbst sich im Traume bewege ...
>>Kurt-Georg,<< hauchte Annemarie, in Furcht, ihn aufzuschrecken, >>Kurt-Georg, wir sind dir so nahe ... und ohne Schuld ... Weshalb fliehst du unser Haus? Komm wieder wie in Kindheitszeiten ...<<
Lange schaute er zur weissen Schale am hohen Himmel auf, die das Land mit kranker Bl?sse begoss. Annemarie hatte die H?nde wie in Frommheit zusammengelegt. Dann drehte sich sein Gesicht uns zu. Und stockend kam es: >>Ich will ... euch ... wieder ... besuchen ...<<
Der Mond begl?nzte Annemaries Augen. Sie hoben sich in blinkender Verkl?rung aus dem unsch?nen Gesicht.
Den 29. Dezember 1918.
Henno beginnt in diesen alln?chtlichen Schwelgereien Widersinn seines auf strenge Arbeit gestellten Lebens zu ahnen. Er h?lt Umschau unter den Veranstaltungen und Orten, bedacht und voll Sorgsamkeit, w?hlt die, welche er zu besuchen denkt, mit Geschmack aus, und verteidigt seine Arbeitsstunden gegen jede Aussenst?rung. Nie mehr bleiben seine Studien in der Kunstakademie zur?ck. Nach dem kurzbefristeten Ausflug zu Orgien, denen seine Jugend Zins entrichtete, kehrte er, besonnen w?gend und abrechnend, wie ein alter Grosshandelsherr, zu seiner T?tigkeit heim. Immer schon schien dies mir das Seltsame an seinen jungen Jahren und der Erzeugung seiner Malereien. Dass er seine Kunst nie von innerer Erleuchtung, packenden Gesichten oder ?berstarkem Empfinden abh?ngig machte, dass seine Sehnsucht nie die Erde verliess, dass er Kunst arbeitete mit Kopf und mit Hand, schweissbegossen, als leistete er Frondienst, dass er sie rechnete wie eine mathematische Aufgabe. Einen Achtzehnj?hrigen sah ich noch nie so kunstbesessen, so arbeitsn?chtern dabei wie Henno.
Ludwig ist nur noch Gast daheim. Irgendeine Nacht hat ihm j?h zwei ?ltere Schulkameraden wiedergegeben, beide bald nach ihrer R?ckkehr von der Front. Zuweilen geleiten sie ihn zu unserem lautlosen Vorort hinaus und weilen ein wenig in meinem Gartenzimmer. Der langbeinige Gert Driesen, der ?ber zwei Jahre lang im Osten gestanden, hat seine Jugend dort gelassen. Gew?hnlich sitzt er schweigend und zuh?rend in einem Lehnstuhl, mit herabgezogenen Mundwinkeln und d?nnen F?ltchen rund um die Augen. Hin und her aber holt er Bilder aus tiefem Erinnern herauf, glitzernde, ausschweifende, atemnehmende. Man weiss nie, ob es Phantasie, ob Milderung oder ?bertreibung eines wirklich Geschauten ist, was er da sprunghaft, eines das andere ?berdr?ngend, vorbringt. Die Lider decken sich auf die Pupillen. Und nur zuweilen, bei ganz krassen Stellen, flitzt ein schr?ger Blitz an den Zuh?renden entlang. Die H?nde strecken sich und ziehen sich mit zeichnenden Geb?rden vor und zur?ck. Um den Mond gespenstert ein Zug, der das Gesicht zum Widerspiel eines ausgepichten Schalks oder einer meisterlich ged?mmten Ersch?tterung macht. So l?sst er die Ahnung eines baltischen Schlosses aus dem Nichts erwachsen, mit marmornen Marst?llen, mit gl?sernen Winterg?rten und Gew?chsh?usern, durchs?sst von Ananasd?ften, mit grau?ugigen Schlossfrauen voll schweren Gebl?ts, mit weissen Abenden voll melancholischer Violinen und aufpeitschend alter Weine. Fl?chtende Bilder schatten auf und hin, von ?stlichen Kleinst?dten, darinnen alle Laster gegeneinander tollen, in N?chten, heiss und funkelnd von Feuersbr?nsten, die garstige L?ste und zerr?ttende Begier geb?ren und stillen und schwanger gehen mit jedem Verbrechen. Get?se erschrillt vor Bolschewistenlagern. Volkshaufen g?ren auf: eine w?tende Menge dr?ngt Lebensmitteldiebe zu einer Br?cke. Tierhafte Schreie ... Regengepeitschtes Wasser spritzt hoch, strudelt ?ber Menschenleibern, die langsam in graue Tiefe hinsinken. Und wieder, rasch hinskizziert, wilde Gelage, Tische mit rollendem Gold und Trunk und Speisen, deren Namen in Deutschland schon lange Jahre Sage und Verschollenheit bedeuten ...
Als sei das Heraufzaubern solcher Vorg?nge eine Schwarzkunst, die seinen Nerven Zusammenbruch bringt, sinkt er dann haltlos, mit weitausblickenden Augen, in sich zusammen, sagt nicht ein Wort mehr. Nur einmal fl?sterte er, als ich ihn beim Abschiednehmen an sein junges Leben mahnte: >>Jung? Wie kann der jung sein, der bereits alles, aber alles gelebt hat? Dem nichts mehr ?berraschung sein darf? Ich bin ein Greis ...<<
Der andere, Leonhard Kauffmann, hat die gleichen zwei Jahre, im Westen, vielviele Schlachten mitgek?mpft. Und es deucht ihm immer noch ein unglaubbar sch?ner Wahn, dass er jenen tausend H?llen unversehrt entkommen ist. Einmal, ganz zu Anfang, in einer Wintersturmnacht in Flandern, auf Marsch zu neuen Gefechten, war er in Erschlaffung gegen einen Baum gesunken. Trotz Starre und Windesheulen hatte bleischwerer Schlaf ihn in schillernde Traumesh?hen gehoben. Als er im fahlen Morgengegrau aufschreckte, frostsch?tternd und mit feuchtsteifen Gliedmassen, hatte ein seltsames Klappern ihn aufsehen gemacht. Und unaufh?rlich schreiend, wie unter einer mittelalterlichen Folter, war er lang auf den erfrorenen Boden zur?ckgefallen, unf?hig, zu fliehen. Denn ?ber ihm, im schwarzkahlen Gezweig des Baumes, schlug der Wind die Glieder eines Gehenkten wie d?rre, d?stere Glockenschwengel hin und her, her und hin ...
Eine Nervenersch?tterung war der Ertrag jenes verh?ngnisvollen Schlafens und Aufwachens gewesen. Sie hatten ihn bald als genesen entlassen. Er aber wusste es: nie w?rde ein neues Geschehen dieses eine ganz auszul?schen verm?gen, nie seinen Nerven volle Wiederherstellung geben. Er hatte sp?ter in grausen Stunden Schreckhafteres gesehen: Zerfetzungen, Hinbluten junger Leiber, gelle Todesrufe. Aber immer war jener gehenkte Spion, mit dem der Wind auf platter, nasskalter Ebene, im farblosen Wintertagwerden sein wunderliches Spiel trieb, ihm die gr?sste Ungeheuerlichkeit und Verzerrung geblieben, die der Krieg ihm gezeigt.
Nun riss er, heimgekehrt, in rasender Gier in alles Bl?hen des Lebens, und erw?chse es auf fauligem Sumpfe. Nur diese letzten zwei Jahre des belohnten Mordens und Vernichtens mit Lust und Freuden des Daseins zudecken, so hoch wie m?glich. Sein schm?chtiger K?rper, von zweij?hrigem Kriegsleben ged?rrt, widersetzte sich h?ufig dem Zuviel, der Regellosigkeit und Gehetztheit, die von ihm gefordert wurden. Leonhard missachtete solche Warnung der Natur. Und die drei wiedergeeinten Genossen zogen weiter auf dem unsch?nen Wege, der vierj?hrigem Kriege und einer von denkfaulen Massen missverstandenen Revolution nachfolgte.
Und dennoch fand es mich unvorbereitet, dass Ludwig von solchen Wegen in moorige Gr?nde geriet, dass er mir vor drei Tagen seine Abirrung gestand, gestehen musste, weil der Schuldschein, den der Unm?ndige mit seinem Namen gezeichnet hatte, mir am kommenden Morgen vorgelegt werden sollte. Zum ersten Male seit jenen Novembertagen, an denen Ludwig und Henno meinen geistigen Einfluss als Mutter abgelehnt hatten, stand ich meinem Erstgeborenen in langer Auseinandersetzung gegen?ber. Gewiss, er missverkenne die peinlichen Folgen nicht, die meiner auf kleinem Grunde aufgebauten Wirtschaft durch seine etwas erh?hten Ausgaben erwachsen k?nnten. Aber sie seien nicht un?berwindbar. Auf artige Reue, fromme Busse oder Hergabe seiner Jugendrechte werde ich -- das hoffe er -- doch keineswegs gerechnet haben. Ich rief sein klares Denken, sein Rechtsbewusstsein an. Ich verleugnete meine Art so weit, ihm meine R?ckstellung eigener W?nsche anzudeuten, ihnen, den S?hnen zuliebe. >>Elternpflicht<<, lautete die Erwiderung, prompt und in gesch?ftsk?hlem Ton. >>Auch wenn sie die K?nstlerin in ihrer Kunst behemmt?<< >>Selbst dann!<< >>Auch wenn die Aus?bung dieser Kunst zum Erhalt der Kinder beitragen muss?<< >>Auch dann ... sie kann ja von heute zu morgen reichere Fr?chte tragen ...<<
Dann endlich hielt ich den Betrag in H?nden, welchen Ludwig auf seinen Freudenwegen vertan hatte. Papierscheine in nennenswerter H?he nach meinen Begriffen. Und pl?tzlich, in seltsamer Gedankenverkettung, kam mir die Verachtung der Proletarierkinder beim Anblick des Geldes zu Sinn. Kein Weiser konnte seine Wertlosigkeit offensichtlicher bekunden, als diese im Kriege Herangewachsenen es getan hatten. Brotkarte, Kohlenschlacke, Kartoffeln, w?rmende H?lle, das war dem halbverhungerten, entbl?ssten Volke Besitz. Bedrucktes Papier flog ihnen selbst in nie gewohnter H?he zu, seit sie Todeswerkzeuge im Massenbetrieb angefertigt hatten, seit Arbeitslosigkeit mit Richtergeh?ltern entsch?digt wurde. Musste die Jugend von heute nicht mit anderen Massst?ben, anderer Moral werten als die von gestern? Eine Jugend, die t?glich um eines St?ckes Brot willen, um ein Ei, eine Flasche Milch, um ein paar Schuhe die triumphierende ?bertretung von Gesetzen geschehen sah, die mit hohen Strafen bedroht war? Jahre hindurch. Die gemeinsam mit denen, die ihnen Sittenlehrer waren, auf verbotene Heranschaffung des stofflichen Bedarfs schlich, wie ein Tier auf listiger F?hrte? Eine Jugend, die Grausamkeiten, blinden Hass feiern und dekorieren sah und den Atem des B?sen ?berall in sich sog? ...
Ich ?bergab Ludwig die Scheine noch am gleichen Nachmittag und verdoppelte sein Taschengeld, damit ?hnliches sich nicht wiederhole. Er gab seinen Dank durch ein anerkennendes Kopfnicken kund.
Den 31. Dezember 1918.
Nordwind schl?gt die B?ume und dr?ckt schwer an die Fenster meines Arbeitsraumes. Eisesodem sticht nadelspitz durch jede Mauerfuge. Wie atme ich tief auf und begl?ckt, die letzten Stunden des Jahres allein und daheim sein zu k?nnen! Ludwig und Henno bleiben bis zum Neutag im jungen Jahr in der Stadt, bei Annemarie Gr?nhagen, die der Wiederkehr Kurt-Georgs ein Fest weihen will.
Das M?dchen hat schwere Bl?cke in meinen Ofen get?rmt solche, die langsam verschwelen. Ich z?nde den letzten Spiritus unter dem Teekessel an, l?sche das hyazinthblau h?ngende Licht, r?cke einen Tisch vor den tiefen Sessel zum Feuer und horche dem Gefl?ster des Holzes. Die Farbe der M?bel lischt aus. Alle Formen verzittern. Aus dem Ofen blecken rotgeifernde Flammenzungen, zerwehen bei neuem Windesstossen in nichts. Erscheinungen erstehen, durchhuschen als Spuk das frostumstarrte Zimmer. Irgendeine dunkle Begegnung w?chst aus dem Gewelle schwarzer Vergangenheit empor. Fetzen trauriger Tr?ume beben vorbei, verbleichen, kaum erst geboren. Etwas Vers?umtes klagt um Nichterf?lltheit. Missverstandenes blickt drohend wie unter schwarzgerunzelter Braue. Verlorenes schluchzt auf. Dann hebt sich ?ber Stille, ?ber verflatternde Gesichte und Entsinnungen ein einfaches Lied und legt sich weich mir in die Seele ... Und wie die T?ne des singenden M?dchens draussen in der K?che sich allm?hlich vereinsamen und wieder zueinander gesellen, bl?ttern die letzten sechs Jahre vom Baum meines Daseins ab, als h?tte ein Hagelschlag sie alle mitsammen zerschlagen. Und ich lebe und atme einen Tag, mit allen seinen Schauern und Trunkenheiten, die er mir damals zu geben hatte ...
Einen Fr?hlingsnachmittag, in fremder Weltstadt, von duftendem Lenzwind und sachtgr?nem Baumgeschleier umjubelt ... Alle H?user mit ihren Adelsfassaden, alle goldspitzigen Edelgitter, alle Alleen, alle Rasenfl?chen, Pl?tze, Parks und die unz?hligen grauen Kirchent?rme sprangen freudeberauscht aus der blaublauen Luft hervor. Vor allen Caf?s, vor allen Bierstuben, vor allen zum Strassendamm vorger?ckten Marmortischen frohe, schwatzende, stubenerl?ste Menschen. T?rkenjungen spreiteten anpreisend, mit liebkosenden H?nden, sattfarbene Teppiche, Decken und Stoffe ?ber die Erde, als bereiteten sie einer Geliebten huldigenden Willkomm. Zeitungsvertreiber warfen ihre Schreie wie flinke B?lle zur sonnendurchgl?nzten H?he. Schw?rme von Schuhputzern, Blumenm?dchen, fliegenden H?ndlern m?hten sich, sie zu ?berschrillen. Taxen, Autos, Dampf- und Strassenbahnen rasten im Freudentaumel durch diese Festesstrassen. Die Frauen trugen ein vertr?umtes Geleucht in den Augen und um den Mund, als schritten sie, in unsehbare Gl?ckseligkeiten geschmiegt, durch diese Stunden. Die M?nner, m?ssig, den Hut l?ssig ins Genick geschoben, die Zigarette im Mund, schl?rften den Anblick all dieses zu Erraffenden, des ihnen zu entgleiten Drohenden. An einem Strassengewinkel, beschattet von altersgrau hohem Tore, sang mit geknittertem Gesicht, mit welken, vorgebreiteten H?nden und von einer Menschenschar umbrandet, ein Zerlumpter alte Romanzen. Halbw?chsige M?dchen t?nzelten auf hohen St?ckelschuhen den Rhythmus des Sanges mit. Jungen Burschen brach ein Blinken aus den Augen. Und in Hingegebenheit schwoll zum Schluss jeder Strophe der Kehrreim, von der ganzen Zuh?rermenge wiederholt, an den siebenst?ckigen H?usern hinan.
Sp?ter, beim Weiterschlendern, im leise fallenden Nachmittagsschein, hielt neues Gedr?nge uns gebannt. Auf einem ?ffentlichen Volksplatz trompetete Milit?rmusik. Ein Wirbel von Paaren drehte sich dazu in Verz?cktheit: M?dchen mit verkommenen Leibern und Burschen mit noch kindhaft gerundeten Gesichtern, Rohlinge und Soldaten, B?ckerknaben und Lehrm?dchen, schmalschultrige Studenten und zuf?llig des Weges kommende Zimmerm?dchen, entt?uschte Weltstadtst?rmer, Kunstj?nger mit zerw?hlten Mienen, Modistinnen und Freudenm?dchen mit flackenden Schwarzaugen und kirschrot gef?rbten Mundr?ndern. Kleine von der Musik hergelockte M?delchen mit schwankem Fussspann, gedrehten H?ngelocken und langen schm?chtigen Gesichtern machen im Vor?bergehen mit ihrer Bonne eine Runde. Sie alle, die eine zuckende Melodie f?r eine Weile zusammengeworfen hatte, pressten sich in Inbrunst aneinander und kreisten ekstatisch, unbewusst zu der jungen Lust des Fr?hlingseins.
Matt und schwer von dieser Atmosph?re der Verheissungen und Entgleisungen winkte einer unserer Begleiter ein Auto her. Wir glitten zu vieren unserem weit entlegenen Ziele zu: der russische Ingenieur, die himmelssch?ne Pianistin, die junge Schauspielnovize und ich. Das Fahrzeug hielt sich auf den breiten Fahrd?mmen nahe dem Flusse, dessen unruhige Wasser die lusttaumelnde Stadt und die gelbblanke Sonne einfingen. So, wortlos in meine Ecke eingeschmiegt, nahm ich von dieser in lichtblauen Fr?hling hineingedichteten Wandelschau unver?usserbaren Besitz. Von den fernen, vergangenen H?usern, die mit uns durch k?stliche Gassen zogen, von dem vielfarbigen Gestrahle der Bl?ten und den auffliegenden Wohlr?chen der Dolden auf dem unabsehbar weiten Blumenmarkt. Von dem Gewimmel und den Ger?uschen der Strassen, der Br?cken und der Kaie, von alten gewundenen Hinterg?sschen, von finsteren Durchl?ssen, von der Buntscheckigkeit der zur Strasse gelegten Waren, von den grellen Plakaten, von Spelunken und gotischen Kathedralen, von einem rubinfarben brennenden Kirchenfenster, von unbekannten, traumseligen H?usern und Strassenz?gen.
Langsam begann der Nachmittag zu zerflammen, als wir in den Salon des b?hmischen Edelmanns traten, der uns zu intimem Zusammensein hingebeten hatte. Wir waren etwas versp?tet, und der Hausdiener bat sogleich zu Tisch. Breite Fenster und eine Glast?r standen vom Speiseraum weithin nach dem Fr?hlingsgarten ge?ffnet, der sich in Terrassen zum Flusse niederliess; denn diese am Strome hingelagerte Vorstadt erhob sich auf betr?chtlichen H?geln ?ber der Millionenstadt. Die blauen Schattungen des Abends trugen gebrochene Akkorde von fernen Glocken ?ber den Strom. Zwei Freunde des Hausherrn, ein junger Dichter und einer, dessen Ruhm bereits im Absteigen war, gaben Langgewusstem Neuartigkeit, entdeckten ungekannte Tiefen. In der Frische, die Fluss und Garten brachten, und vor dem stillen Gespr?ch, das diese Stimmung erschuf, verfiel das Gebrause der lenzberauschten Weltstadt, das uns bisher im Blute gesungen.
Dann sassen wir in dem kleinen Salon, der angef?llt war mit Rarit?ten, mit verschollenen Bildern und Handschriften, und der im stillen Schein der hohen Kerzen erbleichte. Der junge Dichter sprach zum Ged?mmer des Raums seine Fr?hgedichte, in denen er seine erste Liebe eingeschlossen hielt und allen Reiz der kaum herangebl?hten Schauspielerin mit den adeligen H?nden und dem feierlich weissen Stiel ihres Halses, die so traurig verenden musste an ihrem Schminktisch, von weissen Spitzen berieselt, vor ihrer Antrittsrolle im gr?ssten Schauspielhaus, das an diesem Abend von grausigem Brande versehrt ward.
Schweigend vergingen unsere Gesichter in den hereinst?rzenden Dunkelheiten. Wir h?rten das Hintropfen der w?chsernen Lichte und vom Garten einer tagm?den Schwalbe Zwitscherruf. Da zauberte die romanische Klavierk?nstlerin vom Nebenzimmer uns singende V?gel, Hansnarren mit schallenden Glocken, das Geklingel alter Rokokouhren, das Stelzen bejahrter Schweren?ter her, Sch?fereien, Jahrm?rkte ... Die ganze verwehte Anmut Couperinscher Schalkhaftigkeiten. Sie lud Rameau zu Gast ... und ihre schmalen Finger wurden Werkzeuge zur Beseelung Chopinscher Wehm?tigkeiten.
Die Fr?hlingsnacht stieg sehnsuchtsbang in die blassen Stuben ein. Sie zog uns zum mondweissen Garten hinaus. Die B?ume hatten sich in sanft gleitende, lila verschillernde Seiden getan. Tief unten murmelte der Fluss seine Liebesworte an die Stadt, die mit flammigen Reklamen und Millionen gelber Lichteraugen in die Ferne gemalt stand. Von vorzeitiger W?rme aufgewehte D?fte regneten ?ber uns her. Weisse Steinbilder beugten sich wortlos ?ber dunkles Gehecke. Wir lehnten an einer Br?cke gebogenem Gel?nder. Breit um uns schossen grasige H?gel schr?ge zum Wasser ab. Auf ihnen -- hingeschenkt dieser Mondnacht -- verstr?mten Tausende Veilchen ihr Sein.
Die Reklamen h?rten auf, ?ber die Weiten zu schreien. Uhren und Glocken gingen dann und wann leise in kurzer Zwiesprache nebeneinander. Wir sassen auf gl?sernem Vorbau des Hauses, nippten von alten Weinen, redeten von Kunst und Sehns?chtigkeiten und schwiegen lange, vom Dichten, vom Get?ne und von den Bildern des Heute durchklungen.
Da stieg vom K?chengeschoss ein Lied zu uns auf, fremd und zehrend und leidbeschwert. Der Hausherr richtete sich stehend hoch auf und ging zum Fenster. Gequ?ltheit ?ber den sonst so beherrschten Z?gen, lauschte er in den Traumglanz des Mondgartens, lauschte ... Dann schob er seinen Lehnstuhl uns nahe, und ich h?rte ihn die Rilkeschen Verse klagen:
Mich r?hret so sehr B?hmischen Volkes Weise; Schleicht sie ins Herz sich leise, Macht sie es schwer.
Wenn ein Kind sacht Singt beim Kartoffelj?ten, Klingt dir sein Lied im sp?ten Traum noch der Nacht.
Magst du auch sein Weit ?ber Land gefahren, F?llt es dir doch nach Jahren Stets wieder ein.
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