Read Ebook: Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs by Lessing Theodor Leonhard Rudolf Editor
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Ebook has 202 lines and 56709 words, and 5 pages
Editor: Rudolf Leonhard
Produced by: Jens Sadowski
AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT - DIE VERBRECHEN DER GEGENWART -
AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT - DIE VERBRECHEN DER GEGENWART -
HERAUSGEGEBEN VON RUDOLF LEONHARD
BAND 6
VERLAG DIE SCHMIEDE BERLIN
HAARMANN. DIE GESCHICHTE EINES WERWOLFS
VON THEODOR LESSING
VERLAG DIE SCHMIEDE BERLIN
EINBANDENTWURF GEORG SALTER BERLIN
Copyright 1925 by Verlag Die Schmiede Berlin
Vorwort.
Hannover, im Januar 1925.
Erster Teil.
Ort und Zeit des Dramas.
An drei Stellen der Stadt erhob sich ein Gauner-, Hehler- und Prostitutionsmarkt ohnegleichen, dessen die Beh?rden nicht mehr Herr wurden. Zun?chst im Bahnhof und auf den ihn umgebenden Pl?tzen. Hier wurde in der schweren Brotmarkenzeit, wo man Brot, Fleisch und Milch nur in kleinsten Rationen gegen teures Geld und nach stundenlangem ,,Schlangenstehn" erhalten konnte, unter der Hand ein schwunghafter Handel mit gestohlenem und heimlich geschlachtetem Nutzvieh, auch mit Kaninchen, Ziegen, Hunden und Katzen, mit Kartoffeln, Mehl und mit allerhand gepaschter und verschobener Ware getrieben; vor allem aber mit Kleidern, W?sche und Schuhen. Hier versammelten sich alln?chtlich in den Wartes?len viele Obdachlose, Arbeitslose, Hungrige und Entgleiste.
Die ersten Leichenfunde.
Am 17. Mai 1924 fanden Kinder, die an der Wasserkunst nahe dem Schlosse Herrenhausen spielten, einen Menschensch?del. Am 29. Mai wurde mitten in der Stadt an der Br?ckm?hle hinterm Leineschloss im M?hlengraben ein feiner J?nglingssch?del angesp?lt. Am 13. Juni klagten die augenlosen H?hlen zweier neuer Sch?del zum Licht. Wiederum: der eine im Osten der Stadt bei der Wasserkunst; der andere im Westen neben der Br?ckm?hle. Die gerichts?rztliche Untersuchung ergab, dass es sich handelte um K?pfe junger Menschen im Alter von 18 bis 20 Jahren. Bei dem am 13. Juni bei der Br?ckm?hle gefundenen um den eines 11 bis 13 Jahre alten Knaben. Bei allen Sch?deln war festzustellen, dass sie mit einem scharfen Instrument vom Rumpfe getrennt worden waren. Fleischteile fehlten fast v?llig oder waren verwest, da die Knochen anscheinend schon lange Zeit im Wasser gelegen hatten. An dem am 13. Juni bei der ,,Wasserkunst" gefundenen Kopfe liess sich feststellen, dass die Kopfhaut durch einen skalpartigen Schnitt vom Knochen abgel?st worden war. Man riet zun?chst darauf, dass die Sch?del aus der G?ttinger Anatomie stammten, oder dass sie in Alfeld, wo zu jener Zeit eine Typhusepidemie herrschte, in die Leine geworfen waren, oder endlich, dass sie ins Wasser geschleudert wurden, gelegentlich von Gr?bersch?ndungen, die im Engesohder Friedhof entdeckt wurden. Keine von diesen Vermutungen best?tigte sich. Dagegen fanden Knaben, die auf einer Wiese in der D?hrener Masch spielten, einen Sack mit menschlichen Knochen, und am 24. Juli wurde in der Feldmark Garbsen abermals ein offenbar vom K?rper getrennter skalpierter Sch?del aufgefunden, welcher wiederum von einem ganz jungen Menschen stammte. Die vielen Knochenfunde konnten nicht verborgen bleiben. Es bem?chtigte sich weiter Volkskreise eine schon lange vorbereitete Schrecksucht. Schon seit Jahr und Tag n?mlich war im Volke ein abergl?ubisches Ger?cht im Schwange: ,,Es gibt in der Altstadt Menschenfallen. Junge Kinder verschwinden in Kellern. Knaben werden in den Fluss versenkt." Man erz?hlte, dass in der schweren Notzeit Menschenfleisch auf dem Markt verkauft worden sei. In den D?rfern um Hannover weigerten sich junge M?gde, in die Stadt einkaufen zu gehen. Und die ungewisse Angst vor einem die Gegend unsicher machenden ,,Werwolf" wuchs von Tag zu Tag. In den Jahren 1918 bis 1924 waren aussergew?hnlich viele Menschen vermisst oder verschwunden. Im Jahre 1923 wuchs die Zahl der als vermisst Gemeldeten auf fast 600, und wenn auch die gr?ssere Anzahl der Vermissten sich wieder einfand, so blieb doch im Vergleich mit anderen gleichgrossen St?dten die Anzahl der Verschwundenen in Hannover ziemlich gross. Die Nachforschung zeigte, dass es sich recht h?ufig handelte um Knaben und J?nglinge zwischen 14 und 18 Jahren.
Am Pfingstsonntag des Jahres 1924 zogen Hunderte aus Hannover und Umgebung an die ,,Hohen Ufer", besetzten die kleinen Stege und Leinebr?cken der Altstadt und begannen ein fieberhaftes Suchen nach Leichenteilen und Knochen. Am f?nften Juli in der Morgenfr?he wurde, nachdem man noch eine ganze Anzahl menschlicher Knochen gefunden hatte, das ganze Flussbett von der Br?ckm?hle an bis zur grossen Leinebr?cke am Clevertor abged?mmt und durch Polizeibeamte und st?dtische Arbeiter gr?ndlich nach Leichenteilen durchsucht. Diese Stelle der Leine liegt mitten in der Stadt. Sie kann von Selbstm?rdern wegen des dort stattfindenden starken Verkehrs nicht aufgesucht werden. Das Ergebnis war furchtbar. Es wurden ?ber 500 Leichenteile gefunden, deren Untersuchung durch den Gerichtsarzt ergab, dass es sich um die Reste von mindestens 22 Personen handelte, von denen ungef?hr ein Drittel im Alter zwischen 15 und 20 gestanden haben mochte. Etwa die H?lfte hatte schon l?ngere Zeit im Wasser gelegen. - An den noch frischen Knochen aber wiesen die Gelenke glatte Schnittfl?chen auf.
Inzwischen war teils durch das forsch zugreifende Vorgehen des Kriminalkommissars Retz, eines freundlichen jungen Riesen, teils durch eine Reihe merkw?rdiger Zuf?lle die Aufkl?rung gelungen. Am 23. Juni wurde der vermutliche T?ter ins Gerichtsgef?ngnis eingeliefert. Es war der am 25. Oktober 1879 zu Hannover geborene Friedrich, genannt Fritz, Haarmann; f?nfzehnmal vorbestraft; seit 1918 Spitzel im Dienste der Kriminalpolizei; im ?brigen Handel treibend mit Kleidern und Fleisch; seit vielen Jahren auf der Sicherheits- und Kriminalpolizei bekannt als Homosexueller. - Seine Erscheinung warf alle gewohnten Vorstellungen von Mord und M?rdern ?ber den Haufen.
Das Signalement.
Elternhaus und Jugend.
Von Mai 98 bis M?rz 99 arbeitete er erst als Handlanger auf einer Schiffswerft, dann beim Apotheker D?renberger in Z?rich. Im April 99 kehrte er nach Hannover zur?ck, wo inzwischen sein Entweichen in Vergessenheit geraten war. Er war jetzt 20 Jahre alt ...
Auf der Verbrecherlaufbahn.
Die Zeit der Revolution 1918/19.
Stellung zur Polizei.
Die Geschlechtsverbrechen.
Zur Seelenkunde.
Der Freund.
Psychologische Bemerkungen.
Hugo.
Mordidyll: Neue Strasse 8.
Von einem Bekannten dieses Wittkowski mit Namen Alwin K?hler, h?rte Haarmann eines Tages, dass K?hler ein alleinliegendes Zimmer, welches ihm als Lagerraum diente, gern anderweitig abgeben wolle. Die Wirtin des Hauses, ein ?lteres Fr?ulein namens Rehbock, welches bald darauf einen Herrn Daniels heiratete, hatte keine Bedenken, das Zimmer zum 1. Juli 1921 an Haarmann zu ?berlassen, welcher angab, dass er ebenfalls ein Warenlager dort deponieren wolle, zu dessen Bewachung aber ,,sein junger Mann" in dem Zimmer schlafen m?sse. - Das uralte Haus am Flusse hat eine breite Durchfahrt, welche zu dem dahinterliegenden gemeinsamen Hofe und den Hintergeb?uden der Nachbargrundst?cke f?hrt. Das von Haarmann gemietete Zimmer liegt gleich rechts vom Hauseingang an dieser Durchfahrt. Neben dem Zimmer f?hrt eine Treppe zu den oberen Stockwerken. Der Raum hat zwei hohe durch einen schmalen Pfeiler getrennte Fenster nach der Strasse zu. An der den Fenstern gegen?berliegenden Seite in der Wand, die das Zimmer vom Treppenhause trennt, befindet sich ein in den Hohlraum unter der Treppe hineingebauter Wandschrank. Eine sogenannte Butzenklappe, 1,90 m breit, 1,25 m hoch und 1 m tief; durch zwei Klappen vom Zimmer aus verschliessbar. Dies war der Ort, wo die Leichen aufbewahrt wurden. Auf einem, diesem Wandschrank entnommenen Brette sind bei der sp?teren chemischen Untersuchung reichliche Spuren von Menschenblut festgestellt. Oberhalb des Wandschranks befindet sich dicht unter der Decke des 3 m hohen Zimmers ein 30 cm hohes und 60 cm breites Fenster, durch das man vom Treppenabsatz in den Raum hineinsehen kann. An der Wand zum Hausflur neben der T?r steht ein Gasofen. Dahinter in der Ecke am Fenster die Gasuhr. Auf der anderen Seite der Durchfahrt wohnt eine Arbeiterfamilie namens Bertram. Das Haus ist dichtbev?lkert; in der rechten Ecke des Hofes liegen die Klosetts, vor denen an der R?ckwand des Hauses eine Pumpe steht. Der Leinestrom fliesst an der Hinterseite des Hauses, war also von Haarmanns Zimmer aus nicht erreichbar. Bei seinem Einzuge am 1. Juli 1923 brachte Haarmann nur ein armseliges Bett und einen Waschst?nder mit; im ?brigen blieben in dem Zimmer nur einige M?belst?cke, die der Wirtin Fr?ulein Rehbock geh?rten. Haarmann und Grans benutzten das Zimmer zusammen als Wohnraum, was sogleich die Unzufriedenheit der wenig entgegenkommenden Hauswirtin erregte; aber am 31. August verschwand Haarmann und liess den jungen Grans allein zur?ck; dieser erz?hlte der Wirtin zun?chst, sein ,,Chef" sei auf einer Gesch?ftsreise und sodann: ,,Der Chef weilt zu seiner Erholung im Luftkurort J?gerheide." In Wahrheit hatte Haarmann die wegen der W?schediebst?hle ?ber ihn verh?ngte halbj?hrige Gef?ngnisstrafe in J?gerheide angetreten. In diesem halben Jahr begann nun Grans , in dem verrufenen Raum ein tolles Leben. Der Raum wurde zum Absteigequartier f?r die das Kaschemmenviertel abstreifenden jungen Dirnen: D?rchen, Elli und Anni, welche dem Grans daf?r gerne ,,Zimmergeld" abgaben. Heruntergekommene Burschen und dunkles ,,Gesoks" verkehrte in dem Raum. Es gab Trinkgelage und Messerstechereien, so dass es zu scharfen Streitigkeiten mit der Wirtin kam, welche an Haarmann ins ,,Sanatorium J?gerheide" schrieb, worauf dann hochmoralisch und entr?stet, Haarmann zur?ckschrieb, die Wirtin m?ge nur auf seinen ,,jungen Mann" bis zu seiner R?ckkehr gut aufpassen und streng auf Ordnung halten; wenn er zur?ckkomme, dann werde er den jungen Mann f?r seine ,,Schweinereien" fortjagen. Gleichzeitig aber unterhielt Haarmann mit Grans einen z?rtlichen Briefwechsel. Der Wirtin Rehbock wurde das Treiben schliesslich doch zu toll, so dass sie eines Tages Ende Februar 1922 das Zimmer sperrte und den Grans hinauswies. Am 1. M?rz 1922 kam Haarmann zur?ck. Er brach das Sperrschloss auf und fand sein Zimmer - leer. Grans und Wittkowski hatten alle Sachen verkauft, ja, hatten sogar Haarmanns Milit?rrente abgehoben und verjubelt. Die Wirtin Rehbock aber hatte die ihr geh?renden M?belst?cke herausgeholt und in Sicherheit gebracht. Haarmann tobte und fluchte ?ber das leere Zimmer. Die Rehbock forderte, dass Haarmann das Zimmer sogleich r?ume und wendete sich, da der andere sich weigerte, an das Mieteinigungsamt. Aber dieses stellte sich, als der Obdachlose mit grosser Gewandtheit und Sachkunde mehrere Eingaben gemacht hatte, auf Haarmanns Seite, so dass es dem Hallunken gelang, bis zum Juni 1923 gegen den Willen der Vermieterin dennoch das Zimmer zu behalten. Er musste sich nun zun?chst wieder M?bel beschaffen. Sein Bruder Adolf zahlte ihm eine kleine Summe als seinen Anteil am m?tterlichen Erbe und davon richtete Haarmann sich neuerdings ein, wonach auch Grans alsbald wieder erschien und trotz der fr?heren Ausr?uberung der Wohnung liebend aufgenommen wurde. Bis zum 9. April blieb er bei Haarmann wohnen. Vom 9. April bis zum 30. Juli kam Grans ins Gef?ngnis ...
Das kam so: In der grossen Gesch?ftsb?cherfabrik von Edler & Krische wurde in der Inflationszeit im Auftrage der deutschen Reichsbank Papiergeld gedruckt. Dabei kam Druckpapier abhanden, aus welchem falsche 50-Mark-Scheine hergestellt wurden, die im Betriebe der Firma pl?tzlich auftauchten. Die Firma wendete sich zur Aufkl?rung des Falles an die ,,Detektivzentrale ehemaliger Polizeikommissare", welche von einem Grenzpolizeikommissarius Olfermann geleitet wurde. Dieser erhielt Auftrag, die F?lscher zu ermitteln und ihm wurde empfohlen, sich mit Haarmann in Verbindung zu setzen, der in fr?heren F?llen so gute Spitzeldienste geleistet habe. Olfermann erhielt nun in der Tat von Haarmann einige g?nstige Fingerzeige, so dass er die Verbindung mit Haarmann fortan auch fernerhin aufrecht erhielt. -
War denn nun aber in dem ganzen Neuen-Strassen-Viertel niemand, der an diesem offensichtlich lichtscheuen Treiben Anstoss nahm, niemand der sich gelegentlich Gedanken dar?ber machte? Doch! Es wurden in der Tat verschiedene Male Anzeigen erstattet und Haussuchungen abgehalten; aber es war, wie wenn alle D?monen der Finsternis mit Haarmann im Bunde st?nden.
In der ,,Roten Reihe".
Vergegenw?rtigen wir uns die Hausbewohner: Vor uns steht ein kleiner, mit allen Hunden gehetzter, in allen Wassern gewaschener Zwergteufel, ein Weib von der Physiognomie jener Gesche Margarete Gottfried, die man in Kriminalwerken oft abgebildet findet. Das ist Elisabeth Engel, geborene Br?utigam, eine Frauensperson von 50 Jahren, klein, d?rr, ?berintelligent, war dreimal verheiratet, hatte acht Kinder, von denen nur eins am Leben blieb: . Gegenw?rtig ist Mutter Elisabeth verheiratet mit dem Arbeiter Wilhelm Engel, Ordner in der sozialdemokratischen Partei . - Wie hatten Haarmann und seine Getreueste sich kennen gelernt? Im Fr?hling 1923 wollte die Engel beim Rossschl?chter auf der Insel Fleisch einholen, aber es war ausverkauft, da traf sie nahe dem Laden den Kriminalbeamten Haarmann, den sie von Ansehn kannte , und Haarmann bot ihr ein Pfund Pferdefleisch, welches damals 60 Pfennig kostete, schon f?r 35 Pfennig an. Daraus entwickelte sich eine Fleisch-Freundschaft. Sie kamen bald auf Du und Du; gingen miteinander ins Kino, ,,k?ngelten", ,,k?tcheb?tchten", ,,tusterten", ,,trampelten", ,,hamsterten" und ,,drehten manche schwule Sache"! Haarmann schenkte der Frau manch abgetragenes Kleidungsst?ck ; daf?r ?bernahm sie es, die anderen Kleidungsst?cke f?r ihn zu verkaufen . Im Radfahr- und Turnverein ,,All Heil", in welchem Vater Engel und sein Stiefsohn, der junge Theodor Hartmann grosse Nummern waren, fand sich mancher, der bald einen Selbstbinder, bald einen Hut, bald eine Breecheshose gern billig erwarb. ,,Eine Hand w?scht die andere." Haarmann ?berliess der Familie f?r ihren Ausschank billiges Fleisch, und als er sich im April mit seiner Hauswirtin Rehbock herumschlug, fragte er die Engel: ,,K?nnen Sie mir nicht ein anderes Zimmer schaffen?" Die Engel erwiderte: ,,In unserem Hause ist eine leere Dachkammer; die k?nnen Sie haben." So kam er denn am 9. Juni in die alte Baracke am Judentempel, wo wenigstens 20 Morde mitten in einer menschenvollen, aller Wohlfahrt spottenden Mansardenh?hle ausge?bt wurden. - Nur durch eine d?nne Tapetenwand von Haarmanns Dachzimmer getrennt, liegt die K?che der Frau Lindner. Frau Lindner ist eine junge, schlanke, blonde Frau, sehr f?rs Feine. Als Haarmann in das Haus einzog, erz?hlte er sogleich allen Mitbewohnern, dass er f?r Sauberkeit sorge und sehr ,,apart sei"; daher das Klosett, das man zu f?nf Parteien gemeinsam benutzte, nicht besuchen, sondern seinen Eimer dorthin tragen werde, und sein Stoffwechsel musste ausserordentlich sein, denn man sah ihn nun alle Viertelstunde mit einem verdeckten Eimer zu dem ewig verstopften Klosett und dann zu der im Flur liegenden Wasserleitung gehen, wie er denn unaufh?rlich in seinem Zimmer, das die Engel nie betrat, wischte und schrubbte. Der Mann von Frau Lindner ist Glasarbeiter; ein kleiner, gutartiger, schwarzer Stiesel. Ausserdem wohnte bei ihnen ein besseres Fr?ulein, das zuweilen Herrenbesuch empf?ngt. Und dann war da auch ein kleiner Hund namens Fuchsie. Dem brachte Haarmann zuweilen Knochen. Aber Frau Lindner konnte Haarmann nicht leiden und ?rgerte sich ?ber die vielen Besuche von Jungen, die auf der engen Stiege trampelten. Es gab in dem Hause vielen Zank. Das Ehepaar Lindner schlug sich. Er sagte: ,,Du Hure." Sie verm?belte ihn mit dem Besen. Auch das Ehepaar Engel zankte sich im Parterre; wenn er ,,kn?lle" war. Grans hatte vor Frau Lindner auf der Strasse ausgespuckt; darauf hatten sich Haarmann und die Lindner auf der Treppe angeschrien; dann hat ,,Herr Haarmann" um Entschuldigung gebeten und hat gesagt: ,,Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt machen? Meine Nachbarin Frau Lindner - mein langj?hriger treuer Mitarbeiter Herr Grans." Seit der Zeit haben sie sich wieder gegr?sst. - Aber wenn die vielen Jungens zu Herrn Haarmann kamen, dann haben Frau Lindner, das Fr?ulein, das bei Lindners wohnte und ein unbekannter aber feiner Herr, der gerade zum Besuch war, durch die T?rritze zugesehen. So sind sie bald dahinter gekommen, dass bei Haarmanns Verkehr mit den jungen Leuten dunkle Dinge im Spiele waren. Sonst aber war das Leben lustig! Grosse Platten Fleisch wurden in Engels K?che gebraten. Auf Haarmanns Zimmer wurde gesungen und getrunken. Die Eheleute Lindner haben wiederholt ,,Schupo" und ,,Sipo" herbeigeholt. Einmal hat sogar die junge Frau zusammen mit einem Kriminalassistenten eine ganze Nacht dr?ben am Judentempel gestanden und Haarmanns Licht belauert. Aber der Zufall f?gte es, dass gerade immer dann, wenn die Polizei eingriff, nichts besonderes zu entdecken war. Auch war Haarmann von grosser Frechheit. Einmal kam nach wiederholtem Ansuchen der Nachbarn die Polizei in der Nacht, um bei Haarmann Haussuchung zu halten. Haarmann schloss die T?re nicht auf. Er machte die Beamten ruhig darauf aufmerksam, dass, wenn kein Befehl zur Verhaftung vorliegt, nach ? 106 keine Haussuchung zwischen 10 Uhr abends und 6 Uhr morgens stattfinden darf. ,,Kommen Sie also um 6 Uhr wieder." Als die Polizei dann wiederkam, war nichts Verd?chtiges zu finden. Die Nachbarn aber sagten: ,,Es hat doch keinen Zweck, das Treiben anzuzeigen. Haarmann beh?lt immer Recht. Er ist mit allen Beamten auf Du und Du." - Im zweiten Stock wohnt Frau Fobbe, eine grosse, kr?ftige, energische und brave Frau, Spiritistin, Gesundbeterin und Todfeindin der Engel im Parterre. Im dritten Stock wohnt Frau M?hlhan. Sie sieht aus wie eine gute, alte Eule und legt den M?dchen die Karten. Diese beiden braven Seelen waren ?berzeugt: ,,Herr Haarmann ist bei der Mitternachtsmission. Er tut Gutes an die Obdachlosen. Er f?hrt sie zum Arbeitsnachweis und gibt die armen Jungens zu essen." - In der K?che der Mutter Engel im Parterre wurde S?lze bereitet. Haarmann brachte in einer Sch?ssel, die er mit einem Tuche verdeckt hatte, in kleine W?rfel geschnittenes Fleisch und sch?ttete es in kochendes Wasser. Von dem gekochten Fleisch, das blass aussah und nach seinen Angaben Schweinefleisch sein sollte, f?llte er das Fett ab, gl?hte dieses Fett dann noch einmal aus und f?llte es in Flaschen. Das Fleisch wurde durch eine Fleischmaschine gedreht und dann in die Schale gef?llt. Vor Weihnachten 1923 machte Haarmann in der Engelschen K?che auch einmal Wurst in D?rmen, die angeblich Hammeld?rme sein sollten. Haarmann, der regelm?ssig bei Engels ass, verzehrte diese Wurst gemeinschaftlich mit seinen Wirtsleuten; sie war gut gew?rzt und schmeckte wie Br?genwurst. Auch von der S?lze und dem ausgegl?hten Fett bekam die Familie Engel jedesmal ihren Teil. Aber seit Mitte April 1924 bezogen sie kein Fleisch mehr von Haarmann, weil ihnen danach ?bel wurde und sie es nicht mehr mochten. ?ber die Herkunft dieses Fleisches liess sich gar nichts feststellen. Die Hausgenossen geben an, es sei ihnen aufgefallen, dass Haarmann oft mit Fleischpaketen das Haus verliess, aber nur selten mit Paketen ankam. - Haarmann f?hrte im ?brigen ein gutes Leben und liess viel Geld springen. Er verkehrte mit seinem Liebling Grans in guten Wirtschaften und machte dort manchmal Zechen von 50 bis 60 Mark an einem Tage. Gelegentlich wurden auch D?rchen und Elli mitgenommen. Dann trank man Kognak und Sekt.
Die Entdeckung.
Das Gest?ndnis.
Von nun an ver?nderte sich auch sein Wesen. Der zu Anfang bei all seiner Geschw?tzigkeit voller ,,Verhaltungen" sitzende dumpfe Mensch, schloss gleichsam Klappe nach Klappe seines Gem?tes auf, begann zutunlich, kindlich, ganz aufgetan zu werden, und nur, wenn die Eltern der Gemordeten vor ihm standen, oder sonst etwas Bedrohliches vor ihm aufstieg, oder die Rede kam auf das unmittelbare Durchbeissen der Kehle, oder den dunklen Fleischverkauf, so vereisten sofort wieder die kleinen giftigen Lichter und dummtrotzig, wie maulend oder schmollend, zog er sich wieder in sich zur?ck. Im allgemeinen aber hatte jedermann das Gef?hl, dass dieser Mensch sich wie erl?st f?hlte, weil er ?ber die Dunkelheiten und die grosse Angst seines wirren Trieblebens nun endlich sprechen durfte; ja, es kam etwas wie kindliches Sichaufspielen in seine Berichte, wenn er erz?hlte, wie er durch so lange Jahre die ,,Menschheit" zu t?uschen verstanden habe. Bis zum 16. August 1924 hielt man ihn im Gerichtsgef?ngnis. Dann kam er zur Untersuchung seines Geisteszustandes in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt nach G?ttingen. Die Untersuchung durch den Geheimrat Prof. Schultze wurde abgeschlossen am 25. September 1924. Er kam dann ins Gerichtsgef?ngnis zur?ck, um auch dort noch l?ngere Zeit beobachtet zu werden. Am 4. Dezember begann die Verhandlung vor dem Schwurgericht in Hannover. Die Akten umfassten 60 B?nde. Auf die aus Haarmann herausgen?tigten Angaben hin war inzwischen auch Hans Grans am 8. Juli verhaftet worden. Die beiden hatten einige Male Gelegenheit, sich vor der Verhandlung zu sehen, wobei Haarmann beunruhigt, Grans dagegen ruhig ablehnend und sehr kalt erschien. Grans wurde beschuldigt, nicht nur um die Morde des anderen gewusst zu haben, sondern in mindestens zwei F?llen ihm die Opfer zugef?hrt oder zu ihrer T?tung suggestiv angetrieben zu haben, weil er die Kleider der Gemordeten f?r sich selber begehrte.
Zweiter Teil.
Der Prozess.
Das Gericht.
Das Gerichtsgeb?ude in Hannover, um 1880 im schlechten Geschmack einer falschen Renaissance gebaut, hat einen altmodischen, etwa hundertf?nfzig Personen fassenden Saal. Er ist ?berdeckt mit einem Glasdach, das die Gesichter in mattes Geisterlicht taucht. Am Nordende sitzt das Publikum, an jedem Tage achtzig Personen, zumeist Angeh?rige der Gerichtsherren oder Neugierige, die ihre Zutrittskarten m?hsam nach stundenlangem Stehen erbeten oder sich teuer gekauft haben. Vor der Schranke, die das Publikum abscheidet, stehen einige B?nke f?r die Zeugen und bevorzugte Sitze f?r Vertreter der Beh?rden; den Oberpr?sidenten Noske, den Regierungspr?sidenten v. Velsen, den Polizeipr?sidenten v. Beckerath, den Vertreter des Justizministeriums Dr. Weiss, einige Vertreter der Jugendf?rsorge, der ?rzteschaft, der Polizei. Am S?dende des Saales auf erh?hter Empore thront das Gericht. In der Mitte des langen Tisches der Pr?sident, Landgerichtsdirektor Dr. B?kelmann, am rechten Ende des langen Tisches der Oberstaatsanwalt Dr. Wilde. Daneben der zweite Staatsanwalt Robert Wagenschieffer. Dann zwei beisitzende Richter, Landgerichtsr?te Harten und Kleineberg. Am linken Ende sitzt der Ersatzstaatsanwalt Jasching und der Protokollf?hrer Hossfeld. Eingerahmt von diesen Justizpersonen sitzen hinter dem gr?nen Tische sechs Geschworene und zwei Erg?nzungsgeschworene. Die Geschworenen sind: Landwirt Wesche aus H?pede, Zimmermann Harse aus Bodenwerder, Schneider Untorf aus Pyrmont, Schmied Heise aus Engelbostel, Postassistent Ahrens aus Holzhausen, Korbmacher Ackmann aus Kreiensen. Links an der Fensterseite des Saales ist die Anklagebank. Neben und zwischen den beiden Angeklagten sitzen zwei Sicherheitspolizisten und ein Kriminalassistent. Vor der Anklagebank haben ihren Platz die zwei Offizial-Verteidiger: Justizrat Benfey f?r Haarmann, Rechtsanwalt Lotze f?r Grans. Neben ihnen f?nf Sachverst?ndige: zwei Gerichtschemiker namens Lochte und Feise aus G?ttingen, sowie als psychologische Gutachter: Geheimrat Schultze aus G?ttingen, Gerichtsmedizinalrat und Polizeiarzt Schackwitz und der Gef?ngnisarzt: Gerichtsmedizinalrat Brandt. Gegen?ber an der T?rseite des Saales sitzen 21 ,,Herren von der Presse", neun als Vertreter der in Hannover erscheinenden Lokalbl?tter, f?nf als Vertreter von Telegraphenb?ros, ferner drei Berichterstatter von ausserhannoverschen Zeitungen, ein amerikanischer und ein franz?sischer Berichterstatter, dazu vier Zeichner.
Wie ich handeln w?rde?
Mit diesen Worten ermutigte mich in den schweren Tagen des Prozesses einer der besten Seelenerforscher unserer Tage.
Die Anklage.
Der Er?ffnungsbeschluss ward verlesen. Dem H?ndler Fritz Haarmann wird zur Last gelegt, die folgenden Personen vors?tzlich und mit ?berlegung get?tet zu haben:
Gegen Hans Grans, geboren am 7. Juli 1901 in Hannover, wird die Anklage erhoben, wegen Anstiftung zum Morde in zwei F?llen und eine zweite Anklage wegen gewerbsm?ssiger Hehlerei.
Die beiden Angeklagten.
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