Read Ebook: Heidis Lehr- und Wanderjahre by Spyri Johanna
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Ebook has 849 lines and 54590 words, and 17 pages
Produced by: Mike Pullen and Juliet Sunderland. HTML version by Al Haines.
Heidis Lehr- und Wanderjahre
Johanna Spyri
Inhalt
Zum Alm-?hi hinauf
Vom freundlichen Dorfe Maienfeld f?hrt ein Fussweg durch gr?ne, baumreiche Fluren bis zum Fusse der H?hen, die von dieser Seite gross und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fussweg anf?ngt, beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kr?ftigen Bergkr?utern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fussweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.
Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein grosses, kr?ftig aussehendes M?dchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand f?hrend, dessen Wangen so gl?hend waren, dass sie selbst die sonnverbrannte, v?llig braune Haut des Kindes flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind war trotz der heissen Junisonne so verpackt, als h?tte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine M?dchen mochte kaum f?nf Jahre z?hlen; was aber seine nat?rliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider ?bereinander angezogen und dr?berhin ein grosses, rotes Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine v?llig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit N?geln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiss und m?hsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufw?rts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber H?he der Alm liegt und 'im D?rfli' heisst. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von einer Haust?r und einmal vom Wege her, denn das M?dchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Gr?sse und Fragen im Vorbeigehen, ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten H?uschen angelangt war. Hier rief es aus einer T?r: "Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst."
Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.
"Bist du m?de, Heidi?", fragte die Begleiterin.
"Nein, es ist mir heiss", entgegnete das Kind.
"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig anstrengen und grosse Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde oben", ermunterte die Gef?hrtin.
Jetzt trat eine breite gutm?tig aussehende Frau aus der T?r und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespr?ch gerieten ?ber allerlei Bewohner des 'D?rfli' und vieler umherliegender Behausungen.
"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das hinterlassene."
"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum ?hi, es muss dort bleiben."
"Was, beim Alm-?hi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
"Das kann er nicht, er ist der Grossvater, er muss etwas tun, ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Grossvater das Seinige tun."
"Ja, wenn der w?re wie andere Leute, dann schon", best?tigte die kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das h?lt's nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
"Nach Frankfurt", erkl?rte Dete, "da bekomm ich einen extraguten Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
"Ich m?chte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender Geb?rde aus. "Es weiss ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fuss in eine Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muss sich vor ihm f?rchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht allein begegnet."
"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Grossvater und muss f?r das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu verantworten, nicht ich."
"Ich m?chte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken l?sst. Man sagt allerhand von ihm; du weisst doch gewiss auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's h?rte, so k?me ich sch?n an!"
Aber die Barbel h?tte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem Alm-?hi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm redeten, als f?rchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten doch nicht f?r ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum der Alte von allen Leuten im D?rfli der Alm-?hi genannt wurde, er konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den s?mtlichen Bewohnern sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders als ?hi, was die Aussprache der Gegend f?r Oheim ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem D?rfli hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Pr?ttigau gewohnt, und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen Pers?nlichkeiten aller Zeiten vom D?rfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom D?rfli geb?rtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr; da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz hin?bergezogen, wo sie im grossen Hotel als Zimmerm?dchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren k?nnen, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute dar?ber hinaus sagen; du weisst, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gef?rchtet und ein solcher Menschenhasser war."
"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht pr?zis wissen, ich bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich aber w?sste, dass es nachher nicht im ganzen Pr?ttigau herumk?me, so k?nnte ich dir schon allerhand erz?hlen von ihm; meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt zur?ck; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Pr?ttigau, und dann kann ich schon etwas f?r mich behalten, wenn es sein muss. Erz?hl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anh?re, was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich ?berall um. Der Fussweg machte einige Kr?mmungen, doch konnte man ihn fast bis zum D?rfli hinunter ?bersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
"Jetzt seh ich's", erkl?rte die Barbel; "siehst du dort?", und sie wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die Abh?nge hinauf mit dem Geissenpeter und seinen Geissen. Warum der heut so sp?t hinauff?hrt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser erz?hlen."
"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen", bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm f?r seine f?nf Jahre, es tut seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geissen und die Almh?tte."
"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat", entgegnete eifrig die Dete; "eins der sch?nsten Bauerng?ter im Domleschg hat er gehabt. Er war der ?ltere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der ?ltere wollte nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit b?sem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die Welt hinaus, es weiss kein Mensch wohin, und der ?hi selber, als er nichts mehr hatte als einen b?sen Namen, ist auch verschwunden. Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das Milit?r gegangen nach Neapel, und dann h?rte man nichts mehr von ihm zw?lf oder f?nfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es schlossen sich alle T?ren vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze er keinen Fuss mehr, und dann kam er hierher ins D?rfli und lebte da mit dem Buben. Die Frau muss eine B?ndnerin gewesen sein, die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er musste noch etwas Geld haben, denn er liess den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im D?rfli. Aber dem Alten traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es w?re ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen, nat?rlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel. Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter Grossmutter mit seiner Grossmutter Geschwisterkind gewesen war. So nannten wir ihn ?hi, und da wir fast mit allen Leuten im D?rfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch ?hi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hiess er eben nur noch der 'Alm-?hi'."
"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt die Barbel.
"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen", erkl?rte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draussen in Mels, und sowie er fertig war, kam er heim ins D?rfli und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr kr?ftig und hatte manchmal so eigene Zust?nde gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der ?hi verdient habe f?r sein gottloses Leben, und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Busse tun, aber er wurde nur immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hiess es, der ?hi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel oben im Pf?fferserdorf in die Kost. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu n?hen und flicken verstehe, und fr?h im Fr?hling kam die Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und die mich mitnehmen will; ?bermorgen reisen wir ab, und der Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind ?bergeben? Es nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel vorwurfsvoll.
"Was meinst du denn?", gab Dete zur?ck. "Ich habe das Meinige an dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich kann eines, das erst f?nf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon halbwegs auf der Alm?"
"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel; "ich habe mit der Geissenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter. So leb wohl, Dete, mit Gl?ck!"
Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, w?hrend diese der kleinen, dunkelbraunen Almh?tte zuging, die einige Schritte seitw?rts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich gesch?tzt war. Die H?tte stand auf der halben H?he der Alm, vom D?rfli aus gerechnet, und dass sie in einer kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so bauf?llig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gef?hrliches Darinwohnen sein musste, wenn der F?hnwind so m?chtig ?ber die Berge strich, dass alles an der H?tte klapperte, T?ren und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten und krachten. H?tte die H?tte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie w?re unverz?glich ins Tal hinabgeweht worden.
Hier wohnte der Geissenpeter, der elfj?hrige Bube, der jeden Morgen unten im D?rfli die Geissen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kr?ftigen Kr?uter fressen zu lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtf?ssigen Tierchen wieder herunter, tat, im D?rfli angekommen, einen schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine Geiss auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und M?dchen, denn die friedlichen Geissen waren nicht zu f?rchten, und das war denn den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geissen. Er hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Grossmutter; aber da er immer am Morgen sehr fr?h fortmusste und am Abend vom D?rfli sp?t heimkam, weil er sich da noch so lange als m?glich mit den Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geissenpeter genannt worden war, weil er in fr?heren Jahren in demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzf?llen verungl?ckt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hiess, wurde von jedermann um des Zusammenhangs willen die Geissenpeterin genannt, und die blinde Grossmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen Grossmutter.
Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geissen noch nirgends zu sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein wenig h?her, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter ?bersehen konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen grosser Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen r?ckten die Kinder auf einem grossen Umwege heran, denn der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Str?uchern und Geb?schen f?r seine Geissen zu nagen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind m?hsam nachgeklettert, in seiner schweren R?stung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kr?fte anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit seinen nackten F?ssen und leichten H?schen ohne alle M?he hin und her sprang, bald auf die Geissen, die mit den d?nnen, schlanken Beinchen noch leichter ?ber Busch und Stein und steile Abh?nge hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden nieder, zog mit grosser Schnelligkeit Schuhe und Str?mpfe aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein R?ckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuh?keln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen ?ber das Alltagszeug angezogen, um der K?rze willen, damit niemand es tragen m?sse. Blitzschnell war auch das Alltagsr?cklein weg, und nun stand das Kind im leichten Unterr?ckchen, die blossen Arme aus den kurzen Hemd?rmelchen vergn?glich in die Luft hinausstreckend. Dann legte es sch?n alles auf ein H?ufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geissen und neben dem Peter her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es zur?ckgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht auseinander und schaute zur?ck, und wie er unten das H?uflein Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht f?hlte, fing es ein Gespr?ch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte wissen, wie viele Geissen er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder samt den Geissen oben bei der H?tte an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg und dir neue Str?mpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?"
Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
"Du Ungl?ckstropf!", rief die Base in grosser Aufregung. "Was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das sein?"
"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus ?ber seine Tat.
"Ach du ungl?ckseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zur?ck und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glotze mich an, als w?rst du am Boden festgenagelt."
"Ich bin schon zu sp?t", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu r?hren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide H?nde in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugeh?rt hatte.
"Du stehst ja doch nur und reissest deine Augen auf und kommst, denk ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm her, du musst etwas Sch?nes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein neues F?nferchen hin, das gl?nzte ihm in die Augen. Pl?tzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren S?tzen in kurzer Zeit bei dem H?uflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base r?hmen musste und ihm sogleich sein F?nfrappenst?ck ?berreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht gl?nzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.
"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum ?hi hinauf, du gehst ja auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte, den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der H?tte des Geissenpeter emporragte. Willig ?bernahm dieser den Auftrag und folgte der Voranschreitenden auf dem Fusse nach, den linken Arm um sein B?ndel geschlungen, in der Rechten die Geissenrute schwingend. Das Heidi und die Geissen h?pften und sprangen fr?hlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almh?he, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die H?tte des alten ?hi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zug?nglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der H?tte standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen ?sten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felsen, erst noch ?ber sch?ne, kr?uterreiche H?hen, dann in steiniges Gestr?pp und endlich zu den kahlen, steilen Felsen hinan.
An die H?tte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der ?hi eine Bank gezimmert. Hier sass er, eine Pfeife im Mund, beide H?nde auf seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geissen und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von den anderen ?berholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: "Guten Abend, Grossvater!"
"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zur?ck, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Grossvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gestr?uch, war so verwunderlich anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stille stand und zusah, was sich da ereigne.
"Ich w?nsche Euch guten Tag, ?hi", sagte die Dete hinzutretend, "und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es j?hrig war, habt Ihr es nie mehr gesehen."
"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geissen, du bist nicht zu fr?h; nimm meine mit!"
Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der ?hi hatte ihn angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
"Es muss eben bei Euch bleiben, ?hi", gab die Dete auf seine Frage zur?ck. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu tun."
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