Read Ebook: In St. Jürgen: Novelle (1867) by Storm Theodor
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Ebook has 184 lines and 15087 words, and 4 pages
"Harre, red vern?nftig!" rief ich, "was treibst du f?r Narrenspossen!"
"Ich spreche nur nach, was die Leute vorsprechen!" erwiderte er.
Aber meine Neugierde war geweckt, vielleicht auch die Begierde nach den unterirdischen Reicht?mern, die aller Not ein Ende machen konnten.
"Woher hast du das Gerede?" fragte ich nochmals, "ich habe doch nie davon geh?rt."
Harre sah mich lachend an: "Was weiss ich! von Hans oder Kunz, ich glaub, am letzten Ende kommt es von dem Halunken, dem Goldmacher."
"Von dem Goldmacher?"--Mir kamen allerlei Gedanken. Der Goldmacher war ein herabgekommener Tr?dler; er konnte segnen und raten, Menschen und Vieh besprechen und alle die andern Geheimnisse, womit derzeit noch bei den Leichtgl?ubigen ein eintr?gliches Gesch?ft zu machen war. Es ist derselbe, den sie jetzt den Sp?kenkieker nennen, welchen Namen er grade so gut wie seinen damaligen verdient hat. Er war in den letzten Tagen, da ich eben auf der Aussendiele zu tun hatte, ein paarmal in meines Vaters Schreibstube gegangen und hatte sich dann, ohne auf sein dem?tig gesprochenes "Herr Hansen bei der Hand?" meine Antwort abzuwarten, mit scheuem Blick an mir vorbeigeschoben. Einmal war er fast eine Stunde drinnen gewesen; kurz vor seinem Fortgehen hatte ich das mir wohlbekannte Pult meines Vaters aufschliessen h?ren; dann war mir gewesen, als vernehme ich das Klirren von Geldst?cken. Das alles kam mir jetzt in den Sinn.
Aber Harre r?ttelte mich auf. "Agnes, tr?umst du?" rief er, "Oder willst du Sch?tze graben?" Ach, er kannte nicht die Not meines Vaters; ihm lag nur die eigene Zukunft in Gedanken, in die auch ich hineingeh?rte. Er ergriff meine beiden H?nde und rief fr?hlich: "Wir brauchen keine Sch?tze, Agnes; mein kleines Erbteil hat dein Vater schon f?r mich erhoben; das reicht hin, um Haus und Werkstatt einzurichten. Und f?r das Weitere", f?gte er l?chelnd hinzu, "lass diese nicht ganz ungeschickten H?nde sorgen!"
Ich vermochte seine hoffnungsreichen Worte nicht zu erwidern; der Schatz und der Goldmacher lagen mir im Sinn; ich weiss nicht, war es eine tollk?hne Hoffnung oder der Schatten eines drohenden Unheils, was mir die Brust beklemmte. Vielleicht ahnte es mir, dass kurz darauf der Schatz meines ganzen Lebens in diesen Brunnen fallen w?rde.
Am andern Tage war ich nach einem benachbarten Dorfe hinausgefahren, wo die uns verwandte Predigerfrau sich wegen Erkrankung eines Kindes meine H?lfe erbeten hatte. Aber ich hatte keine Ruhe dort; mein Vater war in den letzten Tagen so still und doch wieder so unruhig gewesen; ich hatte ihn im Garten auf und ab rennen, dann wieder am Brunnen stehen und in die Tiefe hinabstarren sehen; mir wurde angst, er k?nne sich ein Leides antun. Am dritten Tage glaubte ich mich zu entsinnen, dass er mich auf eine seltsam hastige Weise zu der Reise hingedr?ngt hatte; je mehr es gegen die Nacht ging, je beklommener wurde mir. Da gegen zehn Uhr der Mond aufging, so bat ich meinen Vetter, mich noch heute zur Stadt fahren zu lassen. Und so geschah es; nachdem er mir vergebens meine Unruhe auszureden gesucht hatte, wurde angespannt; und als es Mitternacht vom Turme schlug, hielt der Wagen vor unserm Hause. Es schien alles zu schlafen; erst als ich eine Zeitlang geklopft hatte, wurde drinnen die Kette abgehakt, und der Lehrling, der seine Kammer unten auf dem Flur hatte, ?ffnete die Haust?r. Es war alles, wie es immer gewesen. "Ist der Herr zu Haus?" fragte ich.
"Der Herr ist schon um zehn Uhr schlafen gegangen", war die Antwort.
Ich stieg leichteren Herzens nach meiner Kammer hinauf, deren Fenster nach dem Garten lagen.--Die Nacht draussen war so hell, dass ich, ohne Licht zu machen, noch einmal ans Fenster trat. Der Mond stand ?ber der Holunderwand, deren noch unbelaubte Zweige sich scharf gegen den Nachthimmel abzeichneten; und meine Gedanken gingen mit meinen Augen ?ber diese Erde hinaus zu dem grossen liebreichen Gott, dem ich all meine Sorgen anvertraute.--Da, wie ich eben in das Zimmer zur?cktreten wollte, sah ich pl?tzlich aus der R?hre des Brunnens, welcher dort im Schatten lag, eine rote Glut emporlodern; ich sah die am Rande wuchernden Grasb?schel und dann dar?berher die Zweige des Geb?sches wie in goldenem Feuer schimmern. Mich ?berfiel eine abergl?ubische Furcht; denn ich dachte an die Kerze des grauen M?nnleins, das drunten auf dem Grunde hocken sollte. Als ich aber sch?rfer hinblickte, bemerkte ich eine Leiter an der Brunnenwand, von der jedoch nur das oberste Ende von hier aus sichtbar war. Im selben Augenblicke h?rte ich einen Schrei aus der Tiefe; dann ein Gepolter; und ein dumpfes Get?se von Menschenstimmen scholl herauf. Mit einem Male erlosch die Helligkeit; und ich h?rte deutlich, wie es sprossenweise an der Leiter emporklomm.
Die Gespensterfurcht verliess mich; aber statt dessen beschlich mich eine unklare Angst um meinen Vater. Mit zitternden Knien ging ich nach seiner Schlafkammer, die neben der meinen lag. Als ich behutsam die Gardine von seinem Bette zur?ckzog, da beschien der Mond die leeren Kissen; sein armer Kopf hatte wohl schon l?ngst nicht mehr die Ruhe darauf gefunden; jetzt waren sie g?nzlich unber?hrt. In Todesangst lief ich die Treppe hinab nach der Hoft?r; aber sie war verschlossen und der Schl?ssel abgezogen. Ich ging in die K?che und z?ndete Licht an; dann nach der Schreibstube, die ebenfalls ihre Fenster nach dem Garten hatte. Eine Zeitlang stand ich ratlos am Fenster und starrte hinaus; ich h?rte Tritte zwischen den Holunderb?schen, aber ich konnte nichts unterscheiden; denn die dahinterstehende Planke verbreitete trotz des Mondscheins tiefen Schatten. Da h?rte ich draussen die Hoft?r aufschliessen, und bald darauf wurde auch die Stubent?r ge?ffnet. Mein Vater trat herein.--Ich bin so alt geworden, aber ich habe es nicht vergessen; sein langes graues Haar triefte von Wasser oder Schweiss; seine Kleider, die er sonst so peinlich sauber hielt, waren ?berall mit gr?nem Schlamm besudelt.
Er fuhr sichtbar zusammen, als er mich erblickte. "Was ist das! Wie kommst du hieher?" sagte er hart.
"Der Vetter liess mich herfahren, Vater!"
"Um Mitternacht?--Das h?tte er k?nnen bleibenlassen."
Ich sah meinen Vater an; er hatte die Augen niedergeschlagen und stand unbeweglich. "Es liess mir keine Ruhe", sagte ich, "Mir war, ich sei hier n?tig, als m?sse ich zu dir."
Der alte Mann liess sich auf einen Stuhl sinken und bedeckte sein Gesicht mit beiden H?nden. "Geh in deine Kammer", murmelte er; "ich will allein sein."
Aber ich ging nicht. "Lass mich bei dir bleiben", sagte ich leise. Mein Vater h?rte nicht auf mich; er erhob den Kopf und schien nach draussen hinzuhorchen. Pl?tzlich sprang er auf. "Still!" rief er, "h?rst du's?" und sah mich mit weit offenen Augen an.
Ich war ans Fenster getreten und sah hinaus. Es war alles tot und stille; nur die Holunderzweige schlugen, vom Nachtwinde bewegt, gegeneinander. "Ich h?re nichts!" sagte ich.
Mein Vater stand noch immer, als h?re er auf etwas, das ihn mit Entsetzen erf?llte. "Ich meinte, es sei keine S?nde", sprach er vor sich hin; "es ist kein gottloses Wesen dabei, und der Brunnen steht, bis jetzt wenigstens, auf meinem Grund." Dann wandte er sich zu mir. "Ich weiss, du glaubst nicht daran, mein Kind", sagte er, "aber es ist dennoch gewiss; die Rute hat dreimal geschlagen, und die Nachrichten, die ich nur zu teuer habe bezahlen m?ssen, stimmen alle ?berein; es liegt ein Schatz in unserm Brunnen, der zur Schwedenzeit darin vergraben ist. Warum sollte ich ihn nicht heben!--Wir haben die Quelle abged?mmt und das Wasser ausgesch?pft, und heute nacht haben wir gegraben."
"Wir?" fragte ich. "Von welchem andern sprichst du?"
"Es ist nur einer in der Stadt, der das versteht."
"Du meinst doch nicht den Goldmacher? Das ist kein guter Helfer!"
"Es ist nichts Gottloses mit dem Rutenschlagen, mein Kind."
"Aber die es treiben, sind Betr?ger."--Mein Vater hatte sich wieder auf den Stuhl gesetzt und sah wie zweifelnd vor sich hin. Dann sch?ttelte er den Kopf und sagte: "Der Spaten klang schon darauf; aber da geschah etwas"; --und sich unterbrechend, fuhr er fort: "Vor achtzehn Jahren starb deine Mutter; als sie es inne wurde, dass sie uns verlassen m?sse, brach sie in ein bitteres Weinen aus, das kein Ende nehmen wollte, bis sie in ihren Todesschlaf verfiel. Das waren die letzten Laute, die ich aus deiner Mutter Mund vernahm." Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er z?gernd, als scheue er sich vor dem Laut seiner eignen Stimme: "Heute nacht, nach achtzehn Jahren, da der Spaten auf die Kiste stiess, habe ich es wieder geh?rt. Es war nicht bloss in meinem Ohr, wie es all die Jahre hindurch so oft gewesen ist; unter mir, aus dem Grund der Erde kam es herauf.--Man darf nicht sprechen bei solchem Werk; aber mir war, als schnitte das Eisen in deiner toten Mutter Herz.--Ich schrie laut auf, da erlosch die Lampe, und--siehst du", setzte er dumpf hinzu, "deshalb ist alles wieder verschwunden."
Ich warf mich vor meinem Vater auf die Knie und legte meine H?nde um seinen Nacken. "Ich bin kein Kind mehr", sagte ich, "lass uns zusammenhalten, Vater; ich weiss, das Ungl?ck ist in unser Haus gekommen."
Er sagte nichts; aber er lehnte seine feuchte Stirn an meine Schulter; es war das erste Mal, dass er an seinem Kinde eine St?tze suchte. Wie lange wir so gesessen haben, weiss ich nicht. Da f?hlte ich, dass meine Wangen von heissen Tr?nen nass wurden, die aus seinen alten Augen flossen. Ich klammerte mich an ihn. "Weine nicht, Vater", bat ich, "wir werden auch die Armut ertragen k?nnen."
Er strich mit seiner zitternden Hand ?ber mein Haar und sagte leise, so leise, dass ich es kaum verstehen konnte: "Die Armut wohl, mein Kind, aber nicht die Schuld."
Und nun, mein Junge, kam eine bittere Stunde; aber eine, die noch jetzt in meinem Alter mir als die trostvollste meines Lebens erscheint. Denn zum ersten Male konnte ich meinem Vater die Liebe seines Kindes geben; und von jenem Augenblicke an blieb sie ihm das Teuerste und bald auch das letzte, was er auf Erden noch sein nannte. W?hrend ich neben ihm sass und heimlich meine Tr?nen niederschluckte, sch?ttete mein Vater mir sein Herz aus. Ich wusste nun, dass er vor dem Bankerott stand; aber das war das Schlimmste nicht. In einer schlaflosen Nacht, da er vergebens auf seinem heissen Kissen nach einem Ausweg aus dem Elend gesucht, war ihm die halbvergessene Sage von dem Schatz in unserem Brunnen wieder in den Sinn gekommen. Der Gedanke hatte ihn seitdem verfolgt; tags, wenn er ?ber seinen B?chern sass, des Nachts, wenn endlich ein schwerer Schlummer auf seiner Brust lag. In seinen Tr?umen hatte er das Gold im dunkeln Wasser brennen sehen; und wenn er morgens aufgestanden, immer wieder hatte es ihn hinaus an den Brunnen getrieben, um wie gebannt in die geheimnisvolle Tiefe hinabzustarren. Da hatte er sich dem argen Geh?lfen anvertraut. Aber der war keineswegs sogleich bereit gewesen, sondern hatte vor allem eine bedeutende Summe zu den notwendigen Vorbereitungen des Werkes verlangt. Mein Armer Vater hatte schon keinen Willen mehr; er gab sie hin, und bald eine zweite und dritte. Das Traumgold verschlang das wirkliche, das noch in seinen H?nden war; aber dieses Gold war nicht sein eigen; es war das anvertraute Erbe seines M?ndels. An Ersatz war nicht zu denken; wir rieten hin und wider; Verwandte, die uns zu helfen vermocht, hatten wir nicht; dein Grossvater war nicht mehr; endlich gestanden wir uns, dass von aussen keine H?lfe zu hoffen sei.--Das Licht war ausgebrannt, ich hatte meinen Kopf an meines Vaters Brust gelegt, meine Hand ruhte in der seinen; so blieben wir im Dunkeln sitzen. Was dann weiter im geheimen Zwiesprach dieser Nacht zwischen uns gesprochen wurde, ich weiss es nicht mehr. Aber niemals zuvor, da noch mein Vater unfehlbar vor mir stand, wie fast nur unser Herrgott selber, habe ich solch heilige Z?rtlichkeit f?r ihn gef?hlt wie in jener Stunde, da er mir eine Tat vertraut hatte, die wohl nicht bloss vor den Augen der Menschen ein Verbrechen war.--Allgemach erblichen am Himmel draussen die Sterne, ein kleiner Vogel sang aus den Holunderb?schen, und der erste Schein des Morgenrots fiel in das d?mmerige Zimmer. Mein Vater stand auf und trat an das Pult, auf dem seine grossen Kontob?cher lagen. Das lebensgrosse ?lbild des Grossvaters, mit dem Haarbeutel und dem lederfarbenen Kamisol, schien strenge auf den Sohn herabzusehen. "Ich werde noch einmal rechnen", sagte mein Vater, "bleibt das Fazit dasselbe", setzte er z?gernd hinzu, indem er wie um Vergebung flehend zu dem Bilde seines Vaters aufblickte, "dann werde ich einen schweren Gang tun; denn ich bedarf der Barmherzigkeit Gottes und der Menschen."
Auf seinen Wunsch verliess ich jetzt das Zimmer, und bald wurde es laut im Hause; der Tag war angebrochen. Als ich die n?tigen Gesch?fte besorgt hatte, ging ich in den Garten und durch das Hinterpf?rtchen auf den Weg hinaus; Harre pflegte hier vorbeizukommen, wenn er morgens nach der Werkstatt ging, in der er bis jetzt noch arbeitete.
Ich brauchte nicht lange zu warten; als die Uhr sechs geschlagen, sah ich ihn kommen. "Harre, einen Augenblick!" sagte ich und winkte ihm, mit mir in den Garten zu treten.
Er sah mich befremdet an; denn meine b?se Botschaft war wohl auf meinem Gesicht geschrieben; auch stand ich, als ich ihn in eine Ecke des Gartens gezogen hatte, eine ganze Zeit und hatte seine Hand gefasst, ohne dass ich ein Wort hervorbringen konnte. Endlich aber sagte ich ihm alles, und dann bat ich ihn: "Mein Vater will zu dir gehen; sei nicht zu hart mit ihm."
Er war totenblass geworden, und in seine Augen trat ein Ausdruck, vielleicht nur der Verzweiflung, der mich erschreckte.
"Harre, Harre, was willst du mit dem alten Mann beginnen?" rief ich.
Er dr?ckte die Hand gegen seine Brust. "Nichts, Agnes", sagte er, indem er mich traurig l?chelnd ansah; "aber ich muss nun fort von hier."
Ich erschrak.--"Weshalb?" fragte ich stammelnd.
"Ich darf deinen Vater nicht wiedersehen."
"Du wirst ihm ja doch vergeben, Harre!"
"Das wohl, Agnes; ich schulde ihm mehr als das; aber--er soll sein graues Haupt vor mir nicht dem?tigen. Und dann"--das setzte er wie beil?ufig noch hinzu--, "ich glaube auch, es geht jetzt mit dem Meisterwerden nicht."
Ich sagte nichts hierauf; ich sah nur, wie das Gl?ck, nach dem ich gestern schon die Hand gestreckt, in unsichtbare Ferne schwand; aber es war nichts mehr zu ?ndern; es war jetzt am besten so, wie es Harre wollte. Nur das sagte ich noch: "Wann wirst du gehen, Harre?" Ich wusste selbst kaum, was ich sprach.
"Sorge nur, dass dein Vater mich heute nicht aufsucht", erwiderte er; "bis morgen fr?h bin ich mit allem fertig, was ich noch hier zu tun habe. Kr?nke dich auch nicht um mich, ich finde leicht ein Unterkommen."
Nach diesen Worten trennten wir uns; das Herz war wohl zu voll, als dass wir Weiteres h?tten sprechen k?nnen."--Die Erz?hlerin schwieg eine Weile. Dann sagte sie: "Am andern Morgen sah ich ihn noch einmal, und dann nicht mehr; das ganze lange Leben niemals mehr."
Sie liess den Kopf auf ihre Brust sinken; die H?nde, die auf ihrem Schoss geruht hatten, wand sie leise umeinander, als m?sse sie damit das Weh beschwichtigen, das, wie einst das Herz des jungen blonden M?dchens, so noch jetzt den gebrechlichen Leib der Greisin zittern machte.
Doch sie blieb nicht lange in dieser gebrochenen Stellung; sich gewaltsam aufraffend, erhob sie sich vom Stuhl und trat ans Fenster. "Was will ich klagen!" sagte sie und zeigte mit dem Finger auf die Scheibe, die ihres Vaters Namen trug. "Der Mann hat mehr gelitten als ich. Lass mich auch das dir noch erz?hlen."--Harre war fort; er hatte von meinem Vater in einem herzlichen guten Briefe Abschied genommen; gesehen haben sie sich nicht mehr. Bald darauf waren die letzten gerichtlichen Schritte gegen uns getan, und die Er?ffnung des Konkurses sollte in n?chster Zeit erfolgen.
Es war damals Sitte in unserer Stadt, dass alle ?ffentlichen Bekanntmachungen nicht wie jetzt durch den Prediger in der Kirche, sondern aus dem offenen Fenster des Ratssitzungssaales durch den Stadtsekret?r verlesen wurden; bevor aber dies geschah, wurde eine halbe Stunde lang mit der kleinen Glocke vom Turm gel?utet. Da unser Haus dem Rathause gegen?ber lag, so hatte ich dies oft beobachtet, und auch, wie sich unter dem Glockenschall Kinder und m?ssige Leute vor den Rathausfenstern und auf der Treppe ?ber dem Ratskeller versammelten. Das n?mliche geschah bei der Publizierung eines Konkursurtels; aber die Leute legten dann der Sache eine ?ble Bedeutung unter, und das Wort "Die Glocke hat ?ber ihn gel?utet", galt f?r einen Schimpf.--Ich hatte auch in solchen F?llen ohne viel Gedanken hingeh?rt; jetzt zitterte ich vor dem Eindruck, den dieser Vorgang auf das Gem?t meines ohnehin tiefgebeugten Vaters machen w?rde.
Er hatte mir vertraut, dass er sich deshalb durch einen befreundeten Ratsherrn an den B?rgermeister gewandt habe; und der Ratsherr, ein gutm?tiger Schw?tzer, hatte ihm die Zusicherung gegeben, dass die Publikation diesmal ohne die Glocke geschehen w?rde. Ich selbst aber wusste aus sicherer Quelle, dass diese Zusicherung eine grundlose war. Dennoch liess ich meinen Vater in seinem arglosen Glauben und bem?hte mich nur, ihn f?r diesen Tag zu einer kleinen Reise aufs Land zu unsern Verwandten zu bereden. Aber er wollte, wie er mit schmerzlichem L?cheln sagte, sein sinkendes Schiff nicht vor dem v?lligen Untergang verlassen. Da, in meiner Angst, fiel mir ein, dass ich in dem hintersten Verschlage unseres sehr tiefen und gew?lbten Kellers die Glocke niemals hatte schlagen h?ren. Darauf baute ich meinen Plan. Es gelang mir auch, meinen Vater zu bereden, mit mir gemeinschaftlich ein Verzeichnis ?ber die dort lagernden Waren aufzunehmen, wodurch, wenn sp?ter die Gerichtspersonen zur Aufnahme des Inventars k?men, eine Abk?rzung dieses traurigen Gesch?fts herbeigef?hrt w?rde.
Als die verh?ngnisvolle Stunde kam, waren wir schon l?ngst unter der Erde bei unserer Arbeit. Mein Vater sortierte die Waren, ich beim Schein einer Laterne schrieb auf ein Blatt Papier, was er mir diktierte. Ein paarmal war mir wohl gewesen, als h?rte ich von fern das Summen einer Glocke; dann sprach ich ein paar laute Worte, bis das Schieben und R?cken mit den F?ssern und Kisten allen von aussen eindringenden Schall wieder verschlang. Alles schien gut zu gehen, mein Vater war ganz in seine Arbeit vertieft. Da h?rte ich pl?tzlich droben die Kellert?r aufreissen; die alte Magd rief, ich weiss nicht mehr weshalb, nach mir, und zugleich drangen auch die klaren Schallwellen der Glocke zu uns herab. Mein Vater horchte auf und setzte die Kiste, die er in den H?nden hatte, auf den Boden. "Die Schandglocke!" st?hnte er und fiel wie kraftlos gegen die Wand. "Es wird mir nichts erspart."--Aber nur einen Augenblick; dann richtete er sich auf, und ehe ich noch Zeit bekam, ein Wort zu reden, hatte er schon den Raum verlassen, und gleich darauf h?rte ich ihn die Kellertreppe hinaufsteigen. Auch ich ging jetzt in das Haus hinauf und fand meinen Vater, nachdem ich ihn vergebens in der Schreibstube gesucht, im Wohnzimmer mit gefalteten H?nden am offnen Fenster stehen. In diesem Augenblick h?rte das Glockenl?uten auf; im Rathaus dr?ben, das von der hellen Morgensonne beleuchtet war, wurden die drei Fensterfl?gel aufgestossen, und ich sah den Stadtdiener die roten Polster auf die Fensterb?nke legen; an dem Eisengel?nder der Ratstreppe hing schon ein ganzer Schwarm von halberwachsenen Buben. Mein Vater stand unbeweglich und sah mit gespannten Augen zu. Ich wollte ihn mit sanften Worten fortziehen. Aber er wehrte mir. "Lass nur, mein Kind", sagte er, "das geht mich an, ich muss das h?ren."
So blieb er denn. Der alte Stadtsekret?r mit seinem weissgepuderten Kopf erschien dr?ben in dem Mittelfenster, und w?hrend ihm zur Seite zwei Ratsherren auf den roten Kissen lehnten, verlas er mit seiner scharfen Stimme aus einem Blatt Papier, das er in beiden H?nden vor sich hielt, das Konkursurtel. Bei der klaren Fr?hlingsluft drang jedes Wort verst?ndlich zu uns her?ber. Als mein Vater seinen vollen Namen ?ber den Markt hinaussprechen h?rte, sah ich ihn zusammenzucken; aber er hielt dennoch stand, bis alles vor?ber war. Dann zog er seine goldene Uhr, die er von seinem Vater ererbt hatte, aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. "Sie geh?rt zur Konkursmasse", sagte er, "Schliesse sie in die Schatulle, damit sie morgen mit versiegelt werde."
Am andern Tage kamen die Herren zur Versiegelung; aber mein Vater konnte das Bett nicht verlassen; er war in der Nacht vom Schlage getroffen worden. --Als einige Monate sp?ter unser Haus verkauft war, wurde er in einem Tragkorb, den wir aus dem Krankenhause geliehen, nach der kleinen Wohnung gebracht, die wir am Ende der Stadt f?r uns gemietet hatten. Dort hat er noch neun Jahre gelebt; ein gel?hmter und gebrochener Mann. In seinen guten Stunden besorgte er kleine Rechnungen und Schreibereien f?r andere; das meiste habe ich mit meiner H?nde Arbeit verdienen m?ssen. Dann aber ist er in fester Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes in meinen Armen sanft verschieden.--Nach seinem Tode kam ich zu guten Leuten; es war das Haus deiner Grosseltern."
Meine alte Freundin schwieg. Ich aber dachte an Harre.--"Und hast du denn", fragte ich, "w?hrend der ganzen Zeit auch niemals eine Nachricht von deinem Jugendfreunde erhalten?"
"Niemals, mein Kind", erwiderte sie.
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