Read Ebook: Die Erziehung des Menschengeschlechts by Lessing Gotthold Ephraim
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Ebook has 211 lines and 8983 words, and 5 pages
Die Erziehung des Menschengeschlechts
Gotthold Ephraim Lessing
Haec omnia inde esse quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt. Augustinus.
Herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing Berlin, 1780
Vorbericht des Herausgebers.
Ich habe die erste H?lfte dieses Aufsatzes in meinen Beytr?gen bekannt gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen.
Der Verfasser hat sich darum auf einen H?gel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu ?bersehen glaubt.
Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen w?nscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, dass die Aussicht, die ihn entz?cket, auch jedes andere Auge entz?cken m?sse.
Und so, d?chte ich, k?nnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt!
Wenn er aus der unermesslichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verh?llt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrachte, um den ich oft verlegen gewesen!
Ich meyne diesen.--Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln k?nnen, und noch ferner entwickeln soll; als ?ber eine derselben entweder l?cheln, oder z?rnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott h?tte seine Hand bey allem im Spiele: nur bey unsern Irrth?mern nicht?
?. 1.
Was die Erziehung bey dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bey dem ganzen Menschengeschlechte.
?. 2.
Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.
?. 3.
Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der P?dagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in der Theologie kann es gewiss sehr grossen Nutzen haben, und viele Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet.
?. 4.
Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben k?nnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben k?nnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst ?berlassen, nicht auch kommen w?rde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur fr?her.
? 5.
Und so wie es der Erziehung nicht gleichg?ltig ist, in welcher Ordnung sie die Kr?fte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bey seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maass halten m?ssen.
?. 6.
Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgetheilte, und nicht erworbene Begriff, unm?glich lange in seiner Lauterkeit bestehen. Sobald ihn die sich selbst ?berlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermesslichen in mehrere Ermesslichere, und gab jedem dieser Theile ein Merkzeichen.
?. 7.
So entstand nat?rlicher Weise Vielg?tterey und Abg?tterey. Und wer weiss, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in diesen Irrwegen w?rde herumgetrieben haben; ohngeachtet ?berall und zu allen Zeiten einzelne Menschen erkannten, dass es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen h?tte, ihr durch einen neuen Stoss eine bessere Richtung zu geben.
?. 8.
Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren konnte, noch wollte: so w?hlte er sich ein einzelnes Volk zu seiner besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu k?nnen.
?. 9.
Diess war das Israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiss, was es f?r einen Gottesdienst in Aegypten hatte. Denn an dem Gottesdienste der Aegyptier durften so verachtete Sklaven nicht Theil nehmen: und der Gott seiner V?ter war ihm g?nzlich unbekannt geworden.
?. 10.
Vielleicht, dass ihm die Aegyptier allen Gott, alle G?tter ausdr?cklich untersagt hatten; es in den Glauben gest?rzt hatten, es habe gar keinen Gott, gar keine G?tter; Gott, G?tter haben, sey nur ein Vorrecht der bessern Aegyptier: und das, um es mit so viel gr?sserm Anscheine von Billigkeit tyrannisiren zu d?rfen.--Machen Christen es mit ihren Sklaven noch itzt viel anders?--
?. 11.
Diesem rohen Volke also liess sich Gott anfangs blos als den Gott seiner V?ter ank?ndigen, um es nur erst mit der Idee eines auch ihm zustehenden Gottes bekannt und vertraut zu machen.
?. 12.
Durch die Wunder, mit welchen er es aus Aegypten f?hrte, und in Kanaan einsetzte, bezeugte er sich ihm gleich darauf als einen Gott, der m?chtiger sey, als irgend ein andrer Gott.
?. 13.
Und indem er fortfuhr, sich ihm als den M?chtigsten von allen zu bezeugen--welches doch nur einer seyn kann,--gew?hnte er es allm?lig zu dem Begriffe des Einigen.
?. 14.
Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen, noch unter dem wahren transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so sp?t erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schliessen lernen!
?. 15.
Zu dem wahren Begriffe des Einigen--wenn sich ihm auch schon die Besserern des Volks mehr oder weniger n?herten--konnte sich doch das Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, warum es so oft seinen Einigen Gott verliess, und den Einigen, d. i. M?chtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden glaubte.
?. 16.
Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so v?llig in seiner Kindheit war, was war es f?r einer moralischen Erziehung f?hig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen.
?. 17.
Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zusammen. Noch konnte Gott seinem Volke keine andere Religion, kein anders Gesetz geben, als eines, durch dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung es hier auf Erden gl?cklich oder ungl?cklich zu werden hoffte oder f?rchtete. Denn weiter als auf dieses Leben gingen noch seine Blicke nicht. Es wusste von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem k?nftigen Leben. Ihm aber nun schon diese Dinge zu offenbaren, welchen seine Vernunft noch so wenig gewachsen war: was w?rde es bey Gott anders gewesen seyn, als der Fehler des eiteln P?dagogen, der sein Kind lieber ?bereilen und mit ihm prahlen, als gr?ndlich unterrichten will.
?. 18.
Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so rohen Volkes, eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen musste? Ich antworte: um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel sichrer zu Erziehern aller ?brigen V?lker brauchen zu k?nnen. Er erzog in ihm die k?nftigen Erzieher des Menschengeschlechts. Das wurden Juden, das konnten nur Juden werden, nur M?nner aus einem so erzogenen Volke.
?. 19.
Denn weiter. Als das Kind unter Schl?gen und Liebkosungen aufgewachsen und nun zu Jahren des Verstandes gekommen war, stiess es der Vater auf einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es in seines Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte.
?. 20.
W?hrend dass Gott sein erw?hltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung f?hrte: waren die andern V?lker des Erdbodens bey dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. Die meisten derselben waren weit hinter dem erw?hlten Volke zur?ckgeblieben: nur einige waren ihm zuvorgekommen. Und auch das geschieht bey Kindern, die man f?r sich aufwachsen l?sst; viele bleiben ganz roh; einige bilden sich zum Erstaunen selbst.
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