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Read Ebook: Der Sozialismus einst und jetzt Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart by Bernstein Eduard

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Ebook has 325 lines and 62095 words, and 7 pages

Drittes Kapitel.

Die Bedeutung der Werttheorien f?r den wissenschaftlichen Sozialismus.

Die Ableitung des Sozialismus von naturrechtlichen Betrachtungen steht in engem Zusammenhang mit der Ableitung des Sozialismus von der Lehre vom Arbeitswert, das heisst von der Werttheorie, wie sie von Ricardo aufgestellt und von Marx weiter entwickelt worden ist. David Ricardo geht in seiner Werttheorie aus von dem Wert der Waren, die auf dem Markt gehandelt werden und nicht ein Seltenheitsmonopol haben, sondern verh?ltnism?ssig -- auch da gibt es ja Grenzen -- beliebig vermehrt werden k?nnen. Der Markt- oder Tauschwert dieser Waren, weist er nach, besteht in der zu ihrer Herstellung erforderten menschlichen Arbeit, gemessen nach der Zeit, die auf die Arbeit verwandt wird. Die Feststellung ist das Bedeutende an der Werttheorie Ricardos. Auch sie ist nicht v?llig neu aus seinem Haupt entsprungen. Man kann S?tze, die den Gedanken ann?hernd aussprechen, schon bei Vorg?ngern Ricardos im 17. Jahrhundert finden. Aber mit der wahrhaft klassischen Klarheit hat erst Ricardo ihn formuliert. Es gibt zwei Arten Wert, stellt er fest: Gebrauchswert oder N?tzlichkeitswert und Tauschwert oder Marktwert der Ware. Die N?tzlichkeit ist die Voraussetzung des Tauschwertes, aber sie bestimmt ihn nicht. Soweit Waren beliebig produziert werden k?nnen, ist die Aufwendung von Arbeit das f?r ihren Tauschwert Massgebende, wobei die Konkurrenz auf dem Markt den Ausgleich bewirkt. Selbstverst?ndlich ist nicht alle Arbeit gleich. Qualifizierte Arbeit l?st sich auf in verschiedene Bestandteile einfacher Arbeit. Nicht jede Arbeit ist ferner gleich wertbildend. Die Arbeit muss auf der H?he der Technik der allgemeinen Produktionsentwicklung stehen.

Aber dabei blieb es nicht. Die Theorie Ricardos wurde bald gegen die Unternehmer ?berhaupt, auch gegen die industriellen Kapitalisten gekehrt. Es begann ein Streit um die Definition des Begriffs >>Arbeit<<. Ricardo begreift in ihn ein die T?tigkeit des Unternehmers, der Lohnarbeiter und der Angestellten, so dass der Wert bestimmt wird bei ihm eigentlich nicht durch die Arbeit des Lohnarbeiters, des physischen und geistigen Arbeiters, sondern das Produkt ist von dieser Arbeit und dem Unternehmerprofit zusammen. Sehr bald kehrten aber Sozialisten die Spitze gegen Ricardo als einen Verteidiger der Kapitalisten. Sie erkl?rten: nein, f?r den Wert ist die Arbeit allein massgebend, die Arbeit der wirklich Arbeitenden, nicht der Anspruch des Kapitalisten. Der Unternehmerprofit ist auch nur ein Abzug vom Arbeitswert.

Der Streit um den Mehrwert, der in der Grundrente steckt, ist nicht ein rein theoretisches Spiel, sondern der Niederschlag des Kampfes um die Bestimmung fast der ganzen Agrargesetzgebung einschliesslich der Zollgesetzgebung in bezug auf Agrarprodukte. Der Kampf in der freien wirtschaftlichen Konkurrenz um den Mehrwert ist es wiederum, der dahin f?hrt, dass, wenn der Druck auf die L?hne nicht m?glich ist, um die Produktion zu verbilligen, die technische Herstellungsweise immer mehr vervollkommnet wird. Er f?hrt ferner dazu, dass der Unternehmer, um andere Unternehmer aus dem Felde zu schlagen, sich gen?tigt sieht, die Unternehmung immer mehr zu vergr?ssern, damit ein relativ kleinerer Anteil an den Kosten auf den Lohn entf?llt und ein relativ gr?sserer Mehrwert verbleibt. Hierum aber spielt auch der Kampf der Unternehmer und Arbeiter selber, und als solcher spitzt er sich nach verschiedenen Seiten hin zu. So ist der Kampf um den Mehrwert in der kapitalistischen Gesellschaft gewissermassen die zuletzt bestimmende Triebkraft aller grossen wirtschaftlichen Bewegungen, hinter denen, durch sie hervorgerufen, die grossen politischen K?mpfe, die Klassenk?mpfe, stehen.

Die Umkehrung der Lehre vom Arbeitswert gegen Ricardo und die ganze b?rgerliche ?konomie setzt in England schon um das Jahr 1821 ein. Marx zitiert selbst eine in jenem Jahre erschienene kleine anonyme Schrift, deren Titel, ins Deutsche ?bersetzt, ungef?hr lautet: >>Die Quelle und das Abhilfsmittel unserer nationalen Schwierigkeit. Ein Brief an Lord John Russell<<. Sie ward also 26 Jahre fr?her verfasst, bevor Marx seine erste ?konomische Abhandlung schrieb, die gegen Proudhon gerichtete Streitschrift >>Das Elend der Philosophie<<, und 45 Jahre vor seinem >>Kapital<<. In dieser Schrift, was ganz interessant ist, heisst es:

>>Was auch dem Kapitalisten zukommen m?ge, er kann immer nur die Mehrarbeit des Arbeiters sich aneignen, denn der Arbeiter muss leben. Wenn das Kapital nicht an Wert abnimmt im Verh?ltnis, wie es an Masse zunimmt, so wird der Kapitalist dem Arbeiter das Produkt jeder Arbeitsstunde abpressen ?ber das Mindestmass dessen, wovon der Arbeiter leben kann.<<

Da haben wir auch den Gedanken der Theorie des ehernen Lohngesetzes, wie Lassalle es seiner Agitation zugrunde legte, und wie es lange Jahre von der deutschen Arbeiterbewegung gleich einem Heiligtum hochgehalten wurde. Die zwanziger und dreissiger Jahre des 19. Jahrhunderts sind ja die Bl?tezeit, auch die geistige Bl?tezeit des Sozialismus in England. Sie zeitigte eine ausserordentlich interessante sozialistische Literatur, sozialistische Schriften Robert Owens selbst, der William Thompson, John Gray, T. R. Edmonds, J. F. Bray und noch einer ganzen Reihe Schriftsteller aus der Schule Robert Owens. Sie alle fussen darauf: Der Arbeiter bekommt nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit, die Arbeit und nicht der Arbeitslohn bestimmt den Wert der Ware, infolgedessen hat der Arbeiter auf den vollen Wert des Produkts Anspruch.

Karl Marx hatte sein grosses Werk ?ber politische ?konomie schon um 1849 in Angriff genommen, ging aber erst 1859 daran, es zu ver?ffentlichen. Es sollte in Lieferungen bzw. Heften erscheinen. Aber nur das erste Heft ist damals erschienen, n?mlich die Schrift >>Zur Kritik der politischen ?konomie<<, und in ihr wird vom Verh?ltnis des Arbeitslohns zum Arbeitswert noch gar nicht n?her gehandelt.

Es ist beil?ufig ein bemerkenswertes Zusammentreffen, dass dieses Buch von Marx, in dessen Vorwort er die Grundgedanken seiner Geschichtstheorie entwickelt, die wir als soziologische oder sozialwissenschaftliche Entwicklungslehre kennen, in demselben Jahre herauskam, wo das erste bahnbrechende Buch von Charles Darwin erschienen ist: >>Der Ursprung der Arten<<, das grundlegend war f?r die biologische Entwicklungslehre, die Wissenschaft von der Metamorphose der Lebewesen. Wenn die Darwinschen Aufstellungen heute auch in vielen Punkten umgeworfen sind, so ist der Grundgedanke seiner Theorie doch beibehalten; er bleibt der Vater der biologischen Entwicklungslehre. Und ebenso mit Marx. Was bei Darwin f?r die Entstehung und Entwicklung der Arten der Kampf ums Dasein in der Natur ist, ist bei Marx f?r die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften der Kampf der Klassen in der Gesellschaft. Beider Theorien sind grunds?tzlich auf den Kampf gest?tzte Entwicklungslehren.

In dem Buche >>Zur Kritik der politischen ?konomie<< nun findet man von Marx an einer Stelle, wo er die damaligen Angriffe auf die Ricardosche Werttheorie auseinandersetzt und die aus ihr sich ergebenden Probleme formuliert, folgenden Satz:

>>Wenn der Tauschwert eines Produktes gleich ist der in ihm enthaltenen Arbeitszeit, dann ist der Tauschwert eines Arbeitstages gleich seinem Produkt, oder der Arbeitslohn muss dem Produkt der Arbeit gleich sein. Nun ist das Gegenteil der Fall.<<

Und dazu setzt Marx die Fussnote:

>>Dieser von ?konomischer Seite gegen Ricardo beigebrachte Einwand ward sp?ter von sozialistischer Seite aufgegriffen. Die theoretische Richtigkeit der Formel vorausgesetzt, wurde die Praxis des Widerspruches gegen die Theorie bezichtigt und die b?rgerliche Gesellschaft angegangen, praktisch die vermisste Konsequenz ihres theoretischen Prinzips zu ziehen. In dieser Weise kehrten wenigstens englische Sozialisten die Ricardosche Formel des Tauschwertes gegen die politische ?konomie.<<

Ganz anders Marx. Er hat die Werttheorie, die er bei Ricardo vorfand, konsequent weitergebildet, aber nicht, um aus der Lehre vom Mehrwert Rechtsanspr?che herzuleiten, sondern um die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft sch?rfer zu erfassen und darzustellen. Das unterscheidet ihn von fast allen anderen Sozialisten, die an Ricardo angekn?pft haben, und nicht zum wenigsten von Rodbertus und Lassalle.

Rodbertus hat schon in seiner 1842 erschienenen Schrift >>Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zust?nde<< und sp?ter in seinen >>Sozialen Briefen<< an die Werttheorie von Ricardo angekn?pft und sie ganz in der naturrechtlichen Auffassung der franz?sischen und englischen Sozialisten so ausgelegt, dass dem Arbeiter schon dadurch, dass er Lohn statt den vollen Ertrag erh?lt, etwas weggenommen wird, was ihm von Rechts wegen zukommt. Lassalle legt die Idee seinem im Jahre 1863 erschienenen >>Offenen Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses<< zugrunde und entwickelt sie ein Jahr sp?ter sehr eingehend in seiner Streitschrift: >>Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ?konomische Julian<<. Er steht da vollst?ndig auf den Schultern von Ricardo und vermeintlich auch auf den Schultern von Marx. Schon im Briefe vom 12. Mai 1851 an Marx nennt er diesen den >>Sozialist gewordenen Ricardo<<, und in demselben Briefe sagt er: >>Ricardo ist unser unmittelbarer Vater!<< und r?hmt die Definition der Grundrente, die Ricardo gegeben hat, als die >>gewaltigste kommunistische Tat<<. Ihm, der vor allem Rechtstheoretiker war, lag es eben ganz besonders nahe, den Sozialismus aus der Mehrwertstheorie juristisch abzuleiten. In der Agitation diente ihm diese Ableitung zur Unterst?tzung des von ihm als ehern bezeichneten Lohngesetzes Ricardos, wonach der Lohn des Arbeiters nie viel h?her ?ber dessen notwendige Lebensbed?rfnisse steige und nie lange Zeit wesentlich darunter bleiben k?nne, beil?ufig eine Deduktion, die mehr malthusianisch als ?konomisch ist. Auf sie beriefen sich aber, ihm folgend, dann jahrzehntelang die Agitatoren beider Richtungen der deutschen Sozialdemokratie, die spezifischen Lassalleaner wie auch die Sozialisten der Eisenacher Richtung von Bebel und Liebknecht, die im ?brigen sich gegen Lassalles Mittel wandten, das darauf hinauslief, die Mehrarbeit zu beseitigen durch die Schaffung von Produktivgenossenschaften der Arbeiter mit Staatskredit. Diese Idee der Produktivgenossenschaften stammte gleichfalls von den englischen Sozialisten. In den f?nfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sind in England grosse Versuche mit einem verh?ltnism?ssig ziemlich bedeutenden Aufwand von Kapital mit ihr gemacht worden. Wohlmeinende christliche Sozialisten Englands haben ?ber eine Million Mark hergegeben f?r Produktivgenossenschaften. Aber diese Sch?pfungen sind entweder zugrunde gegangen oder sie haben ihren Charakter ge?ndert und sind kapitalistische Unternehmungen geworden. In Deutschland war man dar?ber nicht genauer unterrichtet, und als 1875 die beiden sozialistischen Parteien sich vereinigten, fand sich in dem Entwurf des Programms f?r die neue Partei im Anschluss an die Forderung der >>Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes<< der Satz:

>>Die Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zum Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertrages.<<

Wie Marx den ganzen Entwurf in einem Briefe an August Bebel und Genossen ?usserst abf?llig kritisierte, so auch speziell diesen Satz von der gerechten Verteilung des Arbeitsertrages, der nach seiner Meinung gar nichts besagte. Die Ableitung vom ehernen Lohngesetz bezeichnet er als utopistisch. ?ber die Forderung der gerechten Verteilung sagt er:

>>Das Recht kann nie h?her sein als die ?konomische Gestaltung und die dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft<<,

und er tadelt es auf das sch?rfste, dass man im Programm Vorstellungen Ausdruck gebe, die einmal obwaltet und deshalb einen gewissen Sinn hatten, aber im Angesicht der neugewonnenen Erkenntnis zum veralteten Phrasenkram geh?ren. Der Brief ist ungemein interessant, aber er ist zu jener Zeit bei der endg?ltigen Fassung des sozialdemokratischen Programms wenig ber?cksichtigt worden. Ohne den Namen zu nennen, richtete er sich wesentlich gegen Wilhelm Liebknecht, den hochverdienten Vork?mpfer der Sozialdemokratie, der lange Jahre hindurch in Deutschland als der berufene Interpret von Karl Marx galt. Das war er aber auf theoretischem Gebiet ganz und gar nicht. Er war vielmehr wesentlich naturrechtlicher Sozialist im Geiste der Franzosen, und daher wenig in den Sinn der Marxschen Lehre eingedrungen. Der Brief, der, wie gesagt, nur wenig auf die Gestaltung des damals vereinbarten Programms der Sozialdemokratie eingewirkt hat, geriet in Vergessenheit, bis im Jahre 1890, als die Sozialdemokratie von neuem vor der Aufgabe stand, ein Programm zu schaffen, Friedrich Engels ihn mit allen seinen Sch?rfen in der >>Neuen Zeit<< ver?ffentlichte.

Die Frage aber, um die es sich hier dreht, blieb eine Streitfrage des Sozialismus. Und zwar nicht so sehr eine Streitfrage ?ber den Mehrwert und dergleichen, denn der war ja eine nachweisbare Tatsache. Dass der Arbeiter im allgemeinen einen h?heren Wert erarbeiten muss, als er im Lohn bekommt, das liess sich sehr leicht nachweisen. Will man es sich heute greifbar veranschaulichen, so lese man die Statistik der Aktion?re. Die Aktion?re sind eigentlich der herumwandelnde Mehrwert, ob sie nun sozialrechtlich Anspruch auf ihn haben oder nicht. Wie man die Aktion?re, d. h. die Leute, die ihr Geld in den Aktien von gewerblichen Unternehmungen anlegen, sozialrechtlich beurteilt, ob man auf sie als Schmarotzer ver?chtlich zu blicken hat, oder ob man sagen kann, sie sind zeitweise eine grosse Notwendigkeit gewesen und auch heute noch nicht entbehrlich, das ist eine Frage f?r sich. Zu ihrer Beleuchtung sei hier eine kleine Episode erw?hnt. Der deutsche Reichstag verhandelte im Jahre 1906 ?ber die vom damaligen Reichsschatzsekret?r ausgearbeitete Finanzaufbesserung. Sie schlug zum ersten Male eine Reichserbschaftssteuer vor, und die Sozialdemokratische Partei, deren Mitglied ich bin, hatte, weil sie Gegnerin aller indirekten Steuern und Z?lle war, h?here S?tze als der Minister f?r die Erbschaftssteuer beantragt. Mir fiel die Aufgabe zu, diese Forderung zu vertreten, und ich wies dabei darauf hin, dass damals schon eine Verteilung des Eigentums eingetreten sei, welche die M?glichkeit biete, die f?r die notwendige Entwicklung der Grossproduktion erforderten Betriebskapitale auf genossenschaftlichem Wege aufzubringen, und verwies hierf?r auf die starke Verbreitung des Aktienwesens. Der grosse Kapitalist habe eine notwendige Funktion erf?llt in der Beschaffung der Mittel f?r die Erweiterung der Produktion zu der Zeit, wo eine andere Form der Kapitalbildung nicht da war. Das sei aber zum Teil schon ?berwunden, und man k?nne infolgedessen schon dreister zugreifen bei der Besteuerung der grossen Verm?gen und Erbschaften. Da antwortete mir ein nationalliberaler westf?lischer Abgeordneter, das klinge sehr sch?n, aber es sei doch falsch, denn wenn kleine Leute die Mittel zusammenschiessen, w?rden sie nie den Unternehmergeist und den Wagemut aufbringen, der erforderlich sei, sich auf so weitschichtige Unternehmungen einzulassen, wie die Grosskapitalisten es t?ten. Wer bem?ht ist, objektiv zu urteilen und sich nicht durch seine eigenen Parteianschauungen den wissenschaftlichen Blick blenden l?sst, der muss zugeben, dass ein St?ck an dieser Antwort richtig war. Namentlich wenn man anerkennt, dass zur fortschreitenden Entwicklung der Volkswirtschaft -- solange nicht der Staat und die Allgemeinheit daf?r sorgen, dass ihre Organe nicht im Bureaukratismus versumpfen --, dass zum Fortschritt der Gesellschaft in entscheidender Linie die Fortentwicklung der Produktion durch best?ndige Verbesserung der Maschinerie und grossz?gige, weitblickende Versuche geh?ren, muss man sich sagen, dass ein St?ck von jener Antwort wahr ist, und der Streit k?nnte nur darum gehen: Wieviel davon ist noch wahr, und wieviel ?berlebt?

Wir haben k?rzlich einen Kongress der deutschen Chemiker gehabt, auf dem ein Vertreter lebhaft gegen die Sozialisierung der chemischen Industrie polemisierte. Er wies hin auf die wichtigen, wertvollen Leistungen dieser Industrie, von denen er f?rchtete, dass sie nicht in gleicher Weise gemacht w?rden bei der Sozialisierung. Ich halte das in dieser Allgemeinheit f?r sehr ?bertrieben, aber gerade weil ich Sozialist bin und der Erkenntnis der Wahrheit nachstrebe, verschliesse ich nicht vor Tatsachen die Augen, sondern suche zu pr?fen, wieviel an solchen Behauptungen wahr ist. Man kann nun nicht bestreiten, dass auch noch in neuerer Zeit die kapitalistische Unternehmung auf verschiedenen Gebieten in bezug auf wertvolle Neuerungen Bedeutendes geleistet hat. Gerade Sozialisten d?rfen sich nicht das verhehlen, weil sie der sozialisierten Produktion zur Aufgabe stellen m?ssen, in der Produktion das zu leisten, was der Kapitalismus geleistet hat. Ein Beispiel sind unter anderem die grossartigen Neuerungen auf dem wichtigen Gebiete nicht nur der Gewinnung, sondern der Weiterverarbeitung der Kohle, der chemischen Verarbeitung ihrer Nebenprodukte, der Extrahierung von ?len aus der Kohle, was f?r Deutschland, das seine Einfuhren einschr?nken muss, eine sehr wesentliche wirtschaftliche Frage ist. Aus alledem geht hervor, wie recht Marx hatte, wenn er es f?r irref?hrend erkl?rte, die Form der Verteilung des Arbeitsertrages bei der Begr?ndung des Sozialismus als massgebend hinzustellen. Der Sozialismus ist in erster Linie gebunden an die Fortentwicklung der Produktion.

Marx, der dies bald erkannte, trat daher, so seltsam dies klingen mag, dem Kapital viel objektiver gegen?ber, liess seiner geschichtlichen Bedeutung viel mehr Gerechtigkeit angedeihen, als die meisten Sozialisten vor ihm und viele, die gleichzeitig mit ihm schrieben. ?hnlich Friedrich Engels in seiner Streitschrift wider den Wirklichkeitsphilosophen Eugen D?hring, der seinerzeit an der Berliner Universit?t gelesen hat und 1877 removiert wurde wegen Angriffen auf Kollegen, die allerdings erheblich ?ber das Zul?ssige hinausgingen, sich aber dadurch erkl?ren, dass der Mann erblindet war. D?hring war gleichfalls naturrechtlicher Sozialist und im Grunde Nicht?konom. Die Kritik, die Friedrich Engels in seiner Schrift >>Herrn Eugen D?hrings Umw?lzung der Wissenschaft<< an ihm ?bt, tut ihm nun zwar hier und da Unrecht -- Engels hieb stark zur?ck auf die ungerechten Ausf?lle, die D?hring gegen Marx und andere Sozialisten gerichtet hatte --, aber bei alledem ist dieses Buch unbestritten das bedeutendste Werk des modernen Sozialismus nach Marx' >>Kapital<<. In ihm nun finden wir eine Reihe von Kapiteln, die auch f?r unseren Gegenstand wichtig sind, weil Engels da gr?ndlich mit der naturrechtlichen Lehre abrechnet. Ferner kn?pfte sich an es eine Polemik, die f?r die Bedeutung der Mehrwertslehre f?r den Sozialismus Aufkl?rung gibt.

Engels bemerkt in der Schrift, dass erst durch Marx' Enth?llung des Mehrwerts der Sozialismus eine Wissenschaft geworden sei. Das hat den ?sterreichischen Gelehrten Anton Menger, seinerzeit Professor an der Wiener Universit?t, auf die B?hne gerufen. In seinem Buche: >>Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag<<, das 1886 erschienen ist, nimmt er gegen Marx und Engels Stellung und sucht nachzuweisen, dass Engels f?r Marx und andere f?r Rodbertus eine Entdeckung reklamierten, die schon lange vor jenen von englischen und franz?sischen Sozialisten gemacht war. Menger gibt daf?r die ganze Literatur an, und man findet bei ihm auch sehr interessante Darlegungen ?ber die naturrechtliche Auffassung des Sozialismus. Aber, weil er selbst wesentlich juristischer Sozialist ist, wie er in einer Polemik genannt wurde, hat Menger vollst?ndig das Problem verkannt, um das es sich bei der Mehrwertslehre handelt. Er bezieht sie auf die Frage des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag, eine Sache, um die sich Marx im >>Kapital<< gar nicht gek?mmert hat. Warum nicht, entwickelt nun Engels im Vorwort zur deutschen Ausgabe von >>Das Elend der Philosophie<<, eine Streitschrift von Karl Marx gegen Proudhon. Er erw?hnt dort den von Rodbertus gegen Marx erhobenen Vorwurf, dass er den Nachweis des Mehrwerts erst nach ihm geliefert habe, zeigt, wie schon in jener zuerst 1847 erschienenen Schrift gegen Proudhon Marx diese Ableitung des Mehrwerts aus Ricardo behandelt und 1859 die Nutzanwendung der englischen Sozialisten aus ihr, dass den Arbeitern als den alleinigen Produzenten die ganze gesellschaftliche Produktion geh?re, als falsch hingestellt habe, und sagt dann:

>>Die obige Nutzanwendung f?hrt direkt in den Kommunismus. Sie ist aber, wie Marx an der obigen Stelle auch andeutet, ?konomisch formal falsch, denn sie ist einfach eine Anwendung der Moral auf die ?konomie. Nach dem Gesetze der b?rgerlichen ?konomie geh?rt der gr?sste Teil des Produktes nicht den Arbeitern, die es erzeugt haben. Sagen wir nun: das ist unrecht, das soll nicht sein, so geht das an sich die ?konomie zun?chst nichts an. Wir sagen nur, dass diese Tatsache unserem sittlichen Gef?hl widerspricht. Marx hat daher nie seine kommunistischen Forderungen hierauf begr?ndet, sondern auf den notwendig sich vor unseren Augen t?glich mehr und mehr vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise. Er sagt nur, dass der Mehrwert aus unbezahlter Arbeit besteht, was eine einfache Tatsache ist.<<

Dann f?hrt Engels fort:

>>Was aber ?konomisch formell falsch ist, kann darum doch weltgeschichtlich richtig sein. Erkl?rt das sittliche Bewusstsein der Masse eine ?konomische Tatsache, wie seinerzeit die Sklaverei oder Fronarbeit, f?r unsittlich, so ist das ein Beweis, dass die Tatsache selbst sich schon ?berlebt hat, dass andere ?konomische Tatsachen eingetreten sind, kraft deren jene unertr?glich und unhaltbar geworden ist. Hinter der formellen ?konomischen Unrichtigkeit kann daher ein sehr wahrer ?konomischer Inhalt verborgen sein.<<

Engels sagt also ausdr?cklich, die Anwendung der Moral -- und das Naturrecht ist Moral -- auf die ?konomie in dieser Frage ist ?konomisch falsch, die ?konomie gehe das nichts an, was das sittliche Bewusstsein sagt. Er erkennt nur an, dass, wenn das sittliche Bewusstsein der Massen eine ?konomische Tatsache f?r unrecht erkl?re, dies eine Anzeige sei, dass inzwischen Verh?ltnisse eingetreten seien, wonach diese Tatsache nicht mehr ertr?glich und haltbar sei. Das aber muss doch immer erst ermittelt werden, und wie f?hrt man den Beweis? Engels zeigt es an, wenn er fortf?hrt:

>>Marx hat seine kommunistischen Forderungen nie darauf begr?ndet, sondern auf den sich vor unseren Augen t?glich mehr und mehr vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise.<<

Das schrieb Engels 1877, und wenigstens bis zum Ausbruch des Weltkrieges war die kapitalistische Produktionsweise nicht zusammengebrochen, sondern hatte im Gegenteil einen gewaltigen weiteren Aufschwung genommen. Es lassen sich verschiedene Tatsachen anf?hren, aus denen hervorgeht, dass eine Reihe von Folgerungen, die man aus der alten Theorie gesch?pft hatte, sich nicht bewahrheitet haben. So z. B. der Satz >>Die Maschine schl?gt den Arbeiter tot<<. Der Ansicht, dass die Maschine in gr?sserem Masse Arbeiter ?berfl?ssig mache, als durch sie zur Produktion herangezogen werden, steht die Tatsache entgegen, dass bis zum Kriege die Zahl der industriellen Arbeiter, des industriellen Proletariats, in allen L?ndern moderner Entwicklung erheblich zugenommen hat, nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten L?ndern. Diese Frage bedarf also gleichfalls einer Nachpr?fung und genauen Untersuchung. Ganz besonders aber n?tigt der Satz von Engels, Marx habe seine kommunistischen Forderungen auf dem mit Notwendigkeit sich vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise gegr?ndet, genauer zu untersuchen, wie es sich mit diesem Zusammenbruch verh?lt.

Inzwischen liegt die Frage der Verteilung des Arbeitsertrages auf einem anderen Gebiete. Die Geschichte der Entlohnung der Arbeiter kennt ganz verschiedene Lohnraten, nicht bloss der absoluten H?he, sondern auch dem Anteil am Produkt nach. Sie verzeichnete zu gewissen Zeiten bei einem wesentlichen Tiefstand der Entwicklung eine furchtbare Ausbeutung von Arbeitern. Wir wissen von dem Elend, das lange Zeit in England und Deutschland existiert hat und vielfach noch und wieder existiert, dass oft der Lohn ganz bedeutend zur?ckbleibt hinter dem Mehrwert. Es fehlt aber auch nicht an Beispielen eines anderen Verh?ltnisses von Lohn und Mehrwert. Im allgemeinen wird in der marxistischen Literatur die Mehrwertrate auch Ausbeutungsrate genannt. Aber an einer bestimmten Stelle polemisiert Engels dagegen, dass man den Begriff >>Ausbeutung<< in diesem Zusammenhang moralisch auffasst, er soll nur ?konomisch genommen werden als eine reine Tatsache, wie man etwa von der Ausbeutung eines Bergwerks oder eines Patents spricht. Ich muss indes sagen, dass dann doch das Wort ein wenig zu Unrecht angewandt wird. Ausbeutung kann nat?rlich eine rein ?konomische Tatsache sein ohne jeden Zusammenhang mit moralischen Beziehungen. Aber wenn wir in bezug auf Menschen von Ausbeutung sprechen, so k?nnen wir kaum jemals den moralischen Sinn des Wortes davon trennen, und dass im Lohnverh?ltnis oft eine wirkliche Ausbeutung im moralischen Sinne des Wortes stattfindet, l?sst sich gar nicht bestreiten. Die Anschauung, dass das ganze Lohnsystem ein Ausbeutungssystem im moralischen Sinne des Wortes sei, hat unzweifelhaft der Arbeiterschaft in ihrem Emanzipationskampf einen grossen moralischen und ethischen Antrieb gegeben. Bei den politischen K?mpfen der Arbeiterbewegung hat ?berall die Forderung: Abschaffung des Lohnsystems, und zwar von der Arbeiterseite aus gesehen: Abschaffung des Lohnsystems zur Sicherung des vollen Arbeitsertrages eine grosse Rolle gespielt. Aber freilich nur als Idee. Denn wie sollte es f?r die Gesamtheit der Arbeiter verwirklicht werden? Es k?nnte nur dadurch geschehen, dass man zum Kommunismus ?bergeht und gar keine Bezahlung der Arbeit, sondern eine einfache Verteilung des Reichtums vornimmt oder, wie Krapotkin es will, die Benutzung des ganzen gesellschaftlichen Reichtums allen zur freien Verf?gung stellt. Solange man noch mit Leistungswert der Arbeit rechnet, und im ?bergangsstadium wird man das sicher nicht umgehen k?nnen, wird allerdings auch noch immer eine Art Lohnsystem aufrechterhalten werden m?ssen, und die Forderung: Abschaffung des Lohnsystems, hat denn auch in der Praxis eine ganz andere Anwendung gefunden. Nicht die Form Arbeitslohn ist es, die in Wirklichkeit bek?mpft wird. Die Arbeiterklasse hat in der Praxis sich ganz anders zu ihr gestellt. Gegen nichts haben sich die Arbeiter aus guten Gr?nden sch?rfer gewandt als gegen eine andere Art Bezahlung als durch den Lohn, gegen eine Ausgleichung der Arbeit, die etwa bestand in der Zuwendung von Lebensmitteln, Wohnung usw. Sie betrachten ein auf ihr beruhendes Verh?ltnis als eine Sklaverei oder H?rigkeit, den Lohn aber betrachten sie dieser altmodischen patriarchalischen Arbeitsabgeltung gegen?ber, wie sie bei Fleischern, kleinen Kaufleuten und manchen anderen Handwerkern noch bestand, als einen Fortschritt. Es handelte sich bei ihren praktischen K?mpfen niemals darum, die Lohnform ?berhaupt grunds?tzlich abzuschaffen, sondern erstens jedesmal um die Lohnh?he ?berhaupt und zweitens um die Art, wie die Lohnh?he bestimmt wird. Das ist vorl?ufig der eigentliche Kampf der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft, auch dem Staate gegen?ber, in Hinsicht auf den Entgelt der Arbeit, dass der Lohn nicht bestimmt wird durch die freie Konkurrenz, nicht willk?rlich festgesetzt wird vom Unternehmer, sondern dass die Arbeiterklasse selbst in ihren Organisationen einen gesetzlichen Status erh?lt und mitwirkenden Einfluss aus?bt auf die Lohnbestimmung. Dahin geht zun?chst die Entwicklung. Von einem Naturrecht auf den ganzen Mehrwert ist da kaum noch die Rede.

Was in der Marxschen Theorie Ausbeutung genannt wird, ist der Mehrwert, der von dem in den Preis umgesetzten Wert der Ware abz?glich der Sachkosten der Produktion nicht dem Arbeiter zufliesst. Ich kann nicht sagen, dem Kapitalisten zufliesst, denn er spaltet sich in Rente f?r den Grundbesitzer, den Profit f?r den Unternehmer und den Zins f?r den Geldkapitalisten. Liegt nun aber in der Tatsache, dass der Arbeiter nicht den vollen Ertrag der Arbeit bekommt, ein Ausbeutungsverh?ltnis? Wir haben gesehen, dass im objektiven Sinne man das Wort Ausbeutung anwenden kann, dass aber, wenn man es moralisch deutet, wie das bei vielen Sozialisten der Fall ist, man zu vollkommen falschen Schl?ssen gelangt. Es w?rde n?mlich danach in hochentwickelten Industrien, wo die Arbeiter am besten entlohnt werden und ?berhaupt sozial am h?chsten stehen, die Ausbeutung, weil da am meisten sogenanntes konstantes Kapital im Unternehmen angelegt ist, als die h?chste, und in solchen Industrien, wo die Arbeiter sehr schlecht bezahlt werden, weil wenig Maschinen angewandt werden, die Ausbeutung weniger hoch erscheinen. So erweckt die Gleichsetzung der Begriffe Mehrwertsrate und Ausbeutungsrate einen durchaus falschen Eindruck.

Wie wenig Marx den Sozialismus davon ableitet, dass der Arbeiter nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit bekommt, geht auch daraus hervor, dass er gerade feststellt, es sei schon vor der kapitalistischen Periode so gewesen. Im achten Kapitel des ersten Bandes >>Kapital<< schreibt er ausdr?cklich: >>Das Kapital hat die Mehrarbeit nicht erfunden<<. Und in der Tat ist sie sogar unter dem Kapital vielfach geringer als in Zweigen der vorkapitalistischen Wirtschaft. Marx leitet vielmehr die Forderung des Sozialismus ab aus dem sich mit Notwendigkeit vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise. Dieser Zusammenbruch nun kann verschieden aufgefasst werden. Er kann begriffen werden als rein ?konomisches Ph?nomen dergestalt, dass die mit dieser Produktionsweise untrennbar verbundenen Wirtschaftskrisen immer gr?sser werden, bis schliesslich eine so grosse Krisis eintritt, dass in ihrer Folge der v?llige Zusammenbruch erfolgt. Ich bemerke ausdr?cklich, es handelt sich hierbei nicht um Krisen, die durch ?ussere Ereignisse, Kriege usw. herbeigef?hrt werden -- denn das sind keine rein ?konomischen Erscheinungen --, sondern um solche, die hervorgebracht werden durch die Konkurrenzk?mpfe der kapitalistischen Welt, die immanent sind der Wirtschaftsweise der kapitalistischen Produktion. Aber der Zusammenbruch kann auch aufgefasst werden als Resultat der Klassenk?mpfe, die sich auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft als unvermeidliche R?ckwirkung der ihr innewohnenden und von ihr zunehmend gesteigerten Klassengegens?tze vollziehen. Nach der Theorie von Marx treten diese Klassenk?mpfe in immer st?rkerem Masse auf, und das n?tigt uns dazu, nun einmal das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft ?berhaupt zu betrachten und dar?ber hinaus das Wesen ihrer Klassenk?mpfe zu ermitteln.

Viertes Kapitel.

Das Wesen der Gesellschaft des vorgeschrittenen Kapitalismus.

Man vergisst selbst in sozialistischen Kreisen h?ufig diese zusammengesetzte Natur des Kapitalismus. Wohin das f?hrt, daf?r m?chte ich aus neuester Zeit ein Beispiel anf?hren. In diesen Tagen hat irgendwo in einem angesehenen Blatte ein Artikel gestanden, worin der Verfasser sagte: >>Es ist die Tragik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, dass sie, die grunds?tzlich den Kapitalismus bek?mpft und ihn beseitigen wollte, durch ihre Stellung in der Regierung gen?tigt ist, die kapitalistische Produktion erst wieder herzustellen.<< Ich bin nun in einer grossen Versammlung gefragt worden, was ich zu dieser Tragik zu sagen habe. Ich bin nicht dazu gekommen, dort diese Frage zu beantworten, weil die Versammlung infolge von l?rmenden St?rungen abgebrochen werden musste. H?tte ich die Zeit zur Antwort gehabt, so h?tte ich gesagt, und privatim habe ich das auch nachher dem Fragesteller geantwortet: Ich sehe in der angegebenen Tatsache gar keine Tragik, sondern h?chstens in der geistigen Vorbildung des Artikelschreibers. Gewiss ist es unleugbar die Aufgabe der Regierung, welche es auch sei, in modernen L?ndern, vor allem in Deutschland in seiner eigenartigen Weltlage, wo es gezwungen ist zu bestimmten gewaltigen Leistungen, sofern man nicht gleich mit einem Schlage, wie es in Russland versucht wurde, aber nicht gegl?ckt ist, die Gesellschaft vollst?ndig zu ?ndern und alle Lasten abzuwerfen -- gewiss ist es Aufgabe der jetzigen Regierung in Deutschland, ob sie konservativ, liberal, demokratisch oder sozialdemokratisch sei, zun?chst einmal die Wirtschaft wieder in Gang und Ordnung zu bringen und dadurch allerdings auch die kapitalistische Produktion zu erhalten oder ihre Lebensbedingungen und Entwicklungsm?glichkeiten zu sichern. Aber damit ist nicht gesagt, dass diese nun in allen Punkten bleiben muss, was sie vorher war. Man kann die Form der Produktion erhalten, aber das Rechtsverh?ltnis ?ndern. Ebenso kann man auch den Modus der Verteilung ?ndern. Zum Teil ist das erstere in Deutschland auch geschehen. Eine grosse ?nderung ist eingetreten durch das Gesetz ?ber die Betriebsr?te, das zwar erst in seinen Anf?ngen steht, aber ausserordentlich bedeutungsvoll und von grosser Tragweite ist und mindestens grunds?tzlich eine grosse Wandlung im Rechtsverh?ltnis von Unternehmer und Arbeiter einleitet. Es kann also die Betriebs- oder Wirtschaftsform erhalten bleiben und doch kann in ihrer Verfassung und Leitung eine grosse, sogar eine revolution?re ?nderung vor sich gehen. Im Kapitalismus haben wir aber als bleibende Tendenz die Vergr?sserung der Betriebe. Nach der Marxschen Theorie f?hrt die Entwicklung mit Notwendigkeit, unter dem Druck der freien Konkurrenz, zu immer gr?sserer Konzentration der Unternehmungen, zur Akkumulation der Verm?gen in Privath?nden, bei Proletarisierung der grossen Mehrheit der Bev?lkerung, und damit zu einer ganz anderen Klassenschichtung und Versch?rfung der Klassenk?mpfe. Das haben wir zun?chst zu betrachten.

Nach der Gr?ndung des Deutschen Reiches, nachdem mit der Sonderhoheit der Einzelstaaten alle Hemmnisse des inneren Marktes gefallen waren und Deutschland zu einer Handelspolitik ?berging, die nach kurzer Zwischenzeit das System der Meistbeg?nstigungsvertr?ge festlegte, mit Hilfe dessen Deutschlands ?usserer Markt sich immer mehr erweiterte, hat Deutschlands Industrie in verh?ltnism?ssig kurzer Zeit einen ganz gewaltigen Aufschwung genommen, so dass wir in einzelnen Teilen Deutschlands Entwicklungen gehabt haben, die an amerikanische Verh?ltnisse erinnern. Ich brauche nur das grosse rheinisch-westf?lische Industriegebiet zu nennen, das in der Tat einen Vergleich mit den grossen amerikanischen Industriezentren aufnehmen kann. Das Deutsche Reich hat bis zum Kriege dreimal allgemeine Berufs- und Gewerbez?hlungen gehabt. Zwischen der ersten und der letzten davon liegen 25 Jahre. Die erste Z?hlung fand statt im Jahre 1882, die zweite 1895 und die dritte 1907. Die Z?hlung von 1907 gibt uns also die letzten Vergleichszahlen. Was nun die Entwicklung der Betriebe in Industrie und Bergbau anbetrifft, so hat die deutsche Gewerbez?hlung die Betriebe eingeteilt in Klein-, Mittel- und Grossbetriebe. Bis kurz vor dem Kriege wurden als Kleinbetriebe gerechnet solche von 1 bis 5 Personen, als Mittelbetriebe solche von 6 bis 50 Personen und alles dar?ber galt in der Statistik und Wissenschaft als Grossbetrieb. In der Arbeiterschaft herrschte allerdings eine ganz andere Auffassung. Die Berliner Metallarbeiter haben im Jahre 1902 eine Z?hlung ihrer Berufsangeh?rigen vorgenommen, und da rechneten sie zu den Kleinbetrieben noch alles, was unter 500 Arbeiter hatte, zu den Mittelbetrieben rechneten sie solche von 500 bis 2000 Arbeitern und erst dar?ber hinaus fing nach ihrer Auffassung der Grossbetrieb an. Das ist f?r ihre soziale Einsch?tzungsweise ?beraus charakteristisch. Ich habe einmal in einer Versammlung der Dreher, nachdem ich dort einen Vortrag gehalten hatte, noch eine gute Weile zugeh?rt, wie sie ihre eigenen Angelegenheiten behandelten, was immer sehr lehrreich ist. Da gab der Vorsitzende Bericht ?ber die Untersuchung der Zust?nde in einem Unternehmen und bemerkte dabei im Ton ziemlicher Geringsch?tzung: >>Ihr k?nnt Euch denken, was das f?r eine Kr?merbude war, es waren da nur etwa 1000 Arbeiter besch?ftigt!<< Ein Unternehmer, der gegen tausend Arbeiter besch?ftigt, ist meist schon ein Million?r; aber in der Auffassung der Metallarbeiter Berlins war sein Unternehmen im Grunde nur ein Kleinbetrieb.

Halten wir uns indes hier an die Angaben der Reichsstatistik. Sie zeigt in der ersten Periode von 1882 bis 1895, die 13 Jahre umfasste, einen geringeren Aufstieg als in der nur 12 Jahre umfassenden Periode von 1895 bis 1907. Das ist begreiflich und beleuchtet die ganze Tendenz der Entwicklung. Um aber nicht durch zu viele Zahlen zu erm?den, lasse ich hier nur die runden Anfangs- und Endzahlen der ganzen Periode folgen. Danach entwickelten sich in diesen f?nfundzwanzig Jahren in Industrie und Bergbau die Kleinbetriebe der Zahl nach von 2175000 im Jahre 1882 auf 1870000 im Jahre 1907, die Mittelbetriebe der Zahl nach von 85000 im Jahre 1882 auf 157000 im Jahre 1907 und die Grossbetriebe von 9000 im Jahre 1882 auf 29000 im Jahre 1907. Nehmen wir nicht die Zahlen der Betriebe, sondern die der in den Betrieben besch?ftigten Personen, dann waren in den Kleinbetrieben besch?ftigt 1882 rund 3270000 und 1907 3202000, in den Mittelbetrieben 1882 1109000, 1907 2715000, in den Grossbetrieben 1882 1554000 und 1907 4940000 Personen. Hier sieht man, wie der gr?ssere Betrieb in der Industrie gegen?ber den kleineren einen immer gr?sseren Raum einnimmt. Die Kleinbetriebe nehmen ab, aber verh?ltnism?ssig wenig. Die Mittelbetriebe nehmen aber noch ganz bedeutend zu. Sie sind gestiegen von 85000 auf 187000 und nach der Zahl der besch?ftigten Personen von 1109000 auf 2715000.

Ein ?hnliches Bild zeigt sich beim Handel und Verkehr. Da haben wir sogar eine noch st?rkere Vermehrung. Die Kleinbetriebe nahmen im Handel bedeutend zu. Der Handel ist ja oft die Zuflucht f?r viele aus der Industrie Verdr?ngte, die Etablierung des Kleinkr?mers ist viel leichter als die des kleinen Fabrikanten. Im Handel und Verkehr war die Entwicklung von 1882 bis 1907 eine solche, dass sich vermehrten: die Kleinbetriebe von 676000 auf 1204000, die Mittelbetriebe von 26000 auf 76000, die Grossbetriebe von 463 auf 2800. Im Handel waren die Grossbetriebe, d. h. die Betriebe mit ?ber 50 Personen, nicht so zahlreich wie in der Industrie. Wir haben zwar eine sehr bedeutende Zunahme der modernen Kaufh?user, doch ist deren Zahl im ganzen nicht so ?berm?ssig gross. Auch steckt im Handel hinter einer verh?ltnism?ssig geringen Zahl von Angestellten oft schon ein sehr erheblicher Kapitalaufwand. Nach der Zahl der Besch?ftigten berechnet, war hier die Entwicklung von 1882 bis 1907 bei den Kleinbetrieben von rund einer Million auf zwei Millionen, bei den Mittelbetrieben von 270000 auf 878000, bei den Grossbetrieben von 54000 auf 395000. Hier tritt die Bedeutung der Zunahme der Grossbetriebe st?rker hervor. Aber w?hrend in Industrie und Bergbau die 5 Millionen Besch?ftigten der grossen Betriebe ebensoviel ausmachen wie die Besch?ftigten der Mittel- und Kleinbetriebe zusammen genommen, ist das Verh?ltnis im Handel doch ein anderes, hier bilden sie erst den sechsten Teil.

Eine Erkl?rung f?r die grosse Vermehrung der Betriebe darf man allerdings nicht vergessen: das ist die ungeheure Steigerung der Produktion selber, die gewaltige Zunahme der Masse der Produkte. Sie erkl?rt es auch, warum sich neben den grossen Unternehmungen im Handel so viele der kleinen halten k?nnen. Die moderne kapitalistische Produktionsweise erh?ht ungemein die Produktivit?t der Arbeit. Der Warenmarkt w?chst, und deshalb finden die kleinen Unternehmungen neben den grossen immer noch einen Rahmen, dem sie sich anpassen k?nnen.

Ein ganz anderes Bild, als lange Zeit angenommen, zeigt die Entwicklung der Betriebe in der Landwirtschaft. Sie hat der urspr?nglichen Auffassung eine grosse Entt?uschung bereitet, sie geradezu widerlegt. Weil in England in der Landwirtschaft der Grossbesitz ?berwog, hatte man lange Zeit gefolgert, dass dies im Wesen der modernen Wirtschaft liege, und dass, wie in der Industrie, so auch in der Landwirtschaft die kleinen Unternehmungen immer mehr verdr?ngt w?rden von den Grossunternehmungen. Das ist aber nicht eingetreten, sondern das Gegenteil ist geschehen. In der Landwirtschaft haben in den 25 Jahren die Grossbetriebe an Zahl abgenommen, vermehrt haben sich nur die eigentlich b?uerlichen Betriebe und die ganz kleinen Zwergbetriebe. Die kleinen Landparzellen, die wahrscheinlich mit den Laubeng?rten zusammengerechnet werden, sind von 2 Millionen auf ?ber 3 Millionen gestiegen. Bei Betrieben von 2 bis 5 Hektar bel?uft sich die Steigerung in runden Zahlen von 980000 auf 1006000. In diese Betriebe sind auch die Qualit?tslandwirtschaftsbetriebe, die mehr gartenm?ssig bewirtschafteten Betriebe eingeschlossen. Die mittleren Betriebe von 6 bis 20 Hektar sind gestiegen von 926000 auf 1065000, und dann beginnt gerade bei den Grossbetrieben von 20 bis 100 Hektar ein Abstieg. Ihre Zahl f?llt von 282000 auf 262000 und die der Betriebe von ?ber 100 Hektar von 25000 auf 23000. Hier zeigt sich also ein ganz anderes Bild der Entwicklung als angenommen. Die b?uerlichen Betriebe halten sich. Es ist das teilweise eine Folge von Eingriffen der Gesetzgebung. Sie hat allerhand Gesetze geschaffen, die dahin gewirkt haben, den b?uerlichen Betrieb konkurrenzf?hig zu erhalten. Eine weitere Erkl?rung liefert die starke Entwicklung des Genossenschaftswesens in der Landwirtschaft sowie der Umstand, dass die landwirtschaftliche Produktion zum Unterschied von der Industrieproduktion wesentlich organische, von Naturvorg?ngen abh?ngige Produktion ist. Sie ist daher f?r die Hebung der Produktivit?t nicht so auf die Konzentration angewiesen wie die industrielle Produktion. Bemerkenswert ist nun, dass bei alledem, bei dieser Zunahme der Betriebe in der Landwirtschaft selber, die Zahl der in ihr Besch?ftigten in den 25 Jahren erheblich zur?ckgegangen ist. In Deutschland hat die Bev?lkerung in dieser Zeit zugenommen um rund 36 Proz. Dagegen ist die Zahl der Besch?ftigten in der Landwirtschaft samt Angeh?rigen zur?ckgegangen von ?ber 19 Millionen auf nicht ganz 17700000, so dass man beinahe sagen k?nnte, der ganze Zuwachs der Bev?lkerung in dieser Zeit, der ungef?hr 25 Millionen Menschen umfasste, ist ?ber die Landwirtschaft hinweggerauscht zur Industrie und hat, statt der Landwirtschaft etwas abzugeben, sogar noch 8 Proz. von ihr hinweggenommen. Statistisch betrachtet gilt das. In einzelnen F?llen mag es nat?rlich anders gewesen sein, im Gesamtbild hat aber die landwirtschaftliche Bev?lkerung abgenommen und trotzdem hat die landwirtschaftliche Produktion zugenommen. Vor dem Krieg ging also Deutschlands Entwicklung immer st?rker zum Industriestaat.

Nicht weniger wichtig als die Betriebsentwicklung sind die Ver?nderungen in der Stellung der Personen im Gewerbe. In der Industrie sind die Selbst?ndigen weniger geworden, dagegen hat sich die Zahl der technischen und kaufm?nnischen Angestellten ganz bedeutend gehoben. Auch die Zahl der Arbeiter ist gewaltig gestiegen; ihre Vermehrung l?sst in absoluter Zahl die aller anderen Berufsschichten hinter sich, im Verh?ltnis aber war doch die Zunahme der kaufm?nnischen und technischen Angestellten die gr?ssere. Ihre Zahl ist gestiegen in der Industrie von 99000 im Jahre 1882 auf 686000 im Jahre 1907, die Zahl der Arbeiter in der gleichen Zeit von 4 Millionen auf 8600000, w?hrend die Zahl der Selbst?ndigen zur?ckgegangen ist von 1861000 auf 1729000. Die Angestellten sind also um 592 Proz., die Arbeiter um 110 Proz. mehr geworden. Im Handel und Gewerbe sehen wir ein ?hnliches Bild. Dort haben jedoch auch die Selbst?ndigen zugenommen, weil es ja leichter ist, sich im Kleinhandel zu etablieren als in der Industrie; ihre Zahl wuchs von 505000 auf 843000. Die im Handel Angestellten vermehrten sich aber von 141000 auf 505000 und die Arbeiter in Handel und Verkehr von 727000 auf 1959000. Die Selbst?ndigen haben danach zugenommen um 60 Proz., die Arbeiter um 169 Proz., die Angestellten aber um 257 Proz. In der Landwirtschaft finden wir auch in dieser Hinsicht wieder ein abweichendes Bild. Die Zahlen sind aber zum Vergleich weniger geeignet, weil 1907 eine andere Z?hlungsart beobachtet wurde als bei den beiden vorhergegangenen Z?hlungen. Es sind da n?mlich die Personen, die dem Haushalt angeh?ren und mitarbeiten, w?hrend sie in der fr?heren Statistik der Familie des Unternehmers, d. h. des Bauern, zugez?hlt wurden, in der neueren Statistik als Arbeiter gez?hlt worden.

Die ungeheure Zunahme der technischen und kaufm?nnischen Angestellten in Industrie und Handel ist die lebendige Illustration einer in der Marxschen Theorie zuerst mit der gr?ssten Sch?rfe hervorgehobenen Tatsache. Vor Marx unterschied die National?konomie nur zwischen dem fixen Kapital, wie man das in Geb?uden, Maschinen usw. angelegte Kapital nannte, und dem beweglichen, dem zirkulierenden Kapital. Marx f?hrte eine andere Unterscheidung ein: er unterscheidet zwischen konstantem und variablem Kapital. Konstant nennt er alles Kapital, das, wie der Verschleiss von Anlagen und Maschinen, der Aufwand von Rohstoffen und Hilfsstoffen usw., mit eingerechnet wird in die sachlichen Kosten der Produktion und deshalb im Preise des Produkts unver?ndert wieder erscheint, w?hrend die Ausgabe f?r die menschliche Arbeit -- von Arbeitern und Angestellten -- in erh?hter Form in dem Wert der ganzen Produktion zur?ckkommt. Sie nennt er variables Kapital. Der einzelne kann durch falsche Spekulation verlieren; im allgemeinen aber gilt als Grundsatz, dass der Unternehmer bei seiner Kalkulation zun?chst das wiederhaben will, was er ausgelegt hat an Maschinen, Miete, Rohstoffen u. dgl. Dass dieses konstante Kapital in der Industrie im Verh?ltnis viel st?rker zugenommen hat als das variable Kapital, wird nun illustriert durch die im Verh?ltnis st?rkere Zunahme des kaufm?nnischen und technischen Personals.

Kommen wir zur?ck auf die Verschiebungen der Berufsgruppierung in der kapitalistischen Gesellschaft. In der Land- und Forstwirtschaft haben wir die Berufszugeh?rigen in den 25 Jahren von 19 auf 17 1/2 Millionen zur?ckgehen sehen. In Industrie und Bergbau wuchs dagegen die Zahl der Berufszugeh?rigen von 16 auf 26 Millionen, in Handel und Verkehr von 4 auf 8 Millionen. Dazu kommen aber hinzu die Angeh?rigen der freien und ?ffentlichen Berufe, die auch eine gewaltige Zunahme erfahren haben, n?mlich von 1 1/2 auf 2,6 Millionen. Alles das zeigt eine sehr bedeutsame Verschiebung an, eine ganze Ver?nderung des sozialen Charakters der Bev?lkerung. Als das Deutsche Reich gegr?ndet wurde, lebte noch weit ?ber die H?lfte seiner Bev?lkerung auf dem Lande und von der Landwirtschaft als Erwerbsquelle. Jetzt aber ern?hrte die Landwirtschaft als Berufszweig einen immer geringeren Teil der Bev?lkerung; die Masse lebte von Industrie, Handel und Verkehr, von freien und ?ffentlichen Berufen. Im ganzen bedeutete das einen gewaltigen Kulturfortschritt, der allerdings auch seine Kehrseite hat: die Abkehr von der Natur und verschiedene andere Sch?den. Unbestreitbar ist nur, dass im ganzen die Industrie die h?here Wirtschaftsform repr?sentiert als die Landwirtschaft, trotz der Verbesserungen, die auch in dieser stattgefunden haben.

In der Arbeiterschaft der Industrie vollzieht sich gleichfalls eine Entwicklung, die unser Interesse beansprucht. Die Klasse ist, wie wir gesehen haben, gewaltig an Zahl gestiegen. Nun aber unterscheidet man in der Industrie zwei Gattungen von Arbeitern, die gelernten, d. h. in einer Lehrzeit ausgebildeten, und die sogenannten ungelernten Arbeiter. Fr?her sagte man qualifizierte und unqualifizierte Arbeiter, d. h. bezeichnete den gelernten Arbeiter als einen qualifizierten, den ungelernten als unqualifizierten Arbeiter. Es gibt aber, wie ein Unternehmer einmal sehr richtig gesagt hat, keine unqualifizierte Arbeit. Auch die ungelernte Arbeit muss geh?rig ge?bt werden und erfordert oft in ihrer Weise erstens grosse Kraft und dann auch grosse Geschicklichkeit. Ich m?chte keinem es zumuten, einmal mit einem Karrenschieber in dessen Arbeit es aufnehmen zu wollen. Wer das versuchte, w?rde bald bemerken, dass auch zu dieser Arbeit eine bestimmte Geschicklichkeit geh?rt und nicht nur K?rperkraft. Immerhin steht der ungelernte Arbeiter sozial und ?konomisch unter dem gelernten Arbeiter, in Deutschland allerdings nicht ganz so stark wie in England. In England war die Trennung zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern bis zum Kriege viel st?rker gewesen als in Deutschland. Daher die Erscheinung, die vielen, die nach England kamen, aufgefallen ist, dass sie dort eine ungeheure Zahl von tiefstehenden Arbeitern vorfanden, tiefstehend in der Art ihrer Lebensweise, tiefstehend in ihrer Wohnweise und tiefstehend auch in der Art der Kleidung. Sie schlossen daraus, dass ?berhaupt das Elend in England viel gr?sser sei als auf dem Festlande. Aber es handelt sich da um eine Teilerscheinung, die sich erkl?rt aus der ganzen Geschichte der englischen Arbeiterschaft. Infolge besonderer Umst?nde bekam in England der Ungelernte, der Labourer, im Gegensatz zum Gelernten, zum Worker, einen sehr viel geringeren Lohn, nur etwa 60 oder gar bloss 50 Proz. vom Lohn des Gelernten, w?hrend in Deutschland der ungelernte Arbeiter bis 70 und 80 Proz. vom Lohn des Gelernten bekommt. Die Zahl der gelernten Arbeiter hat sich in Deutschland anders entwickelt als die der ungelernten. Seit 1895 ward bei der Berufsz?hlung zwischen den beiden Kategorien unterschieden, so dass wir nun f?r die 12 Jahre von 1895 bis 1907 einen Vergleich der Entwicklung der beiden haben. Danach ist die Zahl der gelernten Arbeiter in der Industrie gestiegen von 4 auf 5,4 Millionen, aber die der ungelernten von 2,3 auf 3,9 Millionen, im Verh?ltnis also haben die letzteren eine sehr viel st?rkere Vermehrung erfahren. Auf 100 gelernte kamen 1895 55 ungelernte Arbeiter, 1907 aber schon 73. Die vervollkommnete Maschine hat also hier vielfach statt gelernter ungelernte Arbeiter gebraucht. Trotzdem hat sich aber, und das ist das Wichtige, in dieser Periode, wo die Zahl der ungelernten Arbeiter so stark wuchs, die Zahl der gelernten Arbeiter in der Industrie immer noch st?rker vermehrt als die Zahl der Gesamtbev?lkerung. Die Gesamtbev?lkerung ist in den 12 Jahren um 19 Proz. gestiegen, dagegen die Zahl der gelernten Arbeiter um gegen 29 Proz. Auch das ist charakteristisch f?r die ungeheure Entwicklung zum Industriestaat, die sich in Deutschland vollzogen hat.

Die Frage ist nun: Woher kam der Zuwachs der ungelernten Arbeiter? Sie f?hrt auf eine sehr charakteristische Erscheinung. Zum Teil zogen deutsche Arbeiter vom Lande als Tagel?hner in die Stadt und wurden auf dem Lande durch Ausl?nder ersetzt, d. h. die landwirtschaftlichen deutschen Arbeiter gingen in die Industrie, und aus Polen und anderen L?ndern wurde ein grosser Teil Arbeiter, teils als Saisonarbeiter, teils aber auch als st?ndige Kr?fte, f?r die deutsche Landwirtschaft gewonnen. Die deutsche Arbeiterschaft konnte sich auf diese Weise ?ber die polnischen usw. Arbeiter hinweg auf eine h?here Stufe erheben. Indes war es auch f?r die Polen ein Aufstieg im Verh?ltnis zum Lebenszuschnitt in ihrer Heimat. Sie zogen nach Deutschland, weil sie da immerhin bessere L?hne erhielten als zu Hause. Bei alledem bleibt es ein bemerkenswerter Umstand, dass zum Teil nur auf dem R?cken jener ausl?ndischen Arbeiter sich die deutsche Industrie und Industriearbeiterschaft in der geschilderten Zeit so entwickeln konnte. Ohne jene ausl?ndischen Tagel?hner w?re ein Teil des grossen Aufschwungs unm?glich gewesen, dessen Endresultat das war, dass jede Arbeiterschicht schliesslich etwas h?her stand als vorher, die Schicht der Gelernten im Verh?ltnis st?rker zugenommen hatte als die Bev?lkerung. In dieser Beziehung ist das Wort von Marx, das im >>Kapital<< steht und von vielen buchst?blich genommen wurde: >>Die Maschine schl?gt den Arbeiter tot<<, nicht eingetroffen. Denn diese ungeheure Vermehrung der Arbeiter in der Industrie finden wir nicht nur in Deutschland, sondern gleichzeitig auch in England, in Frankreich, wie in allen L?ndern moderner Entwicklung, und am st?rksten davon in Amerika. Das erkl?rt sich aus einer Reihe von Gr?nden, die Marx nicht gen?gend ber?cksichtigen konnte.

Marx hatte seine Beispiele aus der Textilindustrie genommen, die zu seiner Zeit in England die massgebende Industrie war. Aber die Faser setzte der Behandlung durch die Maschine viel geringeren Widerstand entgegen als Leder, Holz, Metalle usw. W?hrend die Maschine in der Textilindustrie allerdings Teile der Arbeiterschaft beiseite geschoben hat, ist das in anderen Industrien nicht geschehen, sondern im Gegenteil, da hat die Arbeiterschaft sich gewaltig vermehrt, namentlich in den Industrien der Metalle, die ja allm?hlich in der Welt die F?hrung erhalten haben. Diese gesteigerte Entwicklung ist dadurch m?glich geworden, dass es sich nicht nur handelte um Maschinen f?r die Herstellung von Gegenst?nden des pers?nlichen Verbrauchs, sondern um die grosse Erweiterung der Verkehrsmittel, der Eisenbahnen, Dampfschiffe usw. Die ungeheure Verdichtung des Eisenbahnnetzes, die in den verschiedenen L?ndern, vor allem in den Vereinigten Staaten, aber nicht zum wenigsten auch in Deutschland vor sich gegangen ist, ist in der Hauptsache erst eingetreten, nachdem Marx sein >>Kapital<< geschrieben hatte. Man braucht nur eine Eisenbahnkarte aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, den Jahren, wo Marx sein >>Kapital<< schrieb, mit einer Karte von 1914 zu vergleichen, dann sieht man, welche kolossale Entwicklung das Eisenbahnwesen genommen hat. Die Verkehrsmaschinen selbst, die Lokomotiven, Dampfer usw., haben aber auch ihren Charakter ge?ndert, sie sind riesenhaft gewachsen, und ihr Wachstum wie ihre Zunahme hat stark zur?ckgewirkt auf das Wachstum der Industrie und wesentlich beigetragen zur gewaltigen Industrialisierung nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt.

Dann haben wir aber auch ein weiteres zu verzeichnen. Die ungeheure Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums, die eine Folge gewesen ist der grossen Vervollkommnung der Produktionsmittel, der ins Riesenhafte gesteigerten Gewinnung und Verarbeitung der Erze und Erdsch?tze, und fortgesetzten Steigerung der Produktivit?t der Menschen an den Maschinen hat als Zweites zur Wirkung gehabt eine grosse F?rderung der Qualit?tsarbeit in der Industrie. Die erste Wirkung der Maschinen war im Gegenteil die Herabdr?ckung der Qualit?t des Fabrikats gewesen, wie das Marx auch feststellt. Die billigen Fabrikate dr?ngten die bessere, solide Arbeit zur?ck. Aber im weiteren Verlauf der Entwicklung steigt mit dem wachsenden Reichtum der Gesellschaft auch der Markt der Qualit?tsindustrien, die wiederum eine zunehmende Besch?ftigung von gelernten Qualit?tsarbeitern herbeif?hrt. Diese Tatsachen, die grosse Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums mit ihren technischen Nachwirkungen, stellen uns nun vor die Frage: Wie wirkt das alles zur?ck auf die Klassengliederung in der Gesellschaft?

Die erste soziale Einwirkung der Maschinenindustrie war, dass sie mittlere Schichten der Bev?lkerung zur?ckdr?ngte, das Proletariat vermehrte, und dass die Schicht der Reichen und ihr Reichtum wuchsen. So entstand in der sozialistischen Welt die Theorie, die lange Zeit agitatorisch in Aufkl?rungsvortr?gen propagiert wurde -- ich habe noch stark daran teilgenommen --, dass im weiteren Verlauf der kapitalistischen Entwicklung die Mittelschichten von der kleinen Schicht der Reichen vollst?ndig verdr?ngt werden, w?hrend daneben das Proletariat und gleichzeitig auch seine Verblendung ungeheuer zunehmen. Der in seiner Art sehr bedeutende, wenn auch mehr konservativ gerichtete sozialistische ?konom Karl Rodbertus stellte das im bildlichen Vergleich einmal so dar, dass die soziale Pyramide sich in der Weise eines immer mehr sich verengernden Flaschenhalses gestaltet. Ich habe das gelegentlich zeichnerisch so zu veranschaulichen versucht:

Wenn die Entwicklung, wie man sie sich fr?her vorgestellt hatte, wie sie nicht nur Marx und Rodbertus, sondern auch Lassalle und alle anderen Sozialisten angenommen hatten, nicht eingetreten ist, so ist damit die sozialistische Bewegung noch nicht als ?berfl?ssig nachgewiesen. Was sich vollzogen hat, ist, dass die Spannung zwischen den grossen Einkommen und dem Einkommen der Volksmasse bedeutend zugenommen hat, und darauf kommt es an. Die Pyramide der Einkommen und Verm?gen entwickelt sich nicht im Sinne des Flaschenhalses, sondern etwa im Sinne einer umgekehrten Ziehharmonika. Man nehme an, eine Ziehharmonika werde auf die Seite gestellt und so beschwert, dass sie sich unten nur langsam heben kann, w?hrend eine andere Kraft sie nach oben zieht. Dann wird die Spannung zwischen der beschwerten Masse unten und den oberen Teilen immer gr?sser werden, und das sehen wir tats?chlich in dem Verh?ltnis der zunehmenden Zahl der Reichen und ihrem wachsenden Luxus zu dem, der Masse nach am st?rksten wachsenden Heer derjenigen, die sozial in ihren Diensten stehen. Die Vermehrung der Arbeiter und unteren Angestellten ?bertrifft der absoluten Zahl nach die aller anderen Klassen zusammen um ein Vielfaches. Wir sehen daran, dass die Entwicklung keineswegs als eine so gesunde bezeichnet werden kann, wie sie von Leuten hingestellt worden ist, die aus der Zunahme aller Schichten der Besitzenden nun eine vollst?ndige Rechtfertigung der ganzen sozialen Entwicklung unter dem Kapitalismus herleiten. Nur eins ist unbestreitbar: der Kapitalismus hat den Reichtum der Gesellschaft ganz ungemein gesteigert; aber die Verteilung des Reichtums hat nicht in jeder Hinsicht die Entwicklung genommen, die die Sozialisten fr?her voraussetzten, sondern sie hat teilweise andere Bahnen eingeschlagen. Damit haben sich die Probleme, vor die der Sozialismus gestellt ist, allerdings ver?ndert, und die Feststellung und Erkennung dieser Tatsache sowie die Frage, welche Folgerungen aus ihr zu ziehen waren, haben lange Zeit ein gewaltiges Streitobjekt theoretischer und praktischer Art unter Sozialisten gebildet.

Man k?nnte nun die Frage erheben: Wie l?sst sich das Verbleiben der Mittelschichten vereinbaren mit der Konzentration der Betriebe unter dem Kapitalismus? Der Kapitalismus f?hrt doch immer mehr zur Konzentrierung der Betriebe, immer mehr zur Grossproduktion und Maschinenproduktion in der Gesellschaft. Wenn die kleinen und mittleren Betriebe zwar der Zahl nach fast unbeschr?nkt geblieben sind, so haben doch die Grossbetriebe gewaltig zugenommen, nicht nur an Zahl, sondern namentlich auch in der Masse der von ihnen besch?ftigten Personen. Und wie l?sst sich jene Entwicklung der Reichtumsverteilung damit vereinbaren? Sie erh?lt zum Teil ihre Erkl?rung durch die Beweglichkeit des modernen Kapitals, die Beweglichkeit, die das Kapital erhalten hat vermittelst der grossen Ausbreitung der verschiedenartigen Formen von Genossenschaften, zu denen ja grunds?tzlich ebenfalls die Aktiengesellschaften gerechnet werden m?ssen, wie sehr sie auch rechtlich und in ihrer Struktur von anderen Genossenschaften abweichen. Die Form der Genossenschaft, des Kollektivkapitals, erm?glicht es einer ganzen Reihe von Schichten der Bev?lkerung, sich am Bestand zu erhalten, die unrettbar h?tten verschwinden m?ssen, wenn bei jeder Unternehmung immer nur eine Einzelperson oder eine ganz kleine Personengruppe Eigent?mer h?tte sein k?nnen. In Deutschland gab es im Jahre 1909 -- das ist die letzte Zahl, die das Reichsstatistische Jahrbuch hier?ber angibt -- 5222 Aktiengesellschaften mit einem Aktienkapital von rund 14 Milliarden Goldmark und 626 Millionen Mark Vorzugsaktien. Daneben gab es Genossenschaften und Gesellschaften mit beschr?nkter Haftung in einer Zahl von 16500 mit 3 1/2 Milliarden Genossenschaftskapital. Des weiteren eine grosse Zahl eingetragener Genossenschaften, wozu dann noch kommt ein ganz gewaltiges Kapital von Obligationen der Aktiengesellschaften, das auch viele Milliarden ausmacht, und das ganz gewaltig zugenommen hat, nicht nur infolge der industriellen Entwicklung, sondern auch der milit?rischen Entwicklung, der steigenden R?stungen usw., und nicht zuletzt die so stark angewachsenen Staatsanleihen. Durch alles das ist die Zahl der Inhaber von Anteilen an den Ertr?gen der Volkswirtschaft ungeheuer gestiegen. Wenn Lassalle von den Arbeiterbataillonen sprach, so kann man heute kaum noch bloss von Aktion?rbataillonen sprechen, sondern muss schon von Armeekorps reden, unter die sich die Aktien der Industrie verteilt haben. Die Unternehmung selbst ist ?rtlich gebunden, aber die Aktie, das Kapital, wird immer beweglicher und kann von Hand zu Hand oder auch von Land zu Land gehen. Das zeigt sich sogar beim Grund und Boden, wo die Beweglichkeit des Eigentums erm?glicht wird in erster Reihe durch die Hypotheken, die unschwer ihre Besitzer ?ndern und geteilt werden k?nnen. Allein die Hypothek hat die volle Beweglichkeit nicht, diese hat jedoch der Pfandbrief gebracht. Es entstanden die Hypothekengesellschaften, die Hypotheken aufsammeln und f?r sie Pfandbriefe ausgeben, die nun, wie das Anleihepapier, jeden Tag den Inhaber wechseln k?nnen. Auf diese Weise konnte eine ungeheure Verteilung des Verm?gens stattfinden, das in Grund und Boden angelegt war.

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