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Read Ebook: Die Steinbergs: Eine Erzählung aus der Zeit der Befreiungskriege by Siebe Josephine Roegge Wilhelm Illustrator

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Ebook has 768 lines and 47532 words, and 16 pages

Ein paar Tage sp?ter st?rmte Raoul am Nachmittag hastig und aufgeregt in das Zimmer. >>Mama,<< rief er, >>Herzensmama, denke doch, ach denke doch, welch ein Gl?ck mir widerfahren ist!<< Er umschlang st?rmisch die bleiche Mutter, und an ihr vorbeisehend, damit sie ihm nicht in die Augen blicken konnte, denn die sahen gar nicht gl?cklich aus, erz?hlte er hastig: >>Der Meister war mit mir beim Advokaten Schnabel in der Burgstrasse; dem ist sein junger Schreiber davongelaufen, und der Meister meinte, schreiben k?nnte ich so gut wie er backen. Wir sind also hingegangen, und der Herr Advokat hat uns vorgelassen. Der hat gleich geschrieen: >Das ist ein Kind, der ist zu jung, zu jung, zu jung, 's ist nichts damit!<<<

Bei der Erinnerung an diese Szene kam in Raouls Augen nun doch das Lachen. Er blickte seine Mutter froh an, als er fortfuhr: >>Meister K?smodel hat sich einfach auf einen Stuhl gesetzt, und allemal, wenn der Herr Advokat schrie: >Zu jung, zu jung,< hat er genickt, und endlich hat er gesagt: >Alleweil jetzt, Herr Advokat, ist der Junge schon etwas ?lter geworden, und Jugend hat noch nie jemanden ge?rgert, h?chstens das Altwerden.< Erst machte der Herr Advokat ein ganz bitterb?ses Gesicht, dann fing er an zu lachen. Ich musste schreiben, das gefiel ihm, und nun, Mama, bin ich angestellter Schreiber und bekomme -- zwei Taler vorl?ufig auf den Monat. Ist das nicht sch?n? freust du dich auch?<<

Raoul sollte am n?chsten Morgen bereits seine Stellung antreten. Die Meisterin hatte ihm versprochen, sie wollte f?r seine Mutter sorgen, aber er stand doch noch fr?her als sonst auf und fegte erst die Stube aus, kochte f?rsorglich die Morgensuppe f?r die Mutter und sich, und dann eilte er rasch nach kurzem Abschied davon. Er hatte es nicht weit, und geschwind lief er ?ber den Marktplatz, bog in ein schmales G?sschen ein und langte bald in der Burggasse an. Dort kletterte er eilfertig in einem uralten Hause zwei enge Treppen empor und zog die Klingel an Advokat Schnabels Wohnung. Eine Magd ?ffnete und brummte unwirsch: >>Jemineh, der neue Schreibbursche! Nee, so'n Dreik?sehoch aber auch! Da hast'n Besen, nun kehre mal flink die Schreibstube aus. Rasch, rasch, tummle dich, sieh nicht erst 'n Loch in die T?re!<<

Raoul stieg das Blut in das Gesicht. Er war ein stolzer, kleiner Bursche, und es dem?tigte ihn tief, dass er solche Dienste verrichten sollte und sich von der Magd so grob anfahren lassen musste. Am liebsten w?re er gleich umgekehrt, aber er presste die Lippen fest aufeinander, um nicht eine patzige Antwort zu geben. Das Zimmer, das er betrat, lag nach dem Hof hinaus, die graue R?ckwand eines Hauses nahm jede Aussicht, nur wer sich weit aus dem Fenster bog, der konnte den Turm der nahen Thomaskirche aufragen sehen. Einen Augenblick blieb Raoul unschl?ssig an der T?re stehen und ?berschaute den Raum, der ihm fortan tagaus, tagein Aufenthaltsort sein sollte. Bis zur Decke hinauf krochen die St?nder, angef?llt mit dicken Aktenb?ndeln, ein paar von Tintenflecken ?bers?te Tische standen dicht an den Fenstern, deren Scheiben gewiss lange nicht geputzt waren. Seufzend begann Raoul mit dem Auskehren, er dachte dabei immer nur: Zwei Taler, zwei Taler, wie wird sich die Mutter freuen!

Er war noch nicht mit seiner Arbeit fertig, denn Staub und Schmutz lagen dick in allen Winkeln, als die T?re mit einem lauten Krach ge?ffnet wurde und zwei noch junge M?nner hereinkamen. Der eine war lang und d?nn, sein Gesicht, seine H?nde, sein Anzug sahen grau, ungewaschen und ungeb?rstet aus; der andere war klein, verwachsen, er hatte etwas Zartes, Sanftes in seiner ganzen Erscheinung. Der Lange schaute Raoul von oben bis unten an; er kniff dabei die Augen zusammen, und der Knabe erschrak vor dem unangenehmen Ausdruck des Gesichtes. >>He, ist er der Neue, wie heisst er denn?<<

Raoul sagte ruhig seinen Namen, ohne den Adel, den er auf Wunsch des Advokaten selbst nicht nannte, und sah dabei mit seinen sch?nen, dunklen Augen offen zu dem langen Schreiber empor. Der grinste und schrie dem Verwachsenen zu: >>Ein halber Franzos! Du Napoleonfresser, das ist was f?r dich, hihihi! Da, junger Dachs, nehm er meinen Rock, mein Schreibkittel h?ngt dort im Schrank. Flink, er weiss wohl gar nicht, was sich geh?rt?<<

Der Verwachsene war still an den Schrank getreten, hatte einen abgeschabten, zerflederten Rock herausgenommen, der so schmutzig war, dass Raoul sich ekelte, ihn anzugreifen. Den reichte er dem Knaben, damit er ihn dem Langen br?chte, er selbst zog sich ein paar Schreib?rmel ?ber, und da gleichzeitig im Nebenzimmer Schritte laut wurden, eilten die Schreiber an ihre Pl?tze. Der Lange, der Paul Neumann hiess, wies Raoul grob einen Platz neben sich an, aber kaum sass der Knabe und hatte begonnen, mit dem G?nsekiel ein Aktenst?ck zu kopieren, als ihn sein Nachbar anfuhr: >>Trag das hin?ber, flink, marsch! Er schl?ft wohl?<<

Da schrak Raoul so zusammen, dass ein dicker Klecks auf sein Papier tropfte, und ein Hagel von Scheltworten brauste auf ihn herab. Er h?rte Worte, die er noch gar nicht kannte, die roh und gemein in seinen Ohren gellten. Er war froh, als ein paar Leute kamen und der lange Schreiber in das Nebenzimmer gerufen wurde. Den ganzen Vormittag ging das so fort: einer nach dem andern kam, und Paul Neumann lief wichtig hin und her, er war einmal von unterw?rfiger H?flichkeit zu den Klienten seines Herrn, das andere Mal grob und hochfahrend, dann wieder vertraulich, machte alberne Sp?sse, je nach Rang und Stellung der Kommenden.

Der kleine Verwachsene, Karl Wagner genannt, blieb immer ruhig an seinem Tisch sitzen und schrieb emsig. Raoul, der die Arbeit des andern ?bersehen konnte, staunte, wie schnell sich in sch?ner, klarer Schrift Wort an Wort reihte. Der Verwachsene sprach nichts, nur ein paarmal warf er seinem jungen Genossen einen guten, freundlichen Blick zu, einen, der zu tr?sten und aufzumuntern schien. Aber dennoch war es dem Knaben, als schlichen an diesem Tage die Stunden unendlich langsam dahin, und er atmete erleichert auf, als mit tiefem Dr?hnen der Schall der Mittagsglocke in die Schreibstube hineint?nte.

Raoul hatte gemeint, er w?rde nun eilig davonlaufen k?nnen und mit der Mutter die karge Freistunde geniessen; das gab es aber nicht. Erst musste er noch f?r Paul Neumann einen Gang tun, und es waren schon zehn Minuten seiner Freizeit verronnen, ehe er heimw?rts laufen konnte. Dann rannte er freilich wie der Wind, und heiss und atemlos kam er oben im Mansardenst?bchen an. Kaum sah er der Mutter in das liebe, sanfte Gesicht, da wurde es ihm auch wieder leicht ums Herz, und ganz heiter erz?hlte er von seinem ersten Vormittag als Schreiberlein. Ja, nun er nicht mehr in der Schreibstube sass, erschien ihm alles, was er gesehen und erlebt hatte, recht lustig und abwechslungsvoll zu sein, und er schwatzte so munter drauf los, dass ein L?cheln das Gesicht der Mutter verkl?rte.

Aber waren die Vormittagsstunden wie Schnecken dahingeschlichen, so raste die Freistunde vorbei wie ein wild gewordenes Pferd. Es hiess wieder scheiden, und Raoul nahm z?rtlich Abschied. Er rannte zur?ck, und als er das graue Haus in der Burgstrasse wieder betrat, war es ihm, als sinke eine schwere, schwere Last auf ihn herab.

Mit der Arbeit schien es am Nachmittag, solange der Advokat selbst nicht in seinem Zimmer war, gar nicht eilig zu sein. Karl Wagner schrieb zwar still und unverdrossen weiter, aber der lange Neumann hatte die Feder hinters Ohr gesteckt und redete laut von allerlei, und Raoul musste ihm zuh?ren und antworten. Der Schreiber geh?rte zu jenen, die in kriechender Schmeichelei Napoleon huldigten; er hatte sogar ein Gedicht angefangen, in dem er seinen Helden verherrlichte, zu seiner grossen Betr?bnis wollte ihm aber das Dichten nicht gelingen. >>Kannst von Gl?ck sagen, Bursche,<< meinte er an diesem Nachmittag mit herablassendem Grinsen, >>dass du einen franz?sischen Vornamen hast. Ist doch was Feines! Aber ich, wenn ich auch nur einen elenden deutschen Namen f?hre, habe doch einmal den Kaiser gesehen, habe ihn gegr?sst und er hat mir gedankt! He, was sagt er zu der Ehre, Musjeh? Bewunderst ihn auch, gelt?<<

>>Ich? Nein,<< schrie Raoul. Er war jung und unbesonnen und wollte gerade rasch und heiss seine Verachtung aussprechen, als ihn Karl Wagner ganz scharf anrief: >>Reich mir dort den Aktenstoss her! Schnell, scheinst mir ein rechter Faulpelz zu sein!<<

Erschrocken sprang Raoul auf, von dem sanften Genossen hatte er einen so groben Anruf nicht erwartet, und holte hastig das Gew?nschte herbei. In diesem Augenblick ert?nte nebenan eine Stimme, und der Advokat rief: >>Neumann, die Akten M?ller gegen Hohmann!<<

Der Lange raffte geschwind ein Aktenb?ndel zusammen und entschwand im Nebenzimmer, Karl Wagner aber zog Raouls Kopf zu sich herab und fl?sterte: >>Halt deinen Mund, Junge, und h?te dich vor dem Neumann, sag' nichts gegen Napoleon!<<

>>Aber ich hasse ihn doch, er ist ein Tyrann, er --<< Raouls Augen flammten; er war es nicht gew?hnt, seine Gedanken und Gef?hle zu verschweigen. Daheim und bei Meister K?smodel durfte man schon ein freies Wort sagen. Aber der Verwachsene legte ihm rasch die Hand auf den Mund: >>Schweig, mein Kind, wir m?ssen stille sein und warten, bis die Zeit kommt. Und sie kommt,<< f?gte er hinzu; seine graublauen Augen leuchteten begeistert, das blasse k?mmerliche Gesicht erstrahlte und schien dem Knaben auf einmal seltsam sch?n und anziehend zu sein. Er h?tte gern noch mehr mit Karl Wagner gesprochen, aber der lauschte eine Sekunde nach dem Nebenzimmer hin und sagte dann leise: >>Geh an deine Arbeit.<<

Als kurze Zeit darauf der lange Neumann in das Zimmer trat, herrschte tiefe Stille. Die beiden schrieben eifrig, und Karl Wagner schien seine misstrauischen Blicke nicht zu merken. Da der Advokat nebenan blieb und die T?re offen stand, konnte das Gespr?ch nicht fortgesetzt werden, denn Paul Neumann war immer dann fleissig, wenn es sein Herr sah, war der nicht daheim, r?hrte er keine Feder.

Wieder schlichen die Stunden langsam, tr?ge dahin, und Raoul sehnte den Abend herbei. Dieser erste Arbeitstag war ihm bitterschwer geworden, aber dennoch trat er auch am Abend heiter bei der Mutter ein. Er schwatzte ein bisschen lauter und aufgeregter als sonst und ahnte nicht, dass die Mutteraugen tief in sein Herz hineinsahen und hinter aller erzwungenen Fr?hlichkeit doch die Last sahen, die auf den jungen Schultern ihres Kindes ruhte.

Raoul dachte jetzt oft: Sind die Tage lang, und sind die Sonntage und Abende kurz! Wenn er bei der Mutter sass und die fiebrige R?te aus den eingefallenen Wangen kindlich f?r ein Zeichen wiederkehrender Gesundheit nahm, oder wenn er mit Gottlieb lernte und sie sich gegenseitig ihre Erlebnisse erz?hlten, dann war er gl?cklich und vergass die d?stere Schreibstube und seines langen Genossen Qu?lereien.

Paul Neumann hatte es, trotzdem Raoul schwieg, doch bald herausbekommen, dass der Bube kein Kaiserbewunderer war. Seitdem qu?lte und peinigte er ihn noch mehr, als er es sonst getan h?tte. Der lange Schreiber war wohl unendlich dem?tig zu denen, die ?ber ihm standen, aber er liess gleich alle seine Roheit aus an denen, ?ber die er Gewalt hatte, denen er befehlen durfte. Er war in der Schreibstube der Erste, und es half Karl Wagner nicht viel, wenn er Raoul in Schutz nahm; nur ganz heimlich durfte er dem Knaben helfen. Sah Paul Neumann das Einverst?ndnis, dann r?chte er sich und jagte Raoul hin und her, namentlich in der Mittagsstunde, und es kam oft genug vor, dass dem Knaben nicht einmal so viel Zeit blieb, zur Mutter zu laufen und sein Mittagbrot zu essen.

Endlich kam aber doch der Tag, an dem Raoul seine ersten zwei Taler nach Hause tragen konnte. Aber gerade an diesem Abend hielt ihn Neumann mit allerlei Auftr?gen zur?ck, und Minute auf Minute verrann. Raoul zitterte vor Ungeduld heimzukommen, und er atmete erl?st auf, als der Advokat selbst kam und noch einmal seinen ersten Schreiber sprechen wollte. Da entwischte Raoul, obwohl er wusste, dass er es morgen doppelt schwer haben w?rde. Wie der Wind jagte er die steilen Treppen hinunter, die Burgstrasse entlang, durch die G?sschen ?ber den Marktplatz. Er jagte so, die beiden Taler krampfhaft in der Hand, dass er den dicken Metzgermeister Mayer, der just zu einem Abendsch?pplein gehen wollte, beinahe ?ber den Haufen rannte. Bums! stiess er an dessen Bauch, es dr?hnte ordentlich, und w?tend holte der Meister zu einer gewaltigen Ohrfeige aus, aber hui, ging die in die Luft, denn Raoul war schon fort, die dunklen Laubeng?nge des Rathauses verbargen ihn den zornigen Blicken des Meisters. Atemlos kam er oben an. Die letzten Stufen der steilen Treppe hastete er so empor, dass er beinahe wieder hinuntergefallen w?re, und dann stand er vor seiner Mutter und hielt ihr stumm, gl?ckstrahlend die beiden Taler hin.

Frau von Steinberg nahm sie wortlos, und wortlos umschlang sie ihr Kind, und Raoul f?hlte, wie heisse Tropfen auf seine Stirne niederrannen. >>Mama,<< flehte er bang, >>Mama, freue dich doch!<<

>>Ich freue mich, mein lieber, tapferer Junge du,<< hauchte die Frau, kaum f?hig, sich noch aufrecht zu halten. Ein Schwindel ?berfiel sie, und der Knabe musste sie st?tzen und auf ihren Stuhl zur?ckleiten. >>Bist du wieder krank?<< forschte er angstvoll, >>soll ich die Frau Meisterin heraufholen?<<

>>Nein, nein, ich bin gesund, ganz gesund, nur die Freude war es -- allein die Freude,<< murmelte die Mutter und strich liebkosend ?ber ihres Kindes braunes Gelock. >>Gott segne dich, mein Sohn, du mein Gl?ck!<<

Viel sp?ter dachte Raoul noch oft an diese Stunde zur?ck, an diesem Abend liess die Freude, dass der erste Monat vorbei war, die ersten zwei Taler errungen waren, keine tr?ben Gedanken in ihm aufkommen. Er war sehr vergn?gt, vergass alle Qu?lereien des langen Schreibers und brachte mit seiner Heiterkeit zuletzt auch die Mutter zum Lachen. --

Weil es Frau von Steinberg jetzt so schwer fiel, die Treppen zu steigen, kam nach dem Abendbrot noch oft die Meisterin hinauf, mit einem Eimerchen gl?hender Holzkohlen beladen. >>Weil es unten sonst unn?tz verbrennt,<< sagte sie jedesmal entschuldigend, damit die Hausgenossin nur ja nicht merken sollte, dass sie immer darnach trachtete, ihr eine warme Stube zu verschaffen. Auch Gottlieb folgte der Mutter an diesem Abend, und nach einem Weilchen tappte selbst Meister K?smodel die Stiege herauf, und alle drei bewunderten ehrlich und herzlich den verdienten Reichtum.

>>Aus dem wird allweil noch mal was,<< sagte der Meister schmunzelnd zu Frau von Steinberg, >>das ist gute Art.<<

Dankbar sah die Mutter zu dem biederen Manne auf; die Freude ?ber ihren Sohn, die feste Zuversicht, dass er eines t?chtigen Vaters Ebenbild werden w?rde, liess sie an diesem Abend heiterer in die Zukunft sehen. Ein heller Glanz kam in ihre Augen, ihr Lachen mischte sich leise und froh in das der anderen, und die Meisterin sagte nachher zu ihrem Mann: >>Vielleicht irrt der Doktor sich doch, und Frau von Steinberg wird gesund.<<

Dass nach einem frohen Abend nicht immer ein heiterer Morgen folgt, merkte Raoul am andern Tag. Als er ging, schien ihm die Mutter wieder schw?cher und matter als sonst zu sein, und als er das Schreibzimmer betrat, kam es ihm auch noch d?sterer und dumpfiger vor als sonst, denn draussen braute ein dicker Nebel, und nur karges Licht fiel in das Gemach. Grau wie der Nebel draussen war auch Herrn Paul Neumanns Laune: er war an diesem Morgen entschieden mit dem linken Fuss zuerst aufgestanden. Die Magd, zu deren Tugenden die Ordnung nicht geh?rte, hatte vor der T?re einen Wischlappen liegen lassen, ?ber den stolperte der lange Schreiber in das Zimmer hinein, und bei dem Versuch, sich an einem Stuhl festzuhalten, plumpste er mit samt dem Stuhl um und rutschte, so lang er war, in das Zimmer hinein.

Diesem b?sen Anfang folgte eine Flut von Schimpfworten, die alle Raoul galten. >>He, er spitznasiger, eingebildeter Zierbengel er, warum ist er gestern abend weggelaufen, he? Er hat wohl die Faulkrankheit, was? Denkt wohl, so ein S?ndengeld verdient man mit Herumvagabondieren?<<

Raoul sagte kein Wort, er wusste genau, dass eine Widerrede oder der leiseste Versuch, sich zu verteidigen, nur die Sache verschlimmern w?rde.

>>Lass ihn sich austoben,<< hatte einmal Karl Wagner geraten, aber an diesem Morgen dauerte das Toben recht lange. Zum Ungl?ck war der Herr Advokat selbst nicht da, so konnte der lange Schreiber schimpfen und schreien nach Herzenslust, und Raoul bekam so viele Schelte, so viele harte Worte zu h?ren, dass es ihm war, als prassele ein Hagelwetter auf ihn herab.

Endlich, endlich, nachdem er dies hatte tun m?ssen und jenes holen, konnte er sich an seinen Arbeitsplatz setzen. Eben setzte er an, um zierlich und fein geschn?rkelt einen Satz zu beginnen, als Paul Neumann ihn unsanft an den Arm stiess. Ein Schrei, und ?ber den grossen Aktenbogen rann eine dunkle Tintenflut.

>>Was hat er da wieder angerichtet, er Dummerjan?<< schrie der Schreiber w?tend, aber da klang pl?tzlich ganz ruhig in das Schreien hinein Karl Wagners Stimme: >>Du hast ihn gestossen, er kann nichts daf?r!<<

Der kleine Verwachsene hatte zwar schon oft die Erfahrung gemacht, dass seine Verteidigung dem armen Schreiberlein wenig n?tzte, er brachte es aber nicht fertig, zu dieser Ungerechtigkeit zu schweigen, und just wollte er noch etwas sagen, als eine m?chtige Ohrfeige auf Raouls Wange herniedersauste. >>Will doch sehen, ob der nicht Strafe bekommt, der sie verdient,<< rief der Lange zornig.

Mit einem Schrei war Raoul emporgefahren, Tr?nen der Wut und Scham entst?rzten seinen Augen. >>Ich lasse mich nicht schlagen,<< schrie er, >>ein Steinberg l?sst sich nicht schlagen!<< In leidenschaftlichem Zorn wollte er sich auf seinen Peiniger st?rzen, aber da f?hlte er sich von hinten festgehalten, und Karl Wagners ernste, graue Augen sahen ihn mahnend, liebevoll an. >>Sei ruhig!<< und ganz leise, nur ihm verst?ndlich, klang es an sein Ohr: >>Denk an deine Mutter!<<

Stumm senkte Raoul den Kopf. Die Mutter, ihre Freude gestern, sein Stolz, seine Hoffnung, ihr immer mehr eine St?tze werden zu k?nnen, -- alles fiel ihm ein. Er musste still sein, aushalten, sein Amt durfte er nicht verlieren.

>>Die Madame l?sst sagen, das w?r'n L?rm wie auf der Messe und nicht wie in 'ne anst?ndige Schreibstube, und sie w?rd's dem Herrn berichten,<< kreischte mit einemmal die Magd in das Zimmer hinein, und schwapp krachte sie die T?re mit solcher Gewalt wieder zu, dass leise der Kalk von den W?nden herabrieselte.

>>Da sieht er's, was er angerichtet hat,<< knurrte Neumann, dem es sehr unangenehm war, dass man drinnen in der Wohnung des Advokaten den L?rm geh?rt hatte. Herr Schnabel pflegte in solchen F?llen nicht ihn allein nach dem Grund zu fragen, und dass Karl Wagner nicht auf seiner Seite stand, f?hlte er. Darum hielt er es f?r besser zu schweigen, der Blick aber, den er Raoul zuwarf, verhiess nichts Gutes f?r die Zukunft.

Als der arme, kleine Schreiber zu Mittag heimeilen wollte, -- die Schreibstube war trotz des Langen Zorn zu rechter Zeit geschlossen worden, -- hielt Karl Wagner ihn fest. >>Komm mit mir,<< sagte er freundlich. >>Hast du ein paar Minuten Zeit?<<

Raoul nickte nur, er konnte nicht sprechen, die gewaltsam unterdr?ckten Tr?nen erstickten ihn fast, und der Gedanke, so niedergeschlagen und gedem?tigt vor seine Mutter treten zu m?ssen, lastete schwer auf ihm. Er war zum erstenmal froh, dass der Heimweg hinausgeschoben wurde, und willig folgte er Karl Wagner in die nahe Thomaskirche, die dieser durch eine Seitenpforte betrat.

Die Kirche war v?llig leer. Das tr?be Licht des Nebeltages fiel nur matt durch die bunten Fenster in den gew?lbten Raum, den ein sch?nes, sanftes Klingen durchrauschte. Jemand spielte die Orgel, der Kantor von Sankt Thomas, Herr M?ller, war es, wie Karl Wagner leise seinem Sch?tzling zufl?sterte. Vorsichtig, den Schall der Schritte d?mpfend, gingen die beiden bis in das Mittelschiff und setzten sich dort nieder.

Raoul war noch nie in einer leeren Kirche gewesen, er hatte auch noch nie ein so wundervolles Orgelspiel geh?rt.

>>Den Anfang, Mitt' und Ende, ach Herr, zum besten wende,<< sang Karl Wagner ganz leise die Worte des Liedes nach, das oben der Kantor spielte.

Immer rauschender und voller, wie Bittgesang und Dankesjauchzen t?nte es durch die Kirche, und ganz wundersam feierlich wurde es dem armen, geplagten Schreiberlein ums Herz. Sein Kopf sank leise an die Schulter des Verwachsenen, und die schmerzlichen Tr?nen, die er vorher krampfhaft herabgeschluckt hatte, rannen und rannen, und als sie endlich versiegt waren, da konnte er den Kopf wieder heben und wieder frei und mutig um sich schauen. Er dachte an seine Mutter, an ihre Freude gestern abend, und auf einmal schien ihm alles nicht mehr so schwer zu sein. Ich ertrag's schon, dachte er mutig, es muss gehen, Mama darf nichts merken!

Ein Weilchen sassen die beiden Schreibgenossen noch still zusammen, bis die letzten T?ne verhallt waren und ein Klappen und Schliessen oben anzeigte, dass auch der fromme Spieler heimging. >>Vielen Dank,<< sagte Raoul draussen und sch?ttelte herzhaft Karl Wagner die Hand, >>es war sch?n!<<

>>Kannst du nun zur Mutter gehen?<< fragte der Schreiber freundlich.

Raoul nickte froh. >>Sie soll nichts merken, bestimmt nicht. Ich schluck's hinunter!<<

>>So ist's recht, immer tapfer voran! Nach b?sen Stunden kommen auch gute. Nun Gott befohlen! Am Nachmittag sind wir allein, da wollen wir zusammen fleissig sein und nachholen, was wir am b?sen Morgen vers?umt haben,<< sagte Karl Wagner und wandte sich rasch dem kleinen Haus im Winkel des Thomaskirchhofes zu, in dem er wohnte.

Einen Herzschlag lang sah Raoul ihm noch dankbar nach, dann lief er eilig den vertrauten Weg entlang. Er flog fast, so geschwind ging es, und die frische Luft k?hlte ihm die heissen Wangen und Augen. Er kam sehr vergn?gt bei seiner Mutter an, und diese merkte nicht, wie schwer der Morgen gewesen war. Nur Gottlieb erfuhr am Abend den Auftritt in der Schreiberstube, und er geriet dar?ber in einen solchen Zorn, dass er seine lateinische Grammatik aus den Boden warf. >>Man muss ihn verdreschen, aber feste,<< schrie er.

>>Den langen Neumann?<< Raoul musste doch lachen; sein kleiner, st?mmiger Freund und der lange d?nne Schreiber schienen ihm auch ein zu ungleiches Paar zu sein. >>Wie wolltest du das anfangen?<<

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